Eingehende Betrachtung der vierten Lösung

Wenn man die nationale Beweisführung zerlegt, so ergeben sich folgende Punkte:

1. Die Juden sind im vollen Sinne des Wortes ein Volk mit Ausnahme dessen, dass sie kein Land besitzen.


2. Alle Unruhe sowie auch die Schwächen der Juden liegen an ihrem unnatürlichen Dasein in der Fremde, ihrem „Goluth"-Leben, in den Ländern der Verbannung.

3. Der Jude war mit einer hervorragenden Eigenschaft ausgestattet, die ihn instand setzte, allen Stürmen, die seine Existenz zu vernichten drohten, zu trotzen, und ihn während fast vier Jahrtausenden als ein von andern Völkern sich scharf unterscheidendes Volk bewahrt hat. Da er nun solange sich selbst behauptet und sich mit den Völkern der Erde nicht vermengt hat, so ist es weder möglich noch wünschenswert, dass es jetzt oder in der Zukunft zu einer Assimilation kommen sollte.

4. Damit all den Übeln abgeholfen werde, an denen der Jude durch seine heimatlose Existenz leidet, und damit er unbehelligt sich national weiter entwickeln könne, muss er ein eignes Heim haben. Und nach der Gewinnung einer Heimat streben eben die Nationaljuden.

Betrachten wir nacheinander diese vier Punkte.

1. Sind die Juden ein Volk oder bloß ein religiöses Bekenntnis?

Ein jeder, der ehrlich und konsequent sein will, muss zugeben, dass die Juden gerade so wie vor zweitausend Jahren auch heute noch ein von anderen Völkern scharf unterschiedenes Volk sind. Die Behauptung der Wortführer der jüdischen Reformpartei, dass der Jude nichts als ein besonderes religiöses Bekenntnis darstelle und sich sonst durchaus nicht von seinen christlichen Nachbarn unterscheide, ist längst verworfen worden.

Die Juden haben allezeit ihre besondere kleine Welt gehabt. Die Unterschiede unter ihren mannigfachen religiösen Parteien sind so groß wie sie nur bei den weitauseinandergehendsten christlichen Bekenntnissen gefunden werden können. Zum Beispiel sind die Unterschiede zwischen dem orthodoxen und dem sogenannten Reformjuden nicht weniger groß, als die, welche den römischen Katholiken von dem Unitarier trennen.

Zur Zeit Christi gab es die Pharisäer und die Sadducäer und andere kleinere religiöse Gemeinschaften. In der Gegenwart finden wir strenggläubige Juden, die sich ihrerseits auch wieder in zwei feindliche Lager spalten — die Chassidim*) und Mithnagdim**); weiter gibt es Reformjuden, moderne Juden, freidenkende Juden, sozialistische Juden und außerdem noch eine beträchtliche Zahl, die sich zu keiner bestimmten Partei rechnen.

Stellen wir uns einmal einen jüdischen Mittelpunkt wie New York vor, der uns im kleinen ein vollständiges Bild von dem in alle Länder zerstreuten Volk geben kann. Groß sind hier allerdings die Unterschiede, die die große Judenschaft zerklüften, aber dennoch sind alle diese Verschiedenheiten wie nichts dem gegenüber, was die Juden von ihrer christlichen Umgebung trennt; wie stark ist doch das Band, das all diese verschiedenartigen Elemente zu einem einzigen jüdischen Gemeinwesen verbindet!

In friedlichen, ruhigen Zeiten mag dieses Band recht locker scheinen, so dass man es kaum bemerkt. Aber sobald irgendwo Not über Israel hereinbricht, wie gerät da gleich das jüdische Herz in Wallung! Das jüdische Herz, in welcher Brust es auch schlagen mag — ob orthodox, reformjüdisch oder sozialistisch — es ist eben doch das jüdische Herz, das tief die Verwundung spürt, die irgendwo den großen jüdischen Körper getroffen hat.

*) Chassidim: Pietisten, Anhänger der mystischen Lehre Israels Baalschem, des „Mannes des Guten Namens" und anderer, die den Zohar und die Kabbala als eine dem Talmud überlegene Autorität anerkennen.
**) Mithnagdim: Gegner, Protestanten, die, welche die Lehre, dass es eine höhere Autorität als den Talmud geben sollte, bekämpfen.


„Siehe, das Volk wird besonders wohnen, und nicht unter die Heiden gerechnet werden." (4. Mose 23, 9). Dieses Wort ist heute so wahr nach nun viertausend Jahren als damals, als Israel seine Zelte in der Wüste Sinai aufschlug.

2. Ist das „Goluth-Leben" des Juden die einzige Ursache seines Elends und seiner Fehler?

Niemand wird behaupten können, dass ein Leben als Fremdlinge und heimatlose Pilger während zweier Jahrtausende angetan sei, um dem Juden vorwärts zu helfen und seine besten Eigenschaften zu entfalten. Immerhin wäre es doch unrichtig, alle Unruhen und Unvollkommenheiten dem Exil zuzuschreiben, denn dies wäre auch nicht im Einklang mit den geschichtlichen Tatsachen. Auch in dem kleinen Palästina, das Israel mehrere hundert Jahre bewohnte , waren Prüfungen und mancherlei Drangsal, Unterjochung und Druck von fremden Gewalttätern sehr an der Tagesordnung.

Es dauerte nie lange, dass nach Sonnenschein wieder Trübsalsstürme durchs Land brausten. Vielleicht die einzigen Jahre in der ganzen Geschichte Palästinas, wo die Juden sich wirklich einer völligen nationalen Existenz erfreuen konnten, sind die Jahre der Regierung Salomos vor dem babylonischen Exil gewesen und dann die Regierung Jochanan Hyrkans des Hasmonäers nach dem Exil. Dies ergibt zusammen nur siebzig Jahre.

Doch selbst diese herrlichsten Zeiten der jüdischen Geschichte sind nicht unter einem völlig wolkenlosen Himmel dahingegangen. Des Volkes bittere Klage gegen Salomos Nachfolger: „Dein Vater hat unser Joch zu hart gemacht, so mache du nun den harten Dienst und das schwere Joch leichter, das er uns auferlegt hat." (1. Kön. 12, 4) zeigt uns, dass das Volk doch nicht in vollem Maße zufrieden und glücklich war. Die Regierung Jochanan Hyrkans war so vollständig mit auswärtigen Kriegen in Anspruch genommen, dass gar keine Zeit übrig geblieben wäre, irgend welche Wohltat zu genießen.

Und auf eine jede dieser beiden glücklichsten Regierungen, die die jüdische Geschichte zu verzeichnen hat, folgte eine trübe, schwere Zeit. Nach dem Tode Salomos wie Hyrkans kam es zu Spaltungen, und das Land wurde ein Raub unaufhörlicher Zwietracht. Das verhängnisvolle Ende blieb nicht aus, noch heute leidet der Jude unter seinen Folgen.

Die Judenhetzen und den Antisemitismus gewahren wir schon vor dem Exil; es sind dies keineswegs Dinge, die nur den christlichen Ländern eigen sind. Während die Israeliten noch ihr eignes Land inne hatten, hatten sie unter Assyrien und Syrien zu leiden; Babylonien und Rom zogen aus, um sie zu unterdrücken. Pharao, Amalek, Balak, Haman, Antiochus, Titus und viele andere Namen mehr, leben weiter im jüdischen Gedächtnis, und alle diese alten Gegner Israels hatten nichts mit christlichen Vorurteilen zu tun und ebensowenig war es der „Goluth-Jude", der sich unter ihren boshaften Hieben krümmte*).

3. Liegt es also an des Juden eignen Anstrengungen, dass er sich nicht assimiliert hat und noch heute lebt?

Wir möchten keinen Augenblick leugnen, dass der Jude eine starke Individualität und große Fälligkeiten besitzt; aber der Grund, dass er nicht in den Völkern untergegangen ist, und trotz aller widerwärtiger Bedingungen sein Leben durch die Jahrhunderte hindurch behauptet hat, ist nicht allein in seinem Verdienst und in seiner Energie zu suchen.

Immer stoßen wir in der jüdischen Geschichte wieder auf die Tatsache, dass wenn es den Juden einmal eine Zeitlang gut gegangen ist, sei es daheim oder im fremden Lande, sie sich selbst in ihrem Glück vergaßen und ihren Nachbarn in die Hände gerieten.

Wenn jene Arme sich ihnen in Liebe geöffnet hätten, und wenn nichts immer wieder den erlöschenden Eifer angefacht hätte, so wäre wohl heute nicht viel von den Juden übrig geblieben und im 20. Jahrhundert gäbe es keine Judenfrage.

„Da Jeschurum aber fett und satt ward, ward er geil . . . und hat den Gott fahren lassen, der ihn gemacht hat. Er hat den Fels seines Heils gering geachtet." (5. Mose 32, 15).

Sie vergaßen ihre eigne Kultur sehr schnell und bemühten sich, die Gebräuche der anderen Völker nachzuahmen.

*) Die klassische Literatur der Griechen und Römer hat eine Menge Ausdrücke des Hasses und der Verachtung gegen die Juden. Manche Schimpfworte der modernen Antisemiten sind nur gleichsam Wiederholungen jener alten Schmähschriften. Josephus musste eine Abhandlung gegen die Beschuldigungen des Apion schreiben, der wiederholte, was Manetho, Lysimachus und andre gegen die Juden geschrieben hatten mit noch lügenhafteren Aussagen seiner eignen Feder. Die Verleumdungen des Apion fanden ihren Weg zu Tacitus und anderen Schriftstellern. In Ciceros Reden sind ausfällige Bemerkungen gegen die Juden; Spott und Verachtung in den Werken des Horaz und Juvenal, und boshafte Angriffe in Ovid und Seneca.

„Sie mengten sich unter die Heiden und lernten derselben Werke." (Ps. 106, 35). Dies galt von Israel in seiner Blütezeit.

Die schärfsten Pfeile der prophetischen Drohungen sind gegen die Bosheit und soziale Ungerechtigkeit, sowie auch gegen die Bestrebungen, sich anderen Völkern anzupassen, gerichtet. Hesekiels furchtbare Anklage beweist solches zur Genüge (Kap. 16). Israel wird von dem Propheten als ein leichtsinniges Mädchen dargestellt, das sich einem jeden der es umgebenden Nachbarn in die Arme wirft, damit es von den anderen Völkern Sitten lerne.

Der kurze Zeitraum von siebzig Jahren in der babylonischen Gefangenschaft war lang genug für die Juden, um ihre herrliche hebräische Sprache zu verlernen und die aramäische Mundart des Landes anzunehmen und sich mit den Heiden ringsum zu vermengen. (Nehem. 13, 23— 25)^

Als der mazedonische Eroberer Alexander Griechenland zur Herrin des Ostens und Trägerin ihrer Kultur und Sprache eingesetzt hatte, da zögerten die Juden, die sich damals zum zweiten Male als Nation in ihrem Heimatlande niedergelassen hatten, nicht lange, sondern gaben sich den Einwirkungen des griechischen Geistes hin und nahmen sowohl die Sprache wie die Sitten der Griechen an. Ihre eigene religiöse Bildung aber gaben sie preis.

Von der zweiten Gefangenschaft ab tritt diese Tendenz wieder und wieder hervor, und heutigen Tages beobachten wir dasselbe.

*) Die Sprache der Väter war den in der Gefangenschaft geborenen Juden 80 fremd geworden, dass wenn das Buch des Gesetzes vor der verhältnismäßig geringen Zahl patriotischer Juden, die mit Esra und Nehemia heimgekehrt waren, verlesen wurde, es erst ein Dolmetscher in das Babylonische übersetzen musste. (Nehem. 8, 7 — 8.) So entstanden die aramäischen Übersetzungen der Bibel, die sogenannten Targumim.
Während mehr als tausend Jahre nach der Rückkehr aus Babylonien war die jüdische Landessprache eine mit Hebräisch untermischte aramäische Mundart. In dieser Sprache sind die rabbinischen Schriften verfasst.
Das sogenannte Jüdisch-Deutsch oder Jargon (Yiddisch), die jüdische Umgangssprache unsrer Tage, ist ein deutscher, mit hebräischen Worten gemischter Dialekt, der vor einigen hundert Jahren in einer Assimilationsperiode in Deutschland angenommen und seitdem gesprochen wurde.
Die verhältnismäßig kleine Anzahl sephardischer Juden, die die Nachkommen der unter Ferdinand und Isabella aus Spanien vertriebenen Juden sind, sprechen noch unter sich eine spanische mit Hebräischem untermischte Mundart.


Wo immer die Juden eine mit den übrigen Bewohnern eines Landes gleichberechtigte Stellung eingenommen haben, da sind sie gern bereit, ihre Abstammung zu vergessen, ihre Besonderheiten fahren zu lassen und alles zu tun, um in dem fremden Volkstum aufzugehen.

Indes ist immer etwas geschehen, was ihre Assimilationsabsichten vereitelt hat. Gewöhnlich war es Unduldsamkeit oder Verfolgung in irgend einer Form, die sie wieder in ihre eignen Zelte zurückgetrieben hat.

Die häufigen Angriffe der Nachbarvölker und die mächtigen Stimmen der Propheten hatten die Juden während ihrer ersten Existenz als Volk vor dem Aufgehen in anderen Nationen bewahrt.

In ihrer zweiten Periode dann, als sie in der Friedenszeit, die den Eroberungen des großen Mazedoniers folgten, in Gefahr standen, den hellenistischen Einflüssen zu erliegen, da waren es die Grausamkeiten eines Antiochus, die den schlummernden Patriotismus der Juden von neuem entfachten und die Makkabäer zu ihren Heldentaten begeisterten.

Das römische Reich hat den Assimilationstrieb der Juden in keiner Weise unterstützt. Dank der Gewaltherrschaft und dem hochfahrenden Benehmen, mit dem Rom seinen jüdischen Untertanen gegenübertrat, stärkte sich der Patriotismus unter dem fremden Regiment.

Als die Sonne der Gunst den Juden Spaniens schien und unter ihren warmen, wohltuenden Strahlen schon die Früchte der Assimilation zu reifen anfingen, da kamen die entsetzlichen Grausamkeiten und die Scheiterhaufen der Autodafés zur rechten Zeit und retteten dem Juden das Leben.

Demütigende Gesetze und grausame Behandlung, wie das Einsperren in Ghettomauern, bewahrten den Juden als solchen im mittleren Europa.

Als die deutschen Juden im vorigen Jahrhundert unter günstigeren Bedingungen den Weg der Assimilation betraten — denn dies war eben eigentlich das Ziel der Reformbewegung — da zügelte der Antisemitismus ihre stolzen Pläne. Den rastlosen Bemühungen der Antisemiten, die so gern den lästigen, immer vorhandenen Juden los sein möchten, danken wir’s, dass es in Deutschland und den anderen freisinnigen Staaten Europas noch Juden gibt.

Selbst in Russland, wo infolge der beständigen Verfolgungen der Geist des jüdischen Nationalismus das jüdische Lager beherrscht, ist es noch gar nicht so lange her, dass unter der kurzen freisinnigen Regierungszeit Alexanders II. Tausende von Juden in dem Assimilationsstrome verlorengegangen sind.

Die letzten furchtbaren Ereignisse in Russland, die eine große Auswanderung hervorriefen, haben ihre heilsame Wirkung nicht nur darin gezeigt, dass sie den nationalen Sinn des Ghettojuden gestärkt haben, sondern auch darin, dass sie die glücklicher zugreifenden Reformjuden Deutschlands und Amerikas aufgerüttelt und sie ihrem Volke näher gebracht haben. So war der Assimilationsstrom, auf dem diese Juden dahintrieben, eine Zeitlang eingedämmt.

Wir haben aus dem Vorhergehenden gesehen, dass die natürliche Tendenz der Juden eine assimilationsfreundliche ist; nur äußere Kräfte haben den Juden in seiner Eigenschaft als Juden durch die Jahrhunderte erhalten.

So einfach und augenfällig dies jedem, der nur ein wenig mit dem Judentum und seiner Geschichte vertraut ist, sein muss, so ist es doch weder dem Juden noch seinem Gegner gelungen, dieses einzusehen.

Ein Verständnis für diese wichtige Tatsache würde den Antisemiten manche Irrtümer erspart haben. Sie würden erkannt haben, dass der beste Weg zur Vernichtung des Juden nicht der der Demütigung und Aufreizung ist, denn dadurch wird der Jude immer wieder auf sich selbst und seine Selbstbehauptung zurückgewiesen. Ein besserer Weg, den man den Antisemiten vorschlagen sollte, wäre der Versuch, den Juden mit Freundlichkeit und Achtung zu begegnen. Das Schicksal Hamans und seine verunglückte Staats Weisheit sollte dem Antisemiten unserer Tage als warnendes Beispiel dienen. Der Versuch, den Juden umzubringen, wird stets misslingen; ganz davon abgesehen, dass dem, der solchen Versuch machen möchte, die Sache gewöhnlich zu kostspielig ist.

Wenn der Jude sich diese Tatsache stets vorgehalten hätte, dann würde er zunächst einmal recht eingehend darüber nachgedacht haben, welches wohl die Kräfte sind, die ihn beständig vor dem ihm angeborenen Trieb bewahrt haben. Wenn nach so vielen Jahrhunderten der Trübsal der Jude heute noch vorhanden ist und das nicht durch seine eigne Wahl noch Anstrengung, und wenn er in seinen Ohren noch die schreckliche Frage nachklingen hört: „Was soll mit ihm geschehen?", dann mag ihm vielleicht doch einmal die Frage kommen: „ Wozu, zu welchem Zweck ist dies alles? Was wird das Ende von dem allen sein?"

Von den verschiedenen Parteien wird der Jude hin- und hergerissen, und eine jede möchte gern das im Sturm treibende Fahrzeug lenken, aber keine kümmert sich um die eigentliche Seekarte, um das dem Juden eigene Gesetz. Wenn der Jude die Ursache seines langen Lebens verstanden hätte, dann würde er sich erinnern, dass er eine Seekarte im Sturm der Geschichte besitzt. Er würde wissen, dass diese Karte ihm klar den Lauf seines Geschickes vorzeichnet und ihn auf die Riffe und Sandbänke aufmerksam macht, die seinen Weg hemmen. Die Seekarte würde den Juden instand setzen, ungefährdet durch den einzigen sicheren Kanal zu steuern und bald den ersehnten Ruhehafen zu erreichen.

Es ist gewiss ein furchtbarer Gedanke und ein Gedanke, der sehr wenig zu einigen modernen Auffassungen von Religion passt, dass alle jene schrecklichen Kräfte, die den Juden bewahrt haben, in den Nationen der Erde unterzugehen, nur die Boten von Gottes Gerechtigkeit gewesen sind, um das eigenwillige Israel zur Buße zu führen. Doch so verkündete es der Prophet Hesekiel nahezu vor fünfundzwanzig Jahrhunderten und die historischen Ereignisse haben nur dasselbe seither bewiesen:

„Dazu, was ihr gedenkt: Wir wollen tun wie die Heiden und wie andre Leute in den Ländern . . . das soll euch fehlen. So wahr ich lebe, spricht der Herr, Herr, ich will über euch herrschen mit starker Hand und ausgestrecktem Arm und mit ausgeschüttetem Grimm." (Hesekiel 20, 32 — 33).

Wenn Assyrien (Assur) „Gottes Zornes Rute" und seines Grimmes Stecken genannt wird (Jes. 10, 5), warum nennen wir Spanien und Russland nicht mit demselben Rechte so? Wenn Nebukadnezar Gottes Knecht genannt wird, der seine Gerichte vollführt (Jerem. 25, 9 und 48, 10), warum sind dann nicht auch die Antisemiten Deutschlands oder die Pöbelhaufen Russlands solche Gerichts Vollstrecker?

4. Werden die Bemühungen der Nationaljuden den Leiden steuern, unter denen die Juden leiden?

Es sei ferne von uns, die lobenswerten und begeisternden Bestrebungen entmutigen zu wollen, die im Juden ein Bewusstsein seiner großen Vergangenheit wecken wollen und ihm zu einem besseren Dasein in der Zukunft verhelfen möchten. Keiner, der sein Volk lieb hat, wird das Große, was auf dem Felde zionistischer Wirksamkeit schon geschehen ist, irgendwie herabsetzen wollen, die praktischen Bestrebungen, Palästina zu kolonisieren, die einen gedeihlichen Fortgang nehmen, erfreuen unser jüdisches Herz.

Dürfen wir jedoch erwarten, dass die Bestrebungen, den Juden ein eignes Land oder einen nationalen Mittelpunkt zu verschaffen, alle Übel, unter denen sie solange gelitten haben, beseitigen werden?

Selbst der hoffnungsfreudigste Nationaljude glaubt nicht mehr, dass es jetzt oder in späterer Zeit möglich sein wird, alle Juden der Welt in einem einzigen Lande unterzubringen, selbst nicht einmal die, für die die Auswanderungsfrage eine persönlich dringende ist. Wenn wir selbst ein Land bekommen könnten, wo sich zehn oder zwölf Millionen Menschen niederlassen könnten (was aber eine ausgeschlossene Sache ist), so steht immer noch die Frage offen, wie dann die über die ganze Erde zerstreuten Millionen sich in einem gemeinsamen Lande zusammenfinden sollten, denn die fehlenden Reisekosten allein würden sich der Mehrheit als Hindernis in den Weg stellen.

Schon zwei Millionen Juden würden Palästina überfluten; und selbst im weiten Afrika wäre kaum ein Gebiet zu finden, das mehr als zwei Millionen Juden aufnehmen könnte.

Nehmen wir einmal an, Palästina sei jetzt unser; der Türke hätte den langersehnten Freibrief bewilligt, und zwei Millionen Juden hätten sich unter dem denkbar freisinnigsten Regiment dort niedergelassen. Könnte aber diese Tatsache auch zugleich das Problem der anderen zehn Millionen Juden lösen, die noch unter den Völkern zerstreut leben? Oder genießen die zwei Millionen Juden, die unter einem unabhängigen Regiment in Palästina leben, größere Freiheit und mehr Vorteile und Sicherheit als die gleiche Zahl Juden, die in den Vereinigten Staaten lebt?

Wie kann der Zionist erwarten, dass sich die Juden frei von jeder Einmischung von selten der christlichen Völker in Palästina werden behaupten können? Ist doch gerade Palästina, als die Wiege des Christentums, das Land, das eine Menge für den Christen heilige Stätten in sich birgt und als solches jährlich das Ziel großer Scharen von Pilgern ist. Stelle man sich einmal Jerusalem als die Hauptstadt eines wiederhergestellten jüdischen Staates vor! — dies Jerusalem mit seiner mächtigen muhamedanischen Moschee, die an Steile des Allerheiligsten des israelitischen Tempels errichtet ist, dies heutige Jerusalem mit all seinen griechisch- und römischkatholischen Kirchen, Domen und Klöstern. Würde ein solches Judäa, selbst wenn es völlige Unabhängigkeit erlangte, nicht fortwährend von Muhamedanern einerseits und Christen andererseits verwirrt werden?

Anstatt der Judenfrage eine Lösung zu bringen, würde nicht vielleicht die Tatsache, dass Palästina jüdisches Land würde, das Problem nur noch schwieriger und verwickelter gestalten?

Also, wenn der zionistische Traum sich erfüllen sollte und Palästina der nationale Mittelpunkt der Juden würde, so wäre damit sehr wenig für die Lösung der Judenfrage geschehen. Aber bis jetzt ist der Besitz Palästinas überhaupt nur ein Gedanke, der der Verwirklichung noch sehr fern steht. Der Türke ist einstweilen noch unumschränkter Herrscher im Heiligen Lande und hat nicht im entferntesten die Absicht, seinen Besitz preiszugeben; der Araber ist Eigentümer des Bodens. Die Zionisten selbst sehen jetzt ein, dass Herzls Politik, das Land durch Diplomatie zu gewinnen, falsch und unausführbar war. Jetzt hat man nun wieder den früheren, freilich langsamen Weg der Kolonisation eingeschlagen.

Wohl ist es wichtig, festzustellen, dass sich ein beträchtlicher Teil der Auswanderermaßen Russlands jetzt Palästina zuwendet, wo die Kolonisation aussichtsvoller als früher ist und dank der günstigeren staatlichen Bedingungen in größerem Maßstabe betrieben werden kann. Man kann sich sogar der Hoffnung hingeben, dass sich Palästina bald einer halben Million pekuniär unabhängig dastehender Juden wird rühmen können, die nicht wenig dazu beitragen werden, das alte Kulturland in ein modernes umzugestalten.

Doch auch dann würde die Judenfrage noch ungelöst sein.

Was nun den Gedanken anbetrifft, sonst irgendwo ein unabhängiges Land für die Juden zu bekommen, da muss man wohl sagen, dass es bisher nur der Phantasie eines Zangwill gelungen ist, ein solches Land zu schauen. Auf der Landkarte möchte es schwer halten, eine unbewohnte Gegend ausfindig zu machen, die genügend groß und auch anziehend genug wäre, dass nur eine Million Juden sich dort niederlassen könnte und wollte. Wenn es also wirklich den Territorialisten gelingen sollte, irgendwo auf der Erde einige Tausend Juden zu kolonisieren, würde damit die Judenfrage gelöst sein?
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Judenfrage und der Schlüssel zu ihrer Lösung