Die vierte Lösung

Nun wollen wir sehen, welche Erleichterung die letzte und am meisten volkstümliche Lösung für die langjährigen Leiden der Juden bieten könnte.

Die jüdisch-nationale Bewegung ist innerhalb der letzten Jahre so angewachsen, dass sie zu ihren Fürsprechern und Anhängern Juden der verschiedensten Anschauungen zählt. Von den äußersten Orthodoxen des rechten Flügels bis zu den freisinnigen und sozialistischen Juden der Linken hat diese Bewegung selbst im Lager der Reformjuden bemerkenswerte Streifzüge gehalten. Die älteren Rabbinen und Führer des Reformkultus sind der Lehre der Gründer der Reform treu geblieben und halten hartnäckig die Meinung aufrecht, dass der Name Jude nur ein religiöses Bekenntnis bezeichne und nicht im geringsten ein besonderes Volk oder eine Nation darstelle. Aber jetzt erfahren sie die Demütigung, dass der Boden unter ihren Füßen zu wanken beginnt, denn viele der jüngeren Rabbinen verwerfen kühn die vornehmsten Traditionen der jüdischen Reform und folgen der Fahne des jüdischen Nationalismus.


Die verschiedenen Parteien, in die die nationalgesinnten Juden zerfallen, sind, obgleich ihre Meinungen über das endlich zu erreichende Ziel und die Methoden mehr oder weniger auseinandergehen, doch alle darin einig, dass die Juden, obgleich sie kein eigenes Land besitzen, doch in jeder Hinsicht ein Volk sind; dass ihre besondere, von anderen Völkern abweichende, Stellung nur mit ihrer Heimatlosigkeit zusammenhängt; und dass der Jude infolgedessen danach streben muss, sich seinen eignen nationalen Mittelpunkt zu schaffen.

Nach der Ansicht der Zionisten kann dieses Land nur Palästina, das ehrwürdige Land der Tradition sein; die Territorialisten hingegen würden jedes andre Land auch gelten lassen, wo sich der Jude eines unabhängigen Daseins erfreuen könnte.

Die Nationaljuden beweisen wie folgt: Älter als irgend ein Kulturvolk, haben sich die Juden mit ihrer besonderen Bildung den Völkern, unter denen sie leben, ebenbürtig, wenn nicht überlegen gezeigt; die Juden haben sich während so vieler Jahrhunderte eines heimatlosen Daseins als lebenskräftig erwiesen und das noch dazu unter den schwierigsten Bedingungen, die schon längst die stärkste Rasse vernichtet hätten. Wenn die Juden bis jetzt noch nicht unter den Völkern untergegangen sind, so ist es wohl kaum anzunehmen und zu wünschen, dass es nun noch geschähe. Die etwaigen Fehler des Juden sind das bloße Ergebnis der unnatürlichen, ihn einengenden Bedingungen, unter denen er sein kümmerliches Dasein in der Verbannung gefristet hat, seitdem ihm seine Heimat am Jordanstrand verloren gegangen ist. „In seinem eignen Land wird Israel wieder neue Kraft bekommen und aufblühen wie die Rose von Saron."

Wir können dieser bedeutenden Bewegung unsre innige Anteilnahme nicht versagen. Wir freuen uns über die untrüglichen Zeichen einer Verjüngung des Heiligen Landes. Es scheint wirklich, als ob das Volk wie das Land gegenseitige Vorbereitungen zur Wiedervereinigung träfen; vielleicht erleben wir in dieser Zeit der gewaltigen Vorgänge noch größere Dinge und einen allgemeinen großen Fortschritt großen Zielen zu*).

*) Das Obige ist vor drei Jahren geschrieben. Hoffen wir, dass die erfreulichen Nachrichten von der neugewonnenen Freiheit in der Türkei nur den Anfang der schnellen Erfüllung unserer sehnlichsten Erwartungen bedeuten möchten.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Judenfrage und der Schlüssel zu ihrer Lösung