Das Urteil der „Prawo“.

Die Wochenschrift „Prawo“ (das Recht), die von der Regierung unter anderem eine erste Verwarnung wegen eines Artikels über die Judenhetze in Kischinew erhielt, ist eine fachwissenschaftliche, hauptsächlich für Juristen bestimmte Zeitschrift. Um so mehr fällt es auf, dass Herr v. Plehwe es für nötig gehalten hat, ihr eine Verwarnung zu erteilen. Agitatorische Wirkung hat die Zeitschrift nicht angestrebt und konnte eine solche ihrem ganzen Charakter nach unmöglich anstreben. Man muss also annehmen, dass die Maßregelung deshalb erfolgte, weil dem Minister des Innern eine aufrichtige und streng sachlich ausgesprochene Meinung über die Gründe und Bedeutung der Judenhetze unbequem war. Der beanstandete Artikel war von dem bekannten russischen Juristen W. D. Nabokoff, einem Sohne des ehemaligen russischen Justizministers, unterzeichnet und lautete folgendermaßen :

„Mit tiefer Empörung und Schmerz im Herzen haben alle, deren menschliche Gefühle noch nicht erstickt sind, die traurigen Nachrichten von der Judenhetze in Kischinew gelesen. Die kurze amtliche Mitteilung, die die Zahl der Getöteten und Verwundeten angab, ließ bei allem ihren Lakonismus ihrer amtlichen Trockenheit erraten, dass etwas Ungeheuerliches vorgefallen war.


Die weiteren Einzelheiten des Vorgangs, die in den „St. Peterb. Wjed.“, den „Russ. Wjed.“, im „Woschod“ und in den „Nowosti“ veröffentlicht wurden, haben die Vermutungen vollauf bestätigt. Sie haben ein Bild entrollt, das nach Angabe eines Augenzeugen die Erinnerungen an die Kiewer Krawalle vom Jahre 1882 in Schatten stellt. Etwa 50 Tote, gegen 150 Schwerverwundete. Wie die „St. Peterb. Wjed.“ berichten, lagen die verstümmelten Leichen im Totenzimmer aufeinander geschichtet, viele ganz weiß von den sie bedeckenden Bettfedern . . . Eine Mutter hat ihre drei Söhne tot aufgefunden. Selbstverständlich wurden diese Morde von Raub und Plünderung begleitet. Das Unglück entzieht sich jeder Schätzung. 4.000 Familien sind zu Grunde gerichtet und buchstäblich zu Bettlern geworden.

Wenn man alles das liest, so staunt man darüber, dass solche Vorkommnisse in einer großen Stadt möglich sind, welche Behörden besitzt und über Polizei und eine bedeutende Anzahl von Truppen verfügt. Das Staunen wächst, wenn man erfährt, dass die Ausschreitungen vorhergesehen wurden und nur für die Opfer unerwartet kamen. Und das Erstaunen steigert sich bis zum äußersten, wenn man den Fortgang der Ausschreitungen und die Formen die sie annahmen, kennen lernt, wenn man hört, dass die Krawalle über zwei Tage dauerten und dass sie planmäßig von einzelnen kleinen, etwa 20 bis 25 Mann starken Banden verübt wurden. Es ist ganz begreiflich, dass in der Presse, und zwar nicht nur in der allgemeinen, sondern auch in der juristischen Fachpresse die Frage aufgeworfen worden, ob die Behörden von Kischinew nicht zur straf- und zivilrechtlichen Verantwortung gezogen werden können. Nach einer Meldung der „Russ. Wjed.“ hat die Stadtverordnetenversammlung in Kischinew in einer außerordentlichen Sitzung beschlossen, beim Minister des Innern vorstellig zu werden „wegen der schwächlichen Haltung der Lokalpolizei“. Die „Sudeb. Obesr.“ („Justizrevue“) hat mit Recht darauf hingewiesen, dass die Zentralregierung die ungenügende Wachsamkeit der Lokalverwaltung in Bezug auf die Vorbeugungsmaßregeln mehrfach zugegeben hat, und dass schon anlässlich der Ausschreitungen des Jahres 1882 eine kaiserliche Verordnung, datiert 3. Mai 1882, herausgegeben wurde, wonach die Gouvernementsbehörden in Kenntnis zu setzen waren, dass sie für die rechtzeitige Anwendung von Vorbeugungsmaßregeln zur Hintanhaltung oder Unterdrückung von Unruhen verantwortlich seien. In Kischinew wurde anscheinend kein einziger Versuch gemacht, die Ausschreitungen zu verhindern. Eine der antisemitischen Provinzzeitungen, die die nationalistischen Hetztreibereien zu ihrer Spezialität gemacht hat, sagt unverhohlen, dass die ganze Bewegung, „nachdem sie zwei Tage lang gedauert und ihren Gipfelpunkt erreicht hatte, „plötzlich“ aufhörte, und dass es am dritten Tage der Unruhen klar geworden war, dass scharfe Maßregeln bereits „nicht mehr nötig seien“. Die Behörden hatten also erst dann „ihre Pflicht erfüllt“, als es nicht mehr nötig war. Wir wissen nicht, ob man sie zur straf- und zivilrechtlichen Verantwortung ziehen wird: die moralische Verantwortlichkeit vor der Gesellschaft und der Geschichte können sie aber nicht von sich abwälzen, auf ihnen liegt die schreckliche Gewissenslast vernichteter Menschenleben und zu Grunde gerichteter Familien.

Man war nicht darauf gefasst, dass die schrecklichen Bluttaten der Judenhetze in Kischinew Anlass zu einem neuen Angriff der antisemitischen Presse geben könnten. Und doch hat sie einen neuen Angriff unternommen. Es hat sich eine völlige geistige Gemeinbürgschaft zwischen einigen (glücklicherweise wenigen) Vertretern der Presse und dem rohen Pöbel erwiesen, der am 19. und 20. April in Kischinew ungehindert gewütet hat. Es hat sich eine schamlose Feder gefunden, die sich nicht entblödete, folgende wirklich schändlichen Worte niederzuschreiben: ,,So sind die Juden immer: erst fordern sie durch ihre Schändlichkeiten heraus und dann jammern sie und rufen das Mitleid der Gesellschaft an.“ („Znamja“, die vom Leiter des Kischinewer „Bessarabetz“ Kruschewan in Petersburg herausgegeben wird.)

In einer anderen Nummer desselben Blattes lesen wir: „Wie dem auch sein mag, die schreckliche Tragödie hat sich abgespielt. Es bleibt nur noch übrig, den Wunsch auszusprechen, dass sie für die Juden als erlösendes Beispiel diene und vor allem, dass diejenigen unglücklichen Christen (!), die ohne Verschuldung ihrerseits dazu verurteilt sind, mit den Juden zusammenzuleben und sich der Gefahr auszusetzen, in jedem Moment Opfer (!) dieser fatalen Nachbarschaft zu werden, dass diese Christen nicht dieser Tragödie zum Opfer fallen.“ Endlich wird in einer dritten Nummer ein Mittel angegeben, Judenhetzen zu vermeiden. Dieses Mittel besteht darin, dass die Juden selbst sich dem Volke gegenüber wohlwollend verhalten sollen, in dessen Mitte sie leben, dass sie sich gut mit ihm vertragen und von ihm nicht entfremden. Die Juden müssen beweisen, dass sie keine Schmarotzer, dass sie ebenso treue Staatsbürger sind wie Russen, dass sie die Staatsgesetze achten und dass sie jeden Augenblick bereit sind für ihr Vaterland „ihr Leben bis zum letzten Blutstropfen hinzugeben.“

Wir würden all diesen Auslassungen keine Beachtung schenken, wenn die Möglichkeit ihrer Verbreitung in der Presse bis zu einem gewissen Grade nicht eine Erklärung bieten würde, wie Ereignisse, wie die Judenkrawalle in Kischinew, möglich sind. Wir ersehen hieraus, dass eine Ansicht möglich ist, wonach das Recht auf Unverletzlichkeit und Erhaltung des Lebens von den Juden erst verdient werden muss — an und für sich steht es ihnen nicht zu. Wenn ein Jude getötet oder verstümmelt wird, so ist das erste Gefühl bei den Vertretern dieser Anschauung das Mitleid mit dem „unglücklichen Christen“, der den Juden ermordet hat und der dafür leiden muss, dass er zufällig zum Mörder wurde. Das Jammern und Schreien der Verstümmelten ist ihnen weiter nichts als elendes Judengeschrei. Die Mutter, die ihre drei Söhne verloren hat, wird belehrt, dass deren Tod eine „erlösende Sühne“ für die Versündigungen des jüdischen Volkes sei.

Man half sich dabei mit einer originellen Erklärung der Ausschreitungen: es wurde behauptet, dass die Juden die Arbeiter demoralisiert hätten, indem sie die ohnedies gespannte Lage durch Verbreitung anarchistischer Proklamationen noch mehr verschärft hätten.

Es fehlt nur wenig dazu, um den rohen Mob als Hüter der Gesellschaftsordnung zu feiern, der den Feinden der Staatsordnung ein gutes Beispiel gegeben hat. Die wahre Erklärung der Judenkrawalle ist freilich eine andere. Sie besteht, wie schon angedeutet, in dem gesetzgeberischen und administrativen Regime, bei dem solches Verhalten der christlichen Bevölkerung zur jüdischen möglich ist. Vom Standpunkte dieses Regimes ist der Jude ein Paria, ein Wesen niederer Ordnung, etwas Schädliches an und für sich. Er wird nur geduldet, muss aber eingeschränkt und gefesselt werden und darf die für ihn bestimmte Ansässigkeitszone nicht überschreiten. In den Bevölkerungsschichten, die der wahren Kultur noch fremd sind, hat sich die hergebrachte Anschauung festgesetzt, wonach der „Jud“ schon deswegen verwerflich ist, weil er als Jude geboren wurde. Diese rohe und brutale Ansicht gegenüber einem ganzen Volke findet in dem herrschenden Regime eine indirekte Stütze und Bestätigung. Dieses Regime lässt auch die Vermutung jenes Bauernburschen erklärlich erscheinen, der einen Juden ermordet hat, weil er gemeint hat, dass „kein Gericht für einen Juden eintreten könne“. Man kann sicher sein, dass die große Mehrheit der Teilnehmer an den Krawallen von Kischinew, wenn auch nicht gerade derselben Meinung war, so doch keine besonders schlimmen Folgen ihrer Schandtaten befürchtete. Und das ist wohl das Tragischste an diesen Krawallen. Sie dienen wirklich als „erlösendes Beispiel“, aber nicht für die Juden.“
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Judenmassacres in Kischinew (1903)