Das Verhalten der christlichen Bevölkerung

Es ist im Verlauf der Schilderung genügend klar geworden, dass alle Schichten der christlichen Bevölkerung — bis auf vereinzelte Ausnahmen — mit den Banditen gemeinsame Sache machten. Es ist ja selbstverständlich, dass auch trotz der Feindseligkeit von Polizei und Militär so ungeheuerliche Ausschreitungen nicht hätten vorkommen können, wenn auch nur ein Teil der christlichen Bevölkerung, insbesondere einflussreiche Männer, sich der Juden angenommen hätten. Aber die christliche Bevölkerung war nicht nur davon weit entfernt, die Juden zu schützen, sie verzichtete sogar darauf, sich passiv zu verhalten. In den Banden selbst waren, wie bereits gezeigt, alle Elemente der Kischinewer Bevölkerung vertreten: von den Anstiftern, Velocipedisten angefangen bis zu den gewöhnlichsten Mordgesellen.

Obwohl die jüdischen Häuser markiert waren, steckten die Christen, damit gar kein Irrtum vorkomme, Heiligenbilder in die Fenster. Ein russischer Priester hat sogar, damit kein Zweifel an seiner Solidarität mit den Banditen herrsche, eine Nummer des ,,Bessarabetz“ im Fenster ausgestellt.


Im Verlaufe der Exzesse wurden allmählich alle Leidenschaften der Bevölkerung wach. Das erste Kapital, das die armen Christen aus den armen Juden herausschlugen, war, dass sie Heiligenbilder gegen Bezahlung von fünf Kopeken an die Juden verliehen haben, womit die Juden es versuchten, die Aufmerksamkeit von sich abzulenken. Es ist genügend kennzeichnend für die „Heiligkeit des Religionskrieges“ in Kischinew, von der manche christliche Blätter nachher schrieben, zu welchem Preis die Heiligkeit taxiert und losgeschlagen wurde. Wie wenig den Juden die Heiligenbilder nutzten, haben wir schon erwähnt.

Das aber war noch der kleinlichste Anfang. Später erwachten dann Bosheit, Habsucht und Rohheit und dokumentierten sich in den krassesten Fällen. Viele Christen haben Juden, die zehn Jahre und noch länger bei ihnen im Hause wohnten, direkt an die Banden verraten und ausgeliefert. Es geschah, dass Christen Juden zu sich riefen, ihnen gegen Auslieferung von Geld, oder auch ohne das, Schutz versprachen, die dann, als die Banden kamen, selbst zu schlagen anfingen und an Raub und Zerstörung teilnahmen. Leute, die jahrelang Angestellte jüdischer Firmen waren, hetzten die Banden selbst gegen diese Juden. Soweit ging die Bestialität, dass Christen, die von jüdischen Ärzten kuriert worden waren, und das erst vor einigen Tagen, gegen dieselben Ärzte losgingen. Wie die christliche Bevölkerung in den Straßen, soweit sie sich nicht unter die Banden mischte, hauste, das war eine fanatische Steigerung der Ungeheuerlichkeiten, die schon am Sonntag bei der Plünderung vorgekommen waren. Die „gute Gesellschaft“ füllte zu Fuß, zu Rad oder zu Wagen die Straßen aus, in denen die Mörder an der Arbeit waren, amüsierte sich, reizte die Banditen auf, zeigte ihnen die Häuser, wo besonders viel Beute zu erwarten wäre, nahm an dem grässlichen Schauspiel der vor aller Öffentlichkeit vollzogenen Vergewaltigung und Schändung jüdischer Frauen teil, begleitete mit Zurufen die grässlichsten Schandtaten, die an jüdischen Sterbenden oder jüdischen Leichen vorgenommen wurden und beteiligte sich an dem gemeinsten Raub. Elegante Damen ließen sich von den Räubern Schmuck und kostbare Stoffe reichen. Reiche Männer stopften ihre Taschen mit geraubtem Gut an. Alle Unterschiede des Geschlechts, der Bildung, des Alters, des Standes, alle Klassengegensätze — in denen ja nach dem Urteile mancher der Urgrund der Exzesse zu suchen sein sollte — waren verwischt in dieser einzigen Orgie. Frauen und Kinder haben die grässlichsten und widerlichsten Typen gestellt. Beide haben an den entsetzlichsten Grausamkeiten teilgenommen.

So weit war in der christlichen Bevölkerung jedes menschliche Gefühl erstickt, dass man nicht einmal zuließ, die Schwerverwundeten vom Platze weg und in ein Spital zu führen.

Christliche Kutscher nahmen um keinen Preis einen Juden auf. Und die Tramway-Kondukteure stießen Juden zurück, wenn sie aufsteigen wollten. An den Bahnhöfen verweigerte das Personal bei den Schaltern Juden die Billets. Dagegen fanden sich auch an den Bahnhöfen Banditen, die zusammen mit den Eisenbahnarbeitern angesichts der Gendarmerie Juden ermordeten.

Das grause Bild dieser furchtbaren Übereinstimmung aller Elemente der Bevölkerung ließe sich durch viele Einzelschilderungen verstärken. Es ist hier unnötig. Es ist genug gesagt und gezeigt worden, um die Tatsache selbst, auf die es ankommt, grell zu beleuchten.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Judenmassacres in Kischinew (1903)