Das Urteil Maxim Gorkis

Maxim Gorki hat die folgenden Ausführungen für den „Nischni-Nowgorodski Listok“ bestimmt gehabt; sie wurden jedoch von der russischen Zensur unterdrückt, worauf sie Gorki der deutschen Presse zur Verfügung stellte.

Maxim Gorki, der lange unter Juden lebte, sie kennt und sich ihnen schon oft wahrhaft herzlich zugewendet hat, schreibt:


„In den letzten Jahren ereignen sich immer häufiger in unserem Lande Dinge, die es mit Schmach überdecken, das Schmachvollste aber, das unser Entsetzen, unsere Scham und Empörung hervorruft — das ist das schreckliche Judenmassacre zu Kischinew. Leute, die sich für Christen halten, Leute, die vorgeben, an den Gott der Barmherzigkeit und des Mitleids zu glauben, — diese Leute beschäftigten sich an den Tagen, die von ihnen der Feier der Auferstehung ihres Gottes von den Toten geweiht sind, damit, — Kinder und Greise zu ermorden, Frauen zu vergewaltigen, Menschen von jenem Stamme zu martern und zu berauben, der ihnen Christus geschenkt hat.

Wer trägt an diesem gemeinen Verbrechen, das sich auf uns alle wie ein blutiger Fleck legt, die Schuld? — die Schuld an dieser Befleckung, die auch Jahrhunderte von der traurigen Geschichte unseres finsteren Landes nicht wegwischen werden?

Es wäre ungerecht und allzu einfach, die „Masse“, die die Juden mordete, zu verurteilen; die Masse — ist eine Hand: schuld daran ist das verdorbene Bewusstsein, das sie zu diesem Raub und Mord lenkte. Wie bekannt, wurde die Masse in Kischinew durch Leute von der intelligenten Gesellschaft angeführt, aber was ist eigentlich die „russische intelligente Gesellschaft“? Das ist auch eine Masse, dazu noch eine viel schlimmere als die des „Volkes“, weil unser Volk durch sein schweres Leben aufgestachelt ist und blind gemacht und in Ketten geschmiedet durch die ringsum künstlich geschaffene Finsternis . . .

Die intelligente Masse aber, — das ist ein Haufen feiger Sklaven, die, des Gefühls der Selbstachtung und des Bewusstseins ihrer Rechte beraubt, bereit ist, vor jeder Macht ihre Knie zu beugen, die bereit ist, eine jede Lüge anzunehmen, bloß damit sie ihre Ruhe nicht störe, eine kraftlose, rechtlose und graue Masse, ganz ohne Bewusstsein, und eine schamlose, ungeachtet ihres anständigen Äußeren.

An der schmachvollen und schaudererregenden Tat, die in Kischinew vollbracht wurde, ist unsere intelligente Gesellschaft nicht minder schuld, als die aktiven Mörder und Vergewaltiger.

Sie ist nicht bloß schuld daran, weil sie die Ermordeten nicht nur nicht in Schutz nahm, sondern weil sie sich sogar daran ergötzte — ihre Schuld besteht hauptsächlich darin, dass sie während langer Jahre sich von Menschenhassern verderben Hess, von Leuten, die schon seit langem den abscheulichen Ruhm gemessen, Lakaien der Macht und Verherrlicher der Lüge zu sein, wie Alexei Csnworin, Victor Burenin, Wassilij Welitschko, Csergey Scharapow, Wissarion Komarow, Kruschewan, Pjatkowski und andere, die ihres gleichen sind.

Das sind die wahren Anstifter des für uns schmachvollen und schaudererregenden Verbrechens in Kischinew! All den abscheulichen Benennungen, die von jeher diesen widerlichen Leuten gehören, — müssen wir heute noch eine von ihnen wohlverdiente Bezeichnung hinzufügen: sie sind Aufhetzer zu Raub und Mord!

Diese Heuchler mit dem Gottesnamen auf ihren Lippen, die der russischen Gesellschaft den Hass gegen die Juden, die Armenier und Finnen predigen und sie dadurch verderben — heute überschütten sie die Leichen der durch ihre Einwirkung Getöteten mit feigen und gemeinen Infamien und setzen schamlos ihr hässliches Werk fort: die Verderbung des Gefühls und des Gedankens der ganz willenlosen russischen Gesellschaft.

Schmach auf ihre bösen Häupter, und möge das Feuer des Gewissens in ihren verfaulten Herzen brennen, die voll von Eitelkeit und Kriecherei vor jeder Macht sind!

Und auch der russischen Gesellschaft, die schmachvoll der Aufhetzerei dieser Sklaven folgt, liegt jetzt die Pflicht ob, zu beweisen, dass sie noch nicht ganz durch diese Banditen verdorben ist, dass sie nicht identisch ist mit den Aufhetzern zu Raub und Mord, dass sie noch ein Körnlein echten menschlichen Gefühls in sich birgt.

Die russische Gesellschaft muss, um einen Teil der Schmach und Scham von ihrem Gewissen zu nehmen, den beraubten und verwaisten Juden zu Hilfe kommen, diesen Angehörigen einer Nation, die der Welt so viele wahrhaft große Männer gab und die — trotz des Entsetzens und des Drucks ihrer Lage in der Welt — noch immer Lehrer der Wahrheit und Schönheit hervorzubringen fortsetzt.

Nun also — ein jeder, der sich nicht als Lakai zu Lakaien gehörig betrachtet, alle, in denen das Gefühl der Selbstachtung noch nicht erstorben ist — Ihr alle auf, den Juden zur Hilfe!“

Auf beide Dokumente werden wir noch in unseren Schlussfolgerungen zurückkommen. So wertvolles Material sie für die Beurteilung der Kischinewer Exzesse liefern, sie zeigen doch weder erschöpfend alle Ursachen auf, noch ziehen sie die letzten Konsequenzen, die einer Lösung der katastrophalen Situation vorangehen müssen. Diese Konsequenzen zu ziehen bleibt allerdings den Juden überlassen, und darüber wollen wir noch sprechen.

Am Schlüsse erfüllen wir noch eine Ehrenpflicht, wenn wir konstatieren, dass einige hervorragende christliche Juristen sich entschlossen haben, die Sache der Opfer von Kischinew vor dem Senat zu führen, an den viele hundert Klagen von Juden gegen den Gouverneur Raaben und den Polizeimeister Chanschekow eingereicht wurden. Sie heben sich leuchtend ab von den Kischinewer Christen, von denen nicht mehr als vier sich bereit fanden, das Memorandum der jüdischen Gemeinde mit zu unterzeichnen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Judenmassacres in Kischinew (1903)