Die russische Nation in ihrem Verhältnis zu den Juden

Wir haben nun zu untersuchen, ob es das absolutistische Regime Russlands allein ist, welches das soeben geschilderte System der Judenunterjochung und Judenbeschränkung und die daraus resultierende Not der jüdischen Massen geschaffen hat. Die wichtigste Frage ist: ob wir es dem russischen Staats- oder dem Volksgeiste zuzuschreiben haben, dass ein solcher jüdischer Ausnahmezustand eintrat? Von vornherein müssen wir feststellen, dass die heutige russische Regierung sich durchaus nicht allzu sehr dem Geiste des Volkes entfremdet hat. Auf dem Gebiete der Judenfrage aber war in Staatsraison und Volkstrieben sofort eine mächtige Einheit gegeben. Trat die Regierung mit ihrem Unterdrückungs- und Absperrungssystem gegen die Juden auf als einen Fremdkörper inmitten des Nationalstaates, so wehrte sich der russische Volksgeist instinktiv gegen diese Juden, die in allem so ganz anders waren als die Russen. Als die ungeheure Mehrheit, die sie darstellten, hatten die Russen ziemlich alle Grundlagen gegeben, die ihre Abneigung und dann ihre Feindschaft gegen die Juden mehren mussten. An die Juden heftete sich noch immer der dunkle Fluch des fanatischen Mittelalters. Neigt die Masse immer dazu, die Funktion des Stärkeren, wo sie nur kann, mit aller Wucht auszuüben, wie hätte man diesen Schwächeren, die Juden, die ihnen der Aberglaube als Feinde, das Leben als scheue und darum noch gefährliche Fremde zeigte, nicht fürchten, hassen und verfolgen sollen? Kam nun die Regierung dazu und behandelte den Juden gleichfalls als einen Fremden, Minderwertigen, Rechtlosen, wie hätte dann nicht in der Wechselwirkung beider allmählich ein Verhältnis entstehen müssen, dass die Regierung sich auf das Volk und das Volk auf die Regierung stützte, wenn beide die wehrlose Minderheit unterjochten? Förmlich organisch hat sich durch den ganzen Volkskörper eine Anschauung über die Juden durchgesetzt, gesättigt von Brutalität, aber auch von Macht, die im täglichen Leben sich in tausend kleinen und großen Dingen äußerte und allmählich zu einer sozusagen allrussischen, alle Schichten des Volkes umfassenden Gewohnheit wurde.

Aus drei anderen Quellen schöpfte dann dieser konstante Judenhass immer neue Nahrung:


Erstens aus der Tatsache, dass die primäre Ursache, das andersartige Element der Juden, wie bereits erwähnt, nicht nur nicht beseitigt, sondern mit allen Zwangsmitteln erhalten wurde und sich dann aus sich selbst erhielt.

Zweitens aus jenen Reibungen, die das ökonomische Getriebe verursachte.

Drittens aus sozialen Reibungen, an denen das noch in primitiver Entwickelung begriffene Gesellschaftsleben Russlands reich ist.

Über den ersten Punkt ist hier nicht viel mehr zu sagen, als bereits gesagt wurde.

Wohl aber muss man noch einiges darüber sprechen, wie die russische Judenfrage sich dadurch zur tragischen Höhe erhebt, dass sozusagen auf dem Rücken der Juden die ökonomischen und sozialen Kämpfer ihre ersten Treffen liefern.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Judenmassacres in Kischinew (1903)