Die russische soziale Frage und die Juden

Gerade bei der Erörterung dieses ungemein komplizierten Problems glauben wir nochmals darauf hinweisen zu sollen, dass wir hier nur Andeutungen geben wollen und können.

Die abnormen nationalen, politischen und ökonomischen Bedingungen, unter denen die Juden Russlands zu leben gezwungen sind, werden noch komplizierter dadurch, dass sie einerseits mitbestimmend, andererseits beeinflusst sind in Bezug auf eine ganz besondere und merkwürdige Gesellschaftsbewegung. Schwerfällig, mit periodischen Eruptionen und vielen Rückfällen versucht da ein gigantischer Gesellschaftsorganismus in den seiner Eigenart entsprechenden Formen sich zu jener sozialen Entwickelungsstufe durchzuringen, die die westeuropäischen Völker schon hinter sich gelassen haben. Die höchste Zuspitzung dieses sozialen Werdens äußert sich in der revolutionären Gärung, die auf den Sturz des despotischen von Armee, Bureaukratie und Kirche gestützten Absolutismus ausgeht. Nur ein sehr geringer Bruchteil bereitet die Revolution bewusst vor; das sind Intellektuelle und klassenbewusste Proletarier. Die andere Masse drückte nur zeitweise durch örtliche Explosionen ihre Unzufriedenheit aus. Sonst aber stellt sie in der großen Masse der Bauern ein durch Zuchtwahl, zäh-konservativ und in sozialer Hinsicht trag gewordenes Element dar, dessen Vorspann, die Bürgerschaft, auch nicht viel beweglicher ist.


Wir können diesen Entwickelungsprozess hier weiter nicht verfolgen. Uns interessiert nur sein Zusammenhang mit der russischen Judenfrage. Und da müssen wir konstatieren, dass die Juden bei allen bisherigen Äußerungen dieses Prozesses eine geradezu tragische Rolle spielen. Soweit sie selbst, als die gedrückteste Proletariermasse für die sozialistische Idee empfänglich sind, stellen sie ein großes Kontingent derer, die die Reihen der Revolutionäre füllen und deshalb massenweise in die Gefängnisse und in die sibirische Verbannung gehen müssen. Die Regierung revanchiert sich für diese Revolutionäre damit, dass sie die Juden im allgemeinen noch mehr unterdrückt, vergrößert aber damit die Verzweiflung und schafft gerade dadurch neue Elemente für die Revolution.*)

Soweit andererseits in der russischen Masse Umsturzpläne im großen oder kleinen vorhanden sind, suchen die zunächst Betroffenen die Unzufriedenheit mit allen Mitteln auf die Juden abzulenken, was infolge der, wie wir bereits ausgeführt haben, immer vorhandenen Judenfeindlichkeit nicht allzuschwer fällt. So halten es zunächst die Gutsherren, so die Behörden und vor allem die Regierung selbst. Alle zeigen in den kritischen Momenten auf den Juden als die einzige Ursache allen Leidens und geben ihn ohne weiteres der ohnehin in der Masse herrschenden Bosheit und Raublust preis. Und wir erleben das nur bei Juden nicht abnormale Phänomen, dass die grösseren oder geringeren Eruptionen einer unzufriedenen Masse sich nicht an den übergeordneten Gesellschaftsschichten, sondern an einer noch niedrigeren Proletariermasse entladen. Soweit geht die Ironie dieser verkehrten Erscheinung, dass ihrerseits die Russen, die Revolution machen wollten, einmal versucht haben, Judenexzesse zu inscenieren, um den so geschaffenen aufrührerischen Geist der

*) Die Zahl der jüdischen Revolutionäre macht ungefähr der jüdischen Bevölkerung aus, stellt aber etwa die Hälfte der russischen 'Revolutionäre überhaupt dar.

Masse dann gegen Kapital und Regierung zu treiben, wie aus einer Proklamation aus dem berüchtigten Jahre der Judenhetzen, 1882, zu ersehen ist, welche vom Aktionskomitee der revolutionären Partei verbreitet wurde. Es können also Judenhetzen entstehen: wenn in einem Jahr der Missernte der Bauer den jüdischen Lumpenhändler packt; wenn der Handwerker durch industrielle Not herabgedrückt wird; wenn die Regierung Revolution ablenken will, wenn Revolutionäre Revolution machen wollen — damit wollen wir sagen, — Judenhetzen können in Russland in jedem Augenblicke entstehen, wo irgend eine Schichte sich Luft machen will, weil neben dem augenblicklichen Anlass oder Vorwand immer ein genügendes Material für den Judenhass auf jedem Gebiete, dem nationalen, religiösen, politischen, ökonomischen usw. seit langen Zeiten aufgespeichert ist.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Judenmassacres in Kischinew (1903)