Der Gouverneur, der Vize-Gouverneur und die Administration

Am Tage nach den Exzessen erfolgte die erste Großtat des Gouverneurs von Raaben. Er bewilligte gnädigst, dass dem eben organisierten Hilfskomitee der Damen vom Roten Kreuz 5.000 Rubel zur Verfügung gestellt werden. Das Geld aber nahm er aus der Koscherfleischtaxe, die von den Juden zur Deckung der laufenden jüdischen Bedürfnisse gezahlt wird. Und dieses Geld wurde nicht etwa nur für Juden, sondern auch für die Familien der verhafteten Exzedenten verwendet.

Der Gouverneur führte wenigstens konsequent seine Rolle durch. Aber der Vize-Gouverneur, ein unvergleichlich wütenderer Antisemit und der Mitinspirator der Exzesse, hatte noch dazu die Kläglichkeit, eine Maske anzulegen, die ihn noch widerlicher macht. Er drückte seine Empörung aus über die Untätigkeit des Gouverneurs (auf dessen Platz er schon damals aspirierte) und stellte seine Frau an die Spitze des oben erwähnten Komitees vom Roten Kreuz.


Welches der wahre Geist der Administration war, der sie nach wie vor beseelte, das zeigt folgendes Detail: Die armen Juden, in denen das Unglück eine der traurigsten Eigenschaften, die Demut des Geprügelten gezeitigt hat, schickten Deputationen zu Gouverneur, Vize-Gouverneur und zum Militärkommandanten von Kischinew, die für die endliche Hilfeleistung dankten. Der Kommandant antwortete der Deputation: „Ich habe nur meine Pflicht getan. Ihr Juden aber sollt wissen, dass der Exzess, unter dem ihr jetzt gelitten habt, von Euch herrührt. Davon, dass Ihr die Bevölkerung jahrelang ausgebeutet habt, Schon jetzt nach dem Exzesse habt Ihr alle Preise der Waren in die Höhe getrieben.“ Diese Worte fanden bald ihren Weg in alle antisemitischen Blätter. Die bitterste Ironie aber liegt darin, dass die Wahrheit gerade im Gegenteile zu suchen ist. Die jüdischen Läden waren teilweise zerstört, teilweise aus Furcht vor den Exzessen noch nicht geöffnet worden. Tatsächlich haben die christlichen Händler diese Gelegenheit benutzt, um die Preise der Waren zu erhöhen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Judenmassacres in Kischinew (1903)