Gegenwehr der Juden. Jüdischer Heroismus

Man muss erst gewusst haben, wie sich Gouverneur, Polizei und Soldaten zu den Juden verhielten, um zu verstehen, was für Möglichkeiten einer jüdischen Gegenwehr es gab und welche Aussichten sie hatte. Und doch trifft die Juden von Kischinew nicht der Vorwurf, dass sie ohne jeden Versuch einer Gegenwehr sich den Banden und der Polizei ergaben. In manchen Gassen war allerdings, da die Polizei die Juden in die Häuser zurücktrieb, von vornherein jede vereinigte Abwehr unmöglich, und die paar jüdischen Hausbewohner waren den Banden von 20 — 100 Mann buchstäblich ausgeliefert. Infolge ihres beklagenswerten Optimismus ohnehin ganz unvorbereitet, taten sie, was ihnen der Schrecken des Augenblicks eingab, versteckten sich in Kellern, auf dem Dache, liefen zu Christen, auf die Straße, zum Bahnhof, wenn sie nicht wieder zurückgetrieben oder unterwegs von Banden irgendwohin verjagt wurden, oder ergaben sich in ihren Wohnungen ihrem Schicksal. In anderen Gassen aber gab es doch einige Vereinigungen zur Abwehr.

Mit großem Mute vereinigten sich die etwa 150 Mann, die, wie bereits erwähnt, sich noch vor den Exzessen bewaffnet hatten, auf einem Marktplatze und griffen die Banden an. Es kam zu Schlägereien. Aber kaum hatte der erste Jude einen Schuss abgefeuert, als Militär gegen die Juden losging, auf sie einhieb und die Juden insgesamt gefangen nahm. Sie werden nächstens alle vor Gericht gestellt werden.


Eine Zahl älterer Juden verlies mit Weib und Kind die Wohnungen, alles Eigentum den Räubern zurücklassend, und verschanzten sich in einer Malzfabrik, um sich und die Familien zu verteidigen. Es kamen aber Banden in solcher Stärke, dass die Verteidigungsversuche ganz aussichtslos waren. Während die Kinder jämmerlich schrieen, die Weiber in Ohnmacht fielen, drangen die Banden ein. Die Räuber stürzten sich zuerst auf Weiber und Kinder. Einzelne der früher gemeldeten Schändlichkeiten sind da verübt worden. Von den Männern wurden hier sechs erschlagen und viele schwer verwundet. Ein Junge rettete sich auf eine merkwürdige Art: Er lief zum nahen See und stand die ganze Nacht bis zum Morgen im Wasser. Indessen wurde sein Vater erschlagen.

Das Haus hat seitdem den Namen „Mordhaus“ bekommen.

In der Kogolsker-Gasse gelang es den Juden, sich während der ganzen Exzesse zu verteidigen. Die Juden hatten sich dort rechtzeitig, noch ehe sie von der Polizei gehindert werden konnten, gesammelt und wehrten die Banden ab. Aber Ausfälle machen und den anderen helfen konnten sie nicht, weil die Polizisten die nächsten Gassen abgesperrt hielten. Aber viele flüchtende Juden nahmen sie auf, insbesondere Verwundete, für die sie sofort sorgten.

Einige Fälle von besonderem jüdischem Heroismus verdienen es, dass man sie dem Gedächtnisse aufbewahrt. Wir sprachen schon von dem Heldentod des jüdischen Gymnasiasten, der die Ehre seiner Mutter rettete, von dem Tempeldiener, der für die Ehre der ihm anvertrauten Gesetzesrollen starb. Auch von dem Helden Benzion Galanter erzählten wir, der eine halbe Stunde lang mit einem blind geladenen Revolver den Banden standhielt.*)

Es ist noch zu erzählen von der Heldenhaftigkeit und sittlichen Größe eines alten Juden, der während einer Viertelstunde vier Banditen abwehrte, die seine Tochter vergewaltigen wollten. Der Vater rettete seine Tochter und ihre Ehre. Sie konnte sich verbergen, während der Greis ermordet wurde.

Heldenhaft und groß ist auch diese Tat einer jüdischen Mutter:

In der Nikolajewer-Gasse retteten sich etwa 25 Juden auf einen Boden. Im Hause unten erschlug man einen Juden, Hirsch Bolgar, der nicht mehr entfliehen konnte. Die auf dem Boden hielten den Atem an, dass man sie nicht hören solle. Unter ihnen befand sich eine Jüdin mit einem kleinen Kind. Das Kind fing plötzlich zu weinen an. Als die Frau sah, dass sie mit dem Kind die anderen in Todesgefahr bringe, beschloss sie, sich zu opfern. Sie riss ein Brett aus der Bodendecke und stürzte sich mit ihrem Kind durch die Öffnung in einen Hof des Nachbarhauses hinab, das einem Christen gehörte. Die Banditen bemerkten sie nicht. Wie durch ein Wunder sind Weib und Kind gerettet. Die Mutter hat einige Wunden davon getragen, das Kind blieb heil.

*) Soweit Juden sich des Revolvers bedienten, hatten sie fast alle, sei es aus Scheu vor Morden, sei es aus Frömmigkeit, blind geladen. Darum gab es keinen christlichen Toten. Einige russisch-antisemitische Zeitungen versuchten zunächst angesichts der furchtbaren Greuel von einem „Ausbruch wilder Leidenschaften der Masse“ zu sprechen, der sich gegen Juden und Christen richtete und erzählten darum von ,,christlichen Toten“. Im ganzen verstarb von Nichtjuden ein Zigeuner eines natürlichen Todes und ein Bursche, der zu Ende der Exzesse in einem Raufhandel erstochen wurde.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Judenmassacres in Kischinew (1903)