Die russisch = ökonomische Frage und die Juden

Das russische Volk besteht heute noch zu mindestens 80 % aus Bauern. Man hat es in Russland nicht sowohl mit einem industriellen als mit einem Agrarproletariat zu tun. In welchen Fällen kommen nun Jude und Bauer zusammen?

Eine Konkurrenz zwischen beiden als Produzenten ist fast gänzlich ausgeschlossen, da die Juden kein Land erwerben dürfen. Sie treffen sich also nur auf dem Wege zwischen Produktion und Konsumtion. Und gerade da zwingt die Not des Bauern einerseits, die furchtbare Konkurrenz des jüdischen Händlerproletariats andererseits dem Juden oft die Rolle des Ausbeuters auf, obwohl seine „Ausbeute“ im besten Falle gerade dazu reicht, um seinen Hunger zu stillen. Ein national-ökonomisches Werk formuliert das Verhältnis zwischen Bauer und Juden folgendermaßen: „Hat der Bauer Unglück und ist er in Not, so hat er noch immer das Glück einen noch Unglücklicheren zu seinen Diensten zu sehen, den jüdischen „Lumpenhändler“.“ Wer ist dieser Lumpenhändler? Einer aus der Masse tausender und abertausender „Berufsgenossen“, die in Abhängigkeit von wieder tausenden Kleinhändlern und Maklern sind, deren höchste Schichte immer noch ein proletarisches Dasein führt. Er ist das natürliche Produkt jenes teuflisch-raffinierten Systems, das die Juden in enge Bezirke und in wenige enge Berufe gepresst hat. Der „Lumpenhändler“ erscheint mit seinem erborgten Kapital von 10 oder 15 Rubel oder mit Waren im gleichen Wert im Dorfe und wird vom Bauer dann verwendet, wenn dieser entweder nicht mehr zur Stadt fahren kann oder wenn er sich in augenblicklicher Not, sei es wegen Steuern, Lebensmitteln oder Waren befindet. Dann tritt der Jude ein. Er verkauft dem Bauer entweder gegen Umtausch oder gegen Sicherheit auf die Ernte oder auf das Grundeigentum. Wenn nun auch der Jude in diesen Situationen als der unentbehrliche Helfer des hilflosen Bauers auftritt und wenn auch der Verdienst des Juden bei der großen Konkurrenz, dem großen Risiko und dem Mangel an Betriebskapital durchschnittlich nicht mehr als 2 bis 2 1/2 Rubel wöchentlich bei harter Arbeit beträgt (wie es statistisch nachgewiesen ist) — so erscheint doch dieser jüdische „Lumpenhändler“ dem (ökonomisch kurzsichtigen Bauer im Falle einer Katastrophe als der erste Schuldtragende, als die prononzierte Ausbeuterfigur, mag indessen auch derselbe Ausbeuter längst selbst vollständig proletarisiert worden sein. Der Jude schiebt sich ein als das letzte Zwischenglied zwischen Regierung, kapitalistischer Gesellschaft, Gutsherren, Fabrikanten, Steuereinnehmern und Stadthändlern — eine armselige aber wehrlose Jammergestalt des Prinzips „Ausbeutung“. Die Masse dieser Jammergestalten aber verdichtet sich bei den armen Bauern zu einer gehassten Kategorie, gegen die ihre Instinkte und Rachsucht immer latent sind, während die wirklich schuldigen oberen Kategorien der russischen Regierung und Gesellschaft ihrem unentwickelten Verstände umso mehr verhüllt bleiben, je mehr beide, den Judenhass ausnützend, ihn zu steigern sich mühen.


Bezüglich des ökonomischen Verhältnisses der städtischen Bevölkerung können wir nur Stichproben liefern.

Obwohl sich der furchtbar überfüllte jüdische Handwerkerstand des Ansiedelungsrayons in einer verzweifelt proletarischen Situation befindet, von der war erschütternde Beispiele gegeben haben und obwohl ihm gegenüber die christlichen Handwerker der Mehrheit nach geradezu Besitzende darstellen, und noch dazu vollberechtigte Bürger sind, hat doch im vorigen Jahre eine Versammlung russischer Handwerker als Ausdruck der Gesamtstimmung in einer Versammlung sich gegen die jüdische Konkurrenz aufgelehnt und noch weitere Beschränkungen gegen die Juden gefordert. Aus dieser bedeutenden Schichte des Kleinbürgertums, die, wie in anderen Staaten, auch in Russland notleidend ist, ist jeden Augenblick aktiver Judenhass herauszuschlagen, der sich mit dem nicht minder starken Hass der Händler-Konkurrenten zu einer furchtbaren Macht in den Städten ansammelt.

Betrachten wir die oberen Schichten der Gesellschaft, so verstärkt sich beispielsweise der Judenhass der Gutsherren, der Edelleute und der Offiziere durch jene spezifisch „blaublütige“ Beimischung, die man von Westeuropa genügend kennt und die in Russland um so stärker ist, je weiter diese Schichten von der Masse entfernt und je tiefer die Juden in dieser Masse stehen.

Die Beamtenklasse zieht für ihren Judenhass die natürliche Nahrung aus dem antisemitischen Regierungssystem, dem sie dient, aber auch aus der Korruption, die sie veranlasst, einen Antisemitismus der Tat zu üben, um aus der jüdischen Masse mit Hilfe der Gesetzauslegung oder mit einfacher Willkür das letzte zu erpressen. Die Intelligenz steht dem Juden, wie es übrigens durch die Einflüsse der Erziehung und der Umgebung“ gar nicht anders möglich ist, zum geringsten Teil vorurteilslos

gegenüber. Soweit der andere Teil nicht durch die Beamtenschaft repräsentiert ist und die Berufe der akademisch Gebildeten umfasst, hat sich auch hier der Judenhass um ein ökonomisches Moment vermehrt, obwohl man ungefähr berechnen kann, wie groß die Konkurrenz der jüdischen Rechtsanwälte, Ärzte oder Ingenieure sein kann, wenn durchschnittlich nicht mehr als 3 — 5 % zum Studium zugelassen werden. Die Presse als Spiegel der Intelligenz zeigt denn auch deutlich die Stimmung dieser Schichten. Sie schweigt bis auf ganz unverschweigbare Fälle die Judennot tot oder sie ist konsequent antisemitisch.

Dass in ökonomischer Hinsicht die 10 % wohlhabender oder reicher Juden ein besonderes Reizmittel des Neides und Hasses und antisemitischer Verallgemeinerungen bilden, ist auch nach westeuropäischen Verhältnissen selbst verständlich.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Judenmassacres in Kischinew (1903)