Der heutige Zustand in Kischinew

Abgesehen von der provisorischen Versorgung der Notleidenden, die, so gut es der Augenblick ermöglicht, durchgeführt wird, hat sich an der katastrophalen Notlage der Kischinewer Juden nicht viel geändert.

Noch immer ist das Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden das denkbar schroffste. Immer nach einigen Tagen des Stillstandes kursierten plötzlich Gerüchte von Exzessen, die im nächsten Augenblick bevorstünden. Dann wurden sofort Geschäfte, Türen und Fenster geschlossen. Von den Reichen hat eine Zahl schon Kischinew verlassen. Arme Flüchtlinge aus Kischinew trifft man heute schon in Wien und Berlin. Fast täglich treffen viele Flüchtlinge in Warschau ein, um dort ständigen Aufenthalt zu nehmen. Aus Kischinew und auch aus dem übrigen Russland haben sich im Hafen von Libau in der letzten Woche allein 2.000 Juden eingefunden, die die Fahrt nach Amerika angetreten haben, wie denn auch sonst berichtet wird, dass in einer Woche aus Chicago allein 5.000 Schiffskarten russischen Juden von ihren Angehörigen jenseits des Ozeans geschickt wurden. Im Gouvernement Wolhynien bilden sich Gruppen, um nach Bulgarien auszuwandern. Das größte Kontingent zur Auswanderung, die heute in ganz Russland immer weitere Dimensionen annimmt, wird zweifellos Kischinew und die Umgebung stellen.


Ein Bericht aus aller erster und verlässlichster Quelle, der uns während der Drucklegung dieser Schrift zuging, erklärt, eine vorläufige Lösung der Katastrophe nur darin sehen zu können, dass allmählich etwa 20.000 Juden aus Kischinew fortgebracht werden. An einen friedlichen Ausgleich mit der christlichen Bevölkerung sei nicht zu denken. Alle Beziehungen seien zu jäh abgeschnitten. Statt einer Beruhigung sei eine wesentliche Verschlechterung der Stimmung unter den Christen täglich im Wachsen. Sie drohen, für die Absetzung des Gouverneurs und des Polizeimeisters und für die Verhafteten Rache zu nehmen. In den letzten Tagen des Mai fand sogar wieder der Versuch einer Ausschreitung statt. Ein Haufe halbtrunkener Burschen erschien auf den Strassen und durchzog sie mit den Rufen: „Erschlaget die Juden!“ Sie wurden zwar bald vom Militär zerstreut, aber es ist ein blutiges Zeichen für den Zustand der Gemüter. Wenn man nun dazu hält, dass im Auftrage der Regierung die Verwaltung von Bessarabien bei Androhung von drei Monaten Strafe das Tragen oder Bewahren von Waffen den Juden untersagt hat — so wird man begreifen, dass diejenigen, die die Hilfe für Kischinew organisieren, nur die dringendste Not an Ort und Stelle lindern und im übrigen die Auswanderung der Hälfte der jüdischen Bevölkerung planmäßig organisieren wollen. Die Leiter des Hilfskomitees denken daran, vor allem die Waisenkinder und dann zunächst 500 Familien in einer dem Andenken der Kischinewer Opfer gewidmeten Kolonie in Palästina anzusiedeln. Die Ansiedelung der übrigen soll allmählich erfolgen. In diesem Sinne haben auch die Leiter der Hilfe an alle Juden Russlands, die nach Palästina auswandern wollen, einen Appell gerichtet, in dem sie vor überstürzter Auswanderung warnen, damit eine planmäßige Kolonisation nicht durch sinnlose Auswanderung paralysiert werde.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Judenmassacres in Kischinew (1903)