Die Öffentlichkeit Russlands

Obwohl die Unterdrückung und Rechtlosigkeit der Juden in Russland etwas so Gewohnheitsmäßiges ist, dass die russische Presse nur dann Einzelheiten registriert, wenn sie besonders grauenhafte und unerträgliche jüdische Not und Armut aufdecken, — obwohl sie auch gegen Judenexzesse, die es jedes Jahr gibt, abgestumpft ist, hat sie das Massacre von Kischinew doch emporgerüttelt und zu einer Kundgebung der Gerechtigkeit, der Objektivität und der Verabscheuung der Schandtaten veranlasst — innerhalb jener Grenzen natürlich, die das System der Regierung und der Zensur setzt. Überall klang, wenn auch nicht immer ausgesprochen, das Entsetzen nicht sowohl über die Judenexzesse als darüber durch, dass das russische Volk in allen Klassen und Schichten solche Elemente berge, die zur Urheberschaft und zum vollbringen solcher Grässlichkeiten fähig sind. Außer Stande, im Augenblick für die Schmach zureichende Erklärungen, geschweige denn Entschuldigungen zu finden, haben wenigstens die Blätter möglichst die Solidarität mit den Stammesgenossen von Kischinew abgeschnitten. Selbst manche antisemitische Blätter, deren Geist in Kischinew auflebte, wie z. B. „Nowoje Wremja“ haben die Ereignisse nicht zu billigen versucht. Nur Kruschewans Organe: „Bessarabetz“ und ,,Znamja“ stiegen noch tiefer hinab, um ihr Gift zu verspritzen.

In materieller Hinsicht haben sich die Nichtjuden Russlands nur sehr wenig beteiligt. Auch durch moralische Anteilnahme hat sich die Intelligenz Russlands nicht bemerkbar gemacht. Es ist ein sehr verräterisches Schweigen, in das sie sich gehüllt hat. Doch darf man einzelne Kundgebungen hervorragender Männer bei diesem Anlass registrieren, insbesondere jener Schriftsteller und Literaten, die sich auch an der materiellen Hilfe beteiligten. Erwähnenswert ist die einzige Kundgebung, die aus einem größeren Kreise herrührt.


Petersburger Schriftsteller haben in einer Mitte Mai abgehaltenen Versammlung, welcher mehr als zweihundert Vertreter der Journalistik und der Literatur beiwohnten, einstimmig eine Resolution gefasst, in welcher die Bluttaten von Kischinew gebrandmarkt und die maßlosen Beschränkungen aller Rechte der Juden in Russland als die tiefere Ursache der Juden-Massacres bezeichnet wurden. Die Resolution konnte jedoch mit Rücksicht auf ihren anti-gouvernementalen Charakter der Öffentlichkeit nicht bekannt gegeben werden. Um aber auch öffentlich die Gräuel von Kischinew zu brandmarken, beschlossen die Schriftsteller, ein in diesem Sinne abgefasstes Schreiben in den Blättern zu publizieren. Aber bei der Verwirklichung dieses Vorhabens zeigte sich, wie sich die russische Bureaukratie zu den Bluttaten von Kischinew und zu den Protesten gegen diese Gräuel verhält. Das Schreiben wurde im Auftrage der Versammlung von dem russischen Publizisten und Schriftsteller Nikolai Annenski j redigiert und unterzeichnet. Zuerst wurde dieses Schreiben dem Herausgeber der „Nowosti“, Ossip Notowitsch, zur Veröffentlichung übersendet. Der wies jedoch dieses Schreiben zurück unter Hinweis darauf, dass Minister v. Plehwe die Publikation untersagt habe. Fürst Esper Uchtomskij, der Herausgeber der „Petersburgskija Wjedomosti“ verweigerte gleichfalls die Publikation des Schreibens. Auch die liberalen, in Moskau erscheinenden „Russija Wjedomosti“ druckten das Schreiben nicht ab, sondern gaben den Inhalt desselben wieder, ließen aber die darin enthaltenen Worte aus: „Dem ganzen rechtlosen jüdischen Volke“. Nur die in Petersburg erscheinende jüdische Wochenschrift „Woskhod“ druckte das Schreiben vollinhaltlich ab. Und nun trat das Verhalten der russischen Bureaukratie deutlich zu Tage. Die ganze Auflage des „Woskhod“ wurde konfisziert und der Verfasser des Protestschreibens, Nikolai Annenskij zum Direktor des Polizei-Departements, Staatsrat Lopuchin , zitiert.

Herr Lopuchin sagte dem Schriftsteller wörtlich: „Ihre publizistische und gesellschaftliche Tätigkeit trägt einen schroff anti-gouvernementalen Charakter. Endlich gingen Sie so weit, in Ihrem, im „Woskhod“ publizierten Schreiben von der ,, Rechtlosigkeit des jüdischen Volkes“ zu sprechen. Sie erklären also die Unruhen von Kischinew mit der Rechtlosigkeit der Juden, Sie messen folglich die Schuld an den Unruhen der Regierung bei. Ich erkläre Ihnen, dass die Regierung entschlossen ist, dies nicht länger zu dulden. Ich habe Sie hiehergerufen, um Sie zu warnen. Wenn Sie Ihre Tätigkeit in dieser Richtung fortsetzen sollten, wird das Ministerium die strengsten Maßnahmen ergreifen, sogar die Verbannung nach Sibirien anwenden. Ich behaupte, dass die Juden in Bessarabien alle Rechte besitzen, die ganze ökonomische Macht liegt in ihren Händen. Ich betrachte Herrn Kruschewan (den bekannten Redakteur des antisemitischen hetzerischen Blattes „Bessarabetz“) als den einzigen Menschen, welchen die Juden nicht bestechen konnten . . .“ Das sagte Herr Lopuchin über Kruschewan, dem er selbst einige Tage zuvor im Auftrage des Ministers v. Plehwe eine Subvention von 25.000 Rubeln ausbezahlt hatte. Die russische Presse hat sich leicht einschüchtern lassen. Heute schweigt sie sich schon ganz aus über Kischinew. Die Juden bleiben weiter ihrem Schicksal überlassen. Hingegen findet dieselbe Presse, die keine Worte über die Ungeheuerlichkeit des Kischinewer Gerichtes verliert, das leidenschaftlichste Pathos für die Morde von Belgrad. „Das erschütterte Gewissen der Völker und die öffentliche Meinung Europas dürfen sich nicht beruhigen, bis die Bluttat gesühnt ist,“ schreiben sie . . .

An den Schluss dieses Kapitels möchten wir noch zwei Stimmen setzen, die uns besonders wertvoll erscheinen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Judenmassacres in Kischinew (1903)