Die Not in Kischinew. Neue Bedrohungen. Die Maßnahmen der Juden

Wir haben zuerst von jenen Maßregeln der Regierung erzählt, die den Exzessen ein Ende setzten und von der Intervention der Gemeinde bei den Regierungsorganen, doch noch nichts von der Situation der Kischinewer Juden selbst, außer dass wir von dem augenblicklichen Schaden und von den Opfern und ein wenig von den Unglücklichen in den Spitälern berichteten.

Wenden wir uns nun den Kischinewer Juden zu:


Wie die ersten Tage nach den Schrecken verlaufen sind, das ist schwer zu schildern. Während in der jüdischen Gemeinde über Menschen und Häusern die Schatten des Todes und der Zerstörung lagen, stand noch immer der Schrecken des Feindes vor den Toren. Nach den unglückseligen Erfahrungen von früher wagten die Juden nicht mehr blindlings den Beruhigungen der Regierung zu trauen. Noch flogen drohende Stimmen durch die Stadt. Wohl hatte sich sofort beim Erscheinen Lopuchins ein Teil der christlichen Bevölkerung den Juden in scheinheiliger Anteilnahme zugewendet. Wohl hatten die Frauen solcher Kischinewer Christen, die an dem Raube beteiligt gewesen waren, sich erbötig gemacht, in den jüdischen Volksküchen mitzuhelfen, eine Tatsache, die die Juden als tiefe Beleidigung betrachteten, als eine schmähliche Heuchelei, die zum Unglück noch den grausen Spott hinzufügte. Das waren die einen.

Der andere Teil der christlichen Bevölkerung aber hatte sich nur noch tiefer in den fanatischen Hass verbohrt. Noch war der ,,Bessarabetz“ an der Arbeit, der für die Familien der verhafteten Exzedenten Sammlungen mit den nötigen Kommentaren einleitete. Noch war sein Bruderorgan ,,Znamja“ daran, die Ermordung der Kischinewer Juden gegen die Juden selbst auszubeuten.

Kruschewan durfte sich dort erlauben zu fordern, „dass die unglücklichen Christen, die dazu verurteilt sind mit den Juden zusammenzuleben und sich der Gefahr aussetzen in jedem Augenblick Opfer dieser fatalen Nachbarschaft zu werden, nicht der Kischinewer Tragödie zum Opfer fallen.“ Das war nichts anderes als die unter dem Eindruck von Mord und Blut etwas verhüllter an die christliche Bevölkerung gerichtete Aufforderung, keine Sühne der schuldigen Christen zu gestatten und für jede Sühne die Juden entgelten zu lassen.

Die Bauern, die indessen in den Dörfern durch die Nachrichten aus Kischinew aufgewühlt worden waren, und in die Stadt eilten, aber dort nicht eingelassen wurden, waren ein billiges Werkzeug für solche Agitation. Das Einschreiten des Militärs (gar später die Absetzungen der Regierungsorgane) konnten ihnen mit Leichtigkeit dahin erklärt werden, dass die Juden alles bestochen haben, um die christliche Bevölkerung zu vernichten. Den Arrangeuren der Exzesse musste natürlich daran gelegen sein, wenn sie von sich ablenken wollten, das in dieser Hinsicht leichtgläubige Volk aufzureizen. Sie mussten sich auch bemühen allerhand Schuld der Juden zu konstruieren. Gleich nach den Exzessen gab es wieder neue Flugblätter, die, mit der Hand geschrieben, mit teuflischem Raffinement die unbeholfene, derbe Logik und den plumpen Stil des russischen Bauern und Kleinbürgers kopierten, um diesen Flugschriften den Schein spontaner Kundgebungen der christlichen Bevölkerung zu geben. Eines dieser Flugblätter, in denen ein neuer Kreuzzug gegen die Juden gepredigt wurde, lautet in wortgetreuer Übersetzung und unter möglichster Beibehaltung des charakteristischen Stiles:

„Ankündigung. Russischer Kischinewer Kleinbürger

Hiermiet haben wir die Ehre anzukündigen unseren Behörden dass obwohl sie ausstellen Schutz den Juden aber das wird doch kein Ende nehmen, ohne Rücksicht dass russischerrechtgläubiger Christ soll leiden für die Juden und dass unser Volk soll leiden schuld los im Gefängnis der Juden wegen dafür dass die Behörden der Stadt Kischinew bestochen worden sind für die Juden um unser Volk mit Flintenkolben zu schlagen; aber sie haben nicht darauf gesehen von Anfang an zu schützen und haben anfangs selbst die Läden geraubt. Jetzt aber um sich selbst zu verteidigen finden sie Ursachen und fangen schuld los unser russisches Volk auf und schlepen ins Gefängnis Schuldige und Unschuldige deshalb weil sie von den Juden bestochen worden sind, sie könnten jetzt wohl unser ganzes russisches Volk dem Kischinewer Gubernator verkaufen, aber nein, das dürfen sie nicht glauben, mir werden das nicht vergessen, wir werden unser Blut vergiessen aber wir werden uns nicht den Juden verkaufen wie unser Gubernator sich für Geld verkauft hat. Wir werden einen Volkskrieg erheben und werden ganz Russland unser Vaterland aufregen, aber wir werden die Juden hinausjagen aus unserem Stamme, sie dürfen nicht hoffen, dass sie denken, dass die Armeen sie verteidigen werden; man mag uns abschlachten, man mag uns aufhängen, man mag uns in die Bergwerke verschicken aber wir werden uns nicht den Juden verkaufen lassen und sie mögen lieber in Ehren aus unserer Stadt gehen dass unser Volk nicht ihretwegen verloren sein soll. Wir wollen es ihnen und euch erklären dass ihr es bald erwartet denn uns bestraft ihr und von. den Juden nehmt ihr Bestechungen.“

Es geschah des weitern, dass christliche Gehilfen und Angestellte, die früher bei Juden beschäftigt waren, und nach den Exzessen von den Juden entlassen wurden, — meistens solche, die an den Exzessen teilgenommen hatten, ja sich sogar dessen vor ihren jüdischen Arbeitgebern berühmten — dass diese Leute sich zum Gouverneur begaben, um sein Einschreiten gegen die Juden zu fordern. Und wirklich zwang der Gouverneur die Juden, ihre offenen Feinde, die sie stündlich an das Blutbad erinnerten, nochmals zu sich zu nehmen.

So gärte sofort nach den Exzessen wieder der Judenhass in bedrohlichster Weise und es herrschte das schroffste Verhältnis zwischen Christen und Juden. Selbst wenn es nicht gegolten hätte, eines so Ungeheuern Unglückes Herr zu werden, selbst wenn nicht physische Unmöglichkeit vorhanden gewesen wäre, hätten die Juden angesichts der Kampfbereitschaft der Kischinewer Christen nicht wagen dürfen, zu ihrer früheren Tätigkeit zurückzukehren . . .

Ist jemand imstande, sich eine Vorstellung von der Stimmung der Juden zu machen? Da hieß es, in dieser ungeheuren Not und Trauer die Toten bestatten, für Hunderte Verwundeter und für fast 20.000 Obdach- und Mittelloser das Allernötigste zu schaffen und dabei immer für die Sicherheit des nächsten Augenblickes Sorge zu tragen.

Mit einer bewundernswerten Hilfsbereitschaft traten die Kischinewer Juden für einander in Aktion. Lazarette, Volksküchen und vor allem Räume zur Unterbringung der Obdachlosen wurden eingerichtet. Mittel flössen allmählich aus der ganzen Welt ein. Vor allem beteiligten sich die russischen und dann die auswärtigen Juden. Nichtjuden haben sich in ganz unverhältnismäßig geringer Zahl eingestellt. Außer Geld trafen Kleidungsstücke, Wäsche und Nahrungsmittel aus vielen russischen Städten ein. Von der Opferwilligkeit, an der sogar Kinder teil hatten, wäre manches Ergreifende zu erzählen. In allen noch verfügbaren Wohnungen wurden Zimmer für die Herstellung von Wäsche eingerichtet. Soweit jüdische Mädchen und Frauen nicht in den Krankenhäusern und Volksküchen beschäftigt waren, arbeiteten sie an der Herstellung von Wäsche, so dass alle möglichst versorgt wurden. Auch Kleidungsstücke schaffte man.

Das Hilfskomitee, das in Kischinew gegründet worden war, hatte und hat noch eine furchtbare schwere Aufgabe zu erfüllen. Mit den primitivsten Unterstützungen wurden z. B. auf einmal 70.000 Rubel verausgabt. An eine Sicherung der Existenzen war überhaupt nicht zu denken. Abgesehen davon, dass dazu die, wenn auch reichlich einfließenden Spenden auch nicht annähernd genügten, war und ist die Krise, die im Gefolge der Kischinewer Ereignisse eintrat, zu groß, als dass man an eine wirtschaftliche Fundierung der gescheiterten Existenzen hätte schreiten können. Man hat die Handwerker, indem man ihnen Werkzeug gab, erwerbsfähig machen wollen. Aber sie hatten keine Abnehmer für ihre Erzeugnisse. Ebenso wenig half es vorläufig, dass man den kleinen Händlern etwas Geld gab. Es war eine vollständige Stockung des geschäftlichen Verkehrs eingetreten. Nur Tischler und Glaser fanden Arbeit und Erwerb bei der Reparierung der demolierten Häuser. So musste sich das Komitee darauf beschränken, von Tag zu Tag für den Unterhalt der vielen Tausende zu sorgen. Die Kischinewer Judenheit hat bald erkannt, dass durch diese Art der Unterstützung die eingelaufenen Spenden in kurzem aufgebraucht sein werden, ohne dass den Betroffenen dauernd geholfen wäre. Sie hat sich darum entschlossen systematische Maßnahmen zu treffen, von denen später ausführlicher die Rede sein ward. Später werden wir auch noch davon sprechen, wie sich die Verhältnisse in Kischinew weiter entwickelt haben.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Judenmassacres in Kischinew (1903)