Panik in Russland

Die Nachricht von Kischinew hatte sofort in ganz Russland eine jähe judenfeindliche Bewegung zur Folge. In vielen Städten und auf dem Lande nahm die in Russland immer zu Judenexzessen geneigte Masse eine furchtbar drohende Haltung ein.

In mehreren kleinen Orten in der Umgebung von Kischinew, wie z. B. in Tiraspol und Batschy kam es sogar schon zu Ausschreitungen. Der Juden in den kleinen Städten, die dort eine verschwindende Minderheit bilden, bemächtigte sich eine unbeschreibliche Panik. Viele verließen in wilder Flucht ihre Heimat und die Bahnhöfe waren überfüllt von Menschen mit erschreckendem Aussehen. Aus allen Orten kamen Deputationen zum Gouverneur, um Schutz zu erbitten. Es wäre zweifellos zu blutigen Nachspielen von Kischinew gekommen, wenn nicht die Erregung, die schon die ersten Meldungen aus Kischinew überall in der Welt hervorgerufen hatten, die Regierung zu einem Rundschreiben veranlasst hätte, in dem die Gouverneure für alle Exzesse verantwortlich gemacht wurden. Die Erregung der Christen aber hat sich, — obwohl sie sich nicht in Ausbrüchen Luft machen konnte, nicht gelegt und auch bis auf den heutigen Tag ist sie nicht verschwunden. Die Leute drohen den Juden, dass kein Friede sein werde, bis sie sich nicht früher oder später mit ihnen auseinandergesetzt haben werden.


In viel größerem Umfange wiederholten sich die Drohungen und die Panik in den größeren und großen Zentren der jüdischen Ansiedelung. Überall wurden Flugblätter ähnlich den Kischinewern verbreitet. Insbesondere in den Städten Odessa, Kiew, Riga, Witebsk, Jekaterinoslaw, Rostow am Don, Cherson, Nikolajew, Jalla , Minsk, Pollawa — von vielen anderen nicht zu reden — stand man tagelang jeden Augenblick unter der Furcht der Exzesse, die sich immer mehr steigerte, je näher der erste Mai russischen Datums herankam.

Ein Beispiel der Stimmung, die sich der jüdischen Bevölkerung Russlands bemächtigt hat, können folgende Zeilen eines aus Riga eingetroffenen Briefes (abgedruckt im „Tag“, Berlin) liefern:

,,Woher das Gerücht entstanden sein mochte, weiß man nicht, aber es verbreitete sich hier wie ein Lauffeuer das Gerede, dass den ersten Mai alten Stiles eine großartige Judenhetze in Riga bevorstehe. Diesem Gerede ward allgemein sogar in den intelligentesten Kreisen Glauben geschenkt, und man traf darauf seine Maßnahmen. Sämtliche Revolver, die in den Stahlwaren- und Schiessgewehrhandlungen vorrätig waren, wurden ausverkauft; man versah sich auch vielfach mit Oleum und anderen ätzenden Essenzen. Mehrere Familien haben Riga verlassen oder sind in Hotels übergesiedelt. Die Banken sind mit Wertsachen und Gelddepots überfüllt. Die Unbemittelten haben dem 1. Mai mit Grauen und in Todesbangen entgegengesehen. Trotzdem er nun doch ganz ruhig verlaufen ist, können sich die aufgeregten Gemüter nicht beruhigen. Man fürchtet, dass die Exzesse nur verschoben wurden. Auf Grund mündlicher Mitteilungen seitens zuverlässiger Personen, die aus Westrussland hierher kamen, kann versichert werden, dass auch in den andern westlichen Gebieten, in Litauen und Polen, eine Stimmung gleich der oben beschriebenen herrscht. Die Juden wollen sich in allen diesen Gebieten zur Selbstverteidigung vorbereiten, da auf die Polizei kein Verlass ist. Auch scheint der Gedanke der organisierten Selbstverteidigung bei der jüdischen Jugend großen Anklang gefunden zu haben, denn es bilden sich in manchen Städten geheim Selbstverteidigungsgruppen.“

Noch gesteigerter war die Aufregung in Kiew oder Rostow am Don. In Kiew blieben mehrere Tage lang ganze Stadtviertel von Menschen leer, da die armen Juden sich flüchteten, wohin sie nur konnten und die reicheren Juden die Hotels überfüllten.

Ähnlich ging es in Rostow zu. Auch dort flüchteten die armen Juden aus der Vorstadt ins Zentrum, die Reichen fuhren zum größten Teil in die benachbarten Städte Asow, Taganrog usw. In der kritischen Zeit, um den ersten Mai herum, wo in Russland die Masse jetzt schon auch anfängt, da und dort zu demonstrieren, wurde kein Geschäft geöffnet. Die jüdischen Straßen waren wie ausgestorben. Es kam noch ein besonderer Anlass zur Furcht dazu: um diese Zeit bringt man alljährlich ein Heiligenbild nach Rostow. 25.000 Christen begleiteten diesmal die Prozession durch die Straßen. Kein Wunder, dass die Juden, durch zahllose Gerüchte beunruhigt, die ganze Zeit in unbeschreiblicher Angst verbrachten.

So wie in Riga und Rostow ging es mit größeren oder geringeren Unterschieden in anderen Städten zu: Schrecken, Flucht, Stockung des ganzen Geschäftsverkehrs, Zahlungseinstellungen (z. B. in Kiew etwa 230 Konkurse).
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Judenmassacres in Kischinew (1903)