Der eigentliche Streitpunkt zwischen Judentum und Christentum

Auf die Frage, was Christentum und Judentum eigentlich sei, wird uns der gebildete Durchschnittsjude antworten, dass Christentum die Religion Christi und der Apostel sei, während das Judentum die Religion sei, die sich auf Moses und die Propheten gründe. Das Christentum, würde er weiter sagen, habe das Gesetz abgeschafft und an dessen Stelle eine Religion gestellt, deren Mittelpunkt Jesus von Nazareth ist. Dieser Jesus von Nazareth, den das Christentum Christus oder Messias nenne, werde als der Sohn Gottes als die zweite Person der Dreieinigkeit verehrt. Aber die Juden seien dem Gesetz Mose treu geblieben und haben sich geweigert, einen Glauben anzunehmen, der im Gegensatz zu dem reinen Monotheismus Moses und der Propheten stehe.

Ein aufrichtiges Betrachten des Gegenstandes wird uns jedoch überzeugen, dass der eigentlich trennende Punkt zwischen Judentum und Christentum, oder zwischen Synagoge und Kirche, nicht in der Frage über die mosaische Gesetzgebung beruht, noch in den auseinandergehenden Lehren über den Messias, sondern vielmehr in der Frage, ob Jesus der verheißene Messias sei oder nicht. Wenn die Juden diese Frage im christlichen Sinne beantworteten, dann würden alle übrigen Schwierigkeiten sofort gelöst sein, und die Stellung der Juden sowohl dem Gesetze, als auch der Person Jesu gegenüber, würde kaum von der der Christen sich unterscheiden.


Obgleich der Jude in seinem Glaubensbekenntnis als seine feste Überzeugung ausspricht, dass die ganze Thora, so wie er sie jetzt besitzt (das heißt, sowohl die geschriebene als auch das sogenannte mündliche Gesetz oder die rabbinischen Überlieferungen) dem Moses gegeben sei und „dass diese Thora nicht geändert werden könne, noch werde jemals eine andre Thora (oder Heilsplan) durch den Schöpfer gegeben werden" (XIII Ikkerim 8, 9); — so drückt doch diese Behauptung keineswegs die Ansicht der alten angesehenen Rabbinen, noch den allgemeinen Glauben der Synagoge aus.

Die folgenden Anführungen aus Schriften der alten anerkannten Autoritäten der Synagoge werden uns zeigen, dass der Standpunkt, den die Synagoge in Bezug auf die mosaische Gesetzgebung während der messianischen Zeiten vertrat, kein anderer war, als der Standpunkt des Christentums. Beide, Kirche wie Synagoge, sind sich vollkommen darin einig, dass das Zeremonialgesetz nur für eine gewisse Zeit gegeben war und durch das höhere und bessere Gesetz des Messias abgelöst werden sollte.

R. Johannan sagt: „Alle Propheten haben nur bis zu den Tagen des Messias geweissagt" (Berach. 34b, Shabb. 63a, Sanhed. 99a)*).

*) „Denn alle Propheten und das Gesetz haben geweissagt bis auf Johannes" (Matth. 11, 13). „Das Gesetz und die Propheten weissagten bis auf Johannes; und von der Zeit wird das Reich Gottes durchs Evangelium gepredigt."

Die Stelle: „Ihr werdet mit Freuden Wasser schöpfen aus den Heilsbrunnen" (Jes. 12, 3) wird im Targum Jonathan folgendermaßen erklärt: „Ihr werdet erhalten eine neue Lehre mit Freuden von dem Auserwählten unter den Gerechten (dem Messias).**

„In der kommenden Zeit wird Gott erklären eine neue Thora, welche er wird geben durch den Messias** (Jalkut, Jes. 26, 296).

„Die ganze Thora, die einer lernt, ist wie gar nichts im Vergleich mit der Thora des Messias** (Eccles. Rab. 2, 1)*)

Zu den Worten „Von mir wird ein Gesetz ausgehen** (Jes. 51, 4) bemerkt ein Rabbine „Gott sagt, eine neue Thora wird von mir ausgehen, das heißt eine Erneuerung von der Thora wird von mir ausgehen". Ein andrer Rabbine fügt hinzu: „In der kommenden Zeit wird Gott eine Mahlzeit für seine Diener bereiten, und ein jeder, der kein unreines Tier in dieser Welt gegessen hat, wird solche Nahrung in der zukünftigen Welt genießen dürfen". (Lev. Rab. 13, 3)**).

Zu der Stelle „Der Herr löset die Gefangenen" (Ps. 146, 7) bemerkt der Midrasch, dass in der zukünftigen Zeit Gott wird lösen (erlauben), was vordem gebunden war (verboten), dass die Speise- und Reinigungsgesetze nicht länger Geltung haben sollen. (Midrasch Tehil. 146)***).

„In der kommenden Zeit sollen alle Feste abgeschafft werden" (Midrasch über Sprüche Sal. 9)****. Rabbi Joseph sagte: „In der zukünftigen Zeit werden alle Zermonialgesetze abgeschafft werden" (Niddah 61 b)*****.

*) Dieser Midrasch bezieht sich auf den Text: „Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben" (Jerem. 31, 33; siehe Hebr. 8, 6—13).
**) Siehe Apost.-Gesch. 10, 9—16.
***) „Denn das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude in dem heiligen Geiste" (Rom. 14, 17). Aber die Speise fördert uns vor Gott nicht. Essen wir, so werden wir darum nicht besser sein; essen wir nicht, so werden wir darum nicht weniger sein" (1. Kor. 8, 8).
****) „So lasset nun niemand euch Gewissen machen über Speise oder über Trank oder über bestimmten Feiertagen oder Neumonden oder Sabbathen; welches ist der Schatten von dem, das zukünftig war" (Koloss. 2, 16 — 17).
*****) „Denn Christus (der Messias) ist des Gesetzes Ende (Ziel, Gegenstand)" (Rom. 10, 4) „Also ist das Gesetz unser Zuchtmeister gewesen auf Christum" (den Messias, Gal. 3, 24). „Denn das Gesetz des Geistes, das da lebendig machet in Christo Jesu, hat mich frei gemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes" (Rom. 8,2). „Wir wissen, dass der Mensch durch des Gesetzes-Werke nicht gerecht wird, sondern durch den Glauben an Jesum Christum" (den Messias, Gal. 2, 16).


Aus den wenigen Texten, die wir soeben angeführt haben, geht hervor, dass die Synagoge selber eine neue Thora aus den Händen des Messias erwartete, eine Thora, die der, die der Jude jetzt besitzt, weit überlegen sein wird; und dass das Zeremonialgesetz und die Speiseverordnungen abgeschafft werden sollen und nicht länger Geltung haben.

Auch die Lehren der Synagoge in Bezug auf das Wesen und die Person des erwarteten Messias sind gar nicht so verschieden von dem, was die Kirche von dem schon erschienenen Christus behauptet.

Die umfangreiche Literatur der alten Synagoge besitzt eine Fülle von Ausdrücken über den Messias, die sich zu den Behauptungen der Christen wie ein Traum zu seiner Erfüllung, wie die Hoffnung zu ihrer Verwirklichung verhalten.

Im Vergleich mit der klaren Darstellung des lebendigen Christus ist das Messiasbild, das die Synagoge entwirft, allerdings verschwommen und unbestimmt, bisweilen selbst sich widersprechend. Die hauptsächlichsten Züge sind jedoch sehr ähnlich, und man möchte sagen, es fehle nur der Strich eines Pinsels, um den langersehnten Messias zu dem Christus der Christenheit zu machen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Judenfrage und der Schlüssel zu ihrer Lösung