Das Verhalten der Regierung. Die Schuld des Ministers Plehwe

Wir haben schon manche Aktionen der Regierung vorweggenommen. Es wird aber doch notwendig sein, eine zusammenhängende Darstellung ihres Verhaltens nach den Exzessen zu geben. Wenn wir von Regierung sprechen, so meinen wir in diesem besonderen Fall zunächst den Minister von Plehwe.

Es wurde gezeigt, dass er schon während seiner früheren Amtstätigkeit (unter dem diesbezüglich berüchtigten Ignatiew) wiederholt Judenexzesse gut kennen gelernt hatte und dass er durch sein System, durch die Subventionierung des „Bessarabetz“ und durch seinen Brief an den Gouverneur Miturheber der Massacres war. Wenngleich die Exzesse einen Charakter angenommen hatten, der ihm selbst unerwünscht sein mochte, suchte er im Anfang doch die Exzedenten und die Regierungsorgane zu decken. Nichts beweist klarer seine geistige und tatsächliche Mitschuld als die Fälschung, deren er sich sofort in dem offiziellen Bericht schuldig machte. Darin stellte er die ganz und gar erlogene Behauptung auf, die Juden hätten durch einen Raufhandel, durch den rohen Akt eines Juden an einer christlichen Frau, die Exzesse herausgefordert. Plehwe hatte offenbar die Absicht, wie ihm das andere Male leicht gelungen war, mit der Judenaffaire von Kischinew durch einen offiziellen Federstrich fertig zu werden. Kischinew war zwar eine sehr harte Strafe für die Juden, aber immerhin eine starke Ablenkung der Masse von der Regierung weg auf jene Elemente gewesen, die Plehwe mit unbeschreiblichem Cynismus im Ministerrat als „Ausbeuter“ bezeichnete, die man nur deswegen nicht noch mehr niederdrücken dürfe, weil die Armut, Krankheit und die Not unter diesen Juden so groß sei, dass sie schon unerträgliche und für die Christen gefährliche und schädliche Dimensionen annehme. Plehwe dachte gewiss einige Augenblicke daran Kischinew schlecht und recht innerhalb Russlands mit dem absolutistischen Dementierungs- und Todschweigenssystem zu erledigen, wie er, seine Vorgänger und seine Kollegen alltäglich mit der Not von Millionen russischer Juden fertig“ wurden, ohne dass sich jemand rührte. Ja, es ist die feste Überzeugung der Kenner der Verhältnisse, dass Plehwe auch neue Exzesse zugelassen hätte.


Aber er hatte in diesem Falle einen furchtbaren Irrtum begangen. Die gesamte öffentliche Meinung Europas und Amerikas (von den Ausnahmen der Antisemiten abgesehen, die aber auch das Grässliche von Kischinew manchmal nicht zu beschönigen versuchten) stand gegen Russland auf. Noch wagte es Plehwe, der Intervention Amerikas die Antwort entgegen zu setzen, dass es in Russland und insbesondere in Kischinew keine jüdische Not zu beheben gebe und legte damit jedes weitere Einschreiten Amerikas im offiziellen Wege brach. Aber der Sturm in der Presse, der Unwille des Zaren, die Urteile hervorragender Versammlungen, dann aber die Berichte der russischen Zeitungen selbst und später die Rapporte Lopuchins und Mussin-Puschkins zwangen ihn, seine Taktik zu ändern. Er entschloss sich, sicher schweren Herzens, den General von Raaben abzuberufen (allerdings indem er diesen besten Kenner des oft erwähnten Briefes in sein Departement zog und ihm vorher mit einem sehr liebenswürdigen Privatbrief bedachte) und die Gouverneure für jede weiteren Exzesse verantwortlich zu machen. Soweit ging seine Rücksichtnahme auf die nichtrussische Öffentlichkeit, dass er den in Zeitungen erschienenen Brief an den Gouverneur, obwohl deswegen keine diplomatische Intervention erfolgt war, offiziell und ausdrücklich dementierte. Der Minister tat sogar noch mehr. Er wagte es nicht, dem durchaus nicht judenfreundlichen Zaren, bei dem er überdies großen Einfluss besitzt, einen auch nur halbwegs getreuen Bericht über die Vorgänge in Kischinew zu unterbreiten. Es heißt, dass der Zar über die Vorfälle in Kischinew so empört war, dass es dem Minister Plehwe nur mit Mühe gelungen ist, den Zar zunächst von einem Schritte abzuhalten, der nicht nur für die Kischinewer lokalen Behörden hätte verhängnisvoll werden können. Der Zar hatte die Absicht, einen Adjutanten zum Zwecke seiner persönlichen Information nach Kischinew zu entsenden. Das wusste aber der Minister des Innern glücklich zu hintertreiben, und er seinerseits schickte nunmehr an den Ort der Tragödie als seinen Beauftragten Herrn Lopuchin, einen noch jungen Mann, der bis vor kurzem Staatsanwalt in Petersburg gewesen ist.

Die Meldung dieser Reise verbreitete, wie erwähnt, in Kischinew eine Panik unter den intellektuellen Leitern der Krawalle. Herr Lopuchin wusste gemäss den Instruktionen des Herrn Plehwe die beunruhigten Gemüter jedoch zu beschwichtigen. Als Lopuchin in Petersburg schließlich seinen milden schriftlichen Bericht erstattete, erschien auch dieser Bericht Herrn Plehwe noch zu düster und er veranlasste — es steht dies fest — dass die Farben gänzlich verändert wurden.

So sicherte er sich nach oben — und der Zar ist bekanntlich für die anderen sehr weit.*) Nach außen hatte er sich durch das Dementi und die Übertragung der Verantwortung an die Gouverneure gesichert. Nun blieb ihm nur noch die Auseinandersetzung mit den Juden, allerdings die leichteste, übrig. Indem er ihnen einerseits die Bildung von Selbstverteidigungskomitees verbot, indem er den Kischinewer Juden mit keiner Art materieller Hilfe beizuspringen für nötig fand (während z. B. die durch ländliche Exzesse ganz geringfügiger Art geschädigten russischen Gutsherren noch mehr als die Schadenshöhe erhielten), hatte er die Güte, eine jüdische Deputation zu empfangen, der er als Entschädigung entgegenhielt, dass er der antisemitischen Zeitung Kruschewans „Znamja“ den Verkauf außerhalb des Abonnentenkreises untersagt habe.

*) Während der Drucklegung kommt die Meldung, dass die Stellung Plehwes doch erschüttert sein soll und von seinem Ausscheiden aus dem Ministerium die Rede ist. Der Zar soll, da er von Graf Mussin-Puschkin einen Spezialbericht über Kischinew erhielt, die Fälschungen und Machinationen Plehwes erkannt haben. Jedenfalls wäre seine Absetzung noch die offizielle Bestätigung für das, was „inoffiziell“ als Wahrheit feststeht.

Und als ihm die Deputation vorhielt, dass er in seinem Bericht fälschlicherweise die Juden als die ersten Urheber der Kischinewer Exzesse bezeichnete und um einen neuen wahrheitsgetreuen Bericht baten, da erklärte er, dass er doch nicht gut einen offiziellen Bericht richtig stellen könne. Übrigens könnte die Tatsache, dass die Juden begonnen hätten, ganz gut ihrem Charakter entsprechen: Einzeln seien sie Feiglinge, aber als Menge seien sie von einer frechen Tapferkeit ohne Grenzen. Auf die anderen Wünsche: „Dass, der Minister des Innern ein Rundschreiben erlasse, in dem er erklärt, dass die Juden den Schutz des Gesetzes genießen und Ausschreitungen nicht geduldet werden; dass das Blatt „Bessarabetz“ ermahnt wird, seinen antisemitischen Feldzug einzustellen oder dass wenigstens erlaubt wird, ein anderes Blatt in Kischinew herauszugeben, um den Einfluss des „Bessarabetz“ zu bekämpfen, dass eine Untersuchung der letzten Metzeleien veranstaltet und die Schuldigen bestraft werden und endlich dass die den Juden auferlegten Beschränkungen gemildert oder dass zum mindesten eine Kontrolle der Polizei geschaffen wird, damit diese die Juden nicht mehr wie bisher ausbeuten kann,“ — auf diese Wünsche und die anderen, dass der Minister in einem Rundschreiben die Massacres und die antisemitische Agitation missbillige und dass er den ganzen Beamtenstand in Kischinew einer Veränderung unterziehe, fand Plehwe keine Veranlassung einzugehen.

Hingegen benutzte Plehwe den Anlass, die Juden zu warnen vor der Propagierung revolutionärer Ideen unter der jüdischen Jugend: Unter den Juden der letzten Generation herrsche die Meinung, dass der russische Staat ein fauler Organismus sei, den zu reformieren die Juden berufen seien. Das sei grundfalsch. Russland sei ein fester, geschlossener Staat. Und obgleich jetzt einige Gärungen zu bemerken seien, so sei dies doch nur vorübergehend. Die Staatsentwicklung vollziehe sich nach bestimmten historischen Prinzipien, und die Regierung schöpfe daraus noch genügend Kräfte, um mit schädlichen Elementen fertig zu werden. Die Juden müssen aufhören, an der Revolution Anteil zu nehmen. Sonst wird sich die Regierung gezwungen sehen, entweder die Juden zur Emigration zu zwingen oder ihr Leben in Russland unerträglich zu machen.

Dieses ist die Regierung, bei deren Gnade jetzt das Recht, die Sicherheit und das Leben von fast 6 Millionen Juden steht.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Judenmassacres in Kischinew (1903)