Lopuchin in Kischinew

Das Erscheinen des Chefs des Polizeidepartements des Ministeriums des Innern Lopuchin hat zu einer wesentlichen Veränderung in der Leitung und dem Verhalten der Gouvernementsadministration sofortigen Anlass gegeben. Er nahm den Bericht der jüdischen Gemeinde entgegen und erstattete dann Rapport nach Petersburg. Unter seinem Einflusse begab sich jetzt der Gouverneur von Raaben, begleitet von einer Suite, in der sich auch Juden befanden, vor das Portal seines Hauses und hielt an eine Versammlung aller Beamten der Gouvernementsadministration eine Ansprache, worin er erklärte, dass alle weiteren Exzesse gegen die Juden auf das strengste verboten seien und dass er, falls irgendwo Exzesse ausbrächen, die Beamten dafür verantwortlich mache.

Interessant ist, was für eine Wirkung die Nachricht von dem bevorstehenden Eintreffen Lopuchins unter den Lokalbehörden übte. Sie wussten damals noch nicht, dass Lopuchin durchaus nicht das Mandat habe, zu scharf mit ihnen ins Gericht zu gehen, sondern nur die äußere Ordnung herzustellen und den ,,Anstand zu wahren“ hatte. Die Beamten wurden sehr nervös, als der gestrenge Herr aus Petersburg gemeldet wurde. Vielleicht hatten sie doch mehr des Guten getan, als Plehwe wollte und verantworten konnte. Besonders der Herr Vize-Gouverneur wollte sich jetzt bei den Juden lieb Kind machen. Seine Frau half den ganzen Tag in der jüdischen Volksküche, wo die Obdachlosen gespeist wurden. Und auch Ustrugow erschien dort und streichelte höchst eigenhändig die Gesichter jüdischer Waisenkinder. Vor allem aber liefen die niederen Polizisten umher, die das schlechteste Gewissen hatten, und schmeichelten den Juden, um nur ja einer Anzeige zu entgehen. Die Amtshandlungen Lopuchins schafften bald Beruhigung. Er traf wohl durchgreifende Verfügungen zur Herstellung der Ordnung, gegen das Vorgefallene aber zeigte er sich nachsichtig. Und kaum war er fort, so änderte sich alles: Die ganze christliche Gesellschaft nahm demonstrativ für die Exzedenten Partei und hochgestellte Personen, mit dem Bischof an der Spitze, fingen an, für sie zu sammeln. Frau Ustrugow mit dem „Roten Kreuz“ tat dasselbe.


Es darf vorweggenommen werden, dass der Gouverneur von Raaben einige Zeit später seines Amtes enthoben und zur Disposition der Regierung gestellt wurde. Er wurde dem Ministerium des Inneren (Plehwe) zugeteilt. Es heißt, dass seine Absetzung auf Grund eines Rapportes erfolgte, den der militärische Oberkommandierende des Odessaer Bezirkes, Graf Mussin-Puschkin, erstattete. In diesem Rapport bezeichnete Graf Mussin-Puschkin die Geschehnisse in Kischinew als ,,die Taten von Wilden in den fernsten Teilen Afrikas“. Der Graf hatte sich selbst auf einige Stunden in die Spitäler begeben, die Verwundeten befragt und auch vom Spitalleiter Doktor Slutzkyi die volle Wahrheit eingefordert. Auch ein Bericht des vom Petersburger Generalstab entsendeten Oberst Rostowskyij in welchem krasse Pflichtverletzung von Seiten der Kischinewer Polizei und Garnison konstatiert war, wird den Minister des Inneren Plehwe zu dem schweren Schritt veranlasst haben, den gleichgesinnten und ihm ergebenen General von Raaben, der ja nur in seinem Geiste gehandelt hatte, fallen zu lassen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Judenmassacres in Kischinew (1903)