Kischinew und die Antisemiten Westeuropas

Die Juden, die es vorziehen, sich mit den Antisemiten nicht in fruchtlosem oder unwürdigem Kampfe auseinander zusetzen, werden auch nicht viel Worte über ihr Verhalten in der Kischinewer Affaire zu verlieren haben, Sie waren, wie sie immer sind: Bestenfalls erklärten sie die Kischinewer Morde für eine bedauerliche Überschreitung, sonst aber war alle Schuld bei den Juden: Ritualmord, Ausbeutung der Massen, die Schlechtigkeit der Juden außerhalb Russlands als Vergleichsobjekt — das waren die Argumente. Und an Drohungen eines modifizierten Kischinew für West-Europa fehlte es auch nicht. Wer soll sich ihnen widersetzen? Mögen es diejenigen tun, die daran glauben, dass die Antisemiten von den Juden belehrt oder bekehrt werden wollen. Die Juden aber, die etwas tun wollen, werden sich mit sich selbst und mit der andern Art Christen auseinander zusetzen haben.

Damit sollte die Gefährlichkeit des Antisemitismus und seine immense Macht — besonders die seiner Presse — nicht unterschätzt werden. Im Gegenteil: Es sollen nur die Juden von dem der großen Not gegenüber lächerlich-kleinlichen Presse- und Versammlungs-Geplänkel, das ihnen so oft den Antisemiten gegenüber beliebt, auf eine große Tat, auf eine große Selbsthilfe hingewiesen werden, die den Antisemitismus paralysieren könnte, ohne dass sie sich mit dem Versuche beschweren oder täuschen wollten, den Antisemitismus zu überzeugen.


Eine besonders charakteristische Pressstimme aber, die von den Kollegen Kruschewans aus dem klassischen Lande des Judenhasses stammt, aus Rumänien, das jährlich tausende bettelarmer Juden über seine Grenzen jagt, soll hier zum Gedächtnis festgehalten werden. Von der Presshetze, die aus dem benachbarten Rumänien die Arbeit Kruschewans unterstützte, gibt nachstehende Stelle aus der „Vocea Tutovei“ von Anfang März, ein Beispiel:

,,Die von den Juden neuerdings in Österreich, Böhmen, Ungarn, Deutschland und Russland begangenen Ritualmorde sind noch frisch in jedermanns Gedächtnis. Wie viele Kinder sind aber in unserem eigenen Lande verschwunden? Wie viele verstümmelte Körper wurden gefunden, während die Verbrecher unentdeckt geblieben? Wer sind diese Verbrecher, diese blutdürstigen Mörder unserer lallenden Kleinen? Die 600.000 (Anm. : Es gibt nur 1/4 Million Juden in Rumänien.) fanatischen Juden sind es, die unser Land verpesten. Diese Bestien sind die Schlächter unserer christlichen Kinder. Die Juden sind die Verbrecher, sie, die unser Land wie Heuschrecken überfielen. Die Zeit ist vorbei, wo man mit friedlichen gesetzlichen Einschränkungen wirken konnte. Alle guten Rumänen sollten ihre schweren Stöcke schwingen und diese Parasiten ihres Landes vertilgen.“

Die Gräuel in Bessarabien sind denn auch von der „Vocea Tutovei“ mit Freuden begrüßt worden. Das Blatt nennt die Vorgänge in Kischinew „ein vorzügliches Vorbild“. Von Seiten der rumänischen Regierung ist nichts dagegen geschehen, dass die „Vocea Tutovei“ die Artikel auch in Broschürenform veröffentlicht. Sie ergänzt diese Artikel, indem sie die „fremden“ Juden mittels des Gesetzes rechtlos, mittels der Praxis bettelarm und vogelfrei macht.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Judenmassacres in Kischinew (1903)