Des Juden siebenfacher Einwand auf den Anspruch des Christentums *)

Neunzehn Jahrhunderte hat der Jude geduldig all das Leid ertragen, das ihm ein hartes Schicksal auferlegte, ohne sich je zu fragen, ob er nicht vielleicht doch einen Irrtum begangen habe dadurch, dass er Jesus von Nazareth als Messias verworfen habe.

1. „Wie kann der Nazarener", so sucht der Jude zu beweisen*) „der Messias gewesen sein, da es ihm doch vollständig misslungen ist, das Werk der Erlösung Israels zu vollbringen"? Die Aufgabe des Messias, wie sie die Propheten angekündigt hatten, war Israel zu erlösen, und Israel ist alle diese vielen hundert Jahre noch in der Gefangenschaft.


2. „Seitdem die Juden durch die grausame Macht der Römer aus Palästina vertrieben wurden, war kein Land wüster und verlassener als dieses Land. War denn aber nicht verheißen, dass mit dem Kommen des Messias das Heilige Land von neuem von den Nachkommen Jakobs bevölkert werden sollte, die mit König David (dem Messias) an ihrer Spitze sich eines ungetrübten Glückes und Friedens erfreuen sollten?"

3. „Wo ist nun dieser allgemeine Frieden, den die alten Propheten für die messianischen Zeiten verheißen haben? Und die Schwerter zu Pflugscharen geworden und die Spieße zu Sicheln? Hebt kein Volk mehr das Schwert wider das andre auf, und haben die Völker aufgehört, die Kriegskunst zu üben? (Jes. 2, 4). Hat der Wolf gelernt, bei den Lämmern zu hegen, ohne sie zu verschlingen?" (Jes. 11, 6).

4. „Ist Gott von der ganzen Welt anerkannt wie die Propheten es für die Zeit des Messias verkündet haben?"

5. „Kann das Christentum die Wahrheit von Israels Messias besitzen, welches bei dem wenigen, das es vom Judentum angenommen hat, noch stark in heidnischen Anschauungen und Gebräuchen befangen ist? Glaubt es doch an eine Dreieinigkeit und verehrt Gott in drei Personen, oder drei Personen als Gott, was nicht viel anders klingt als eine Verehrung von drei Göttern; Israel hingegen bekennt täglich: „Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist ein einiger Herr." (5. Mose 6, 4).

*) Entnommen aus Isaak Trokis Chizzuk Emunah und anderen Schriften. (Siehe Jew. Enzyk., Art. Polemics).

6. „Kann das Christentum die Religion des wahren Messias sein, das doch das Gesetz abschaffte, den Sabbat nicht hält und die Kinder nicht beschneidet?"

7. „Kann die wahre Religion des jüdischen Messias ein Glaube sein, dessen Bekenner einen Juden zum Gott erhoben haben und dabei alle übrigen Juden verfolgen?"

Seinen Bekennern ist das Christentum der herrliche Baum, entsprungen aus jüdischer Wurzel, oder die reife Sommerfrucht der hebräischen Blüte; doch in den Augen des Juden ist das Christentum nichts als ein fremdes Reis auf seinem Baume. Die Religion Christi ist seither ein herrlicher Zedernbaum geworden, unter dem allerlei Vögel wohnen (Hesek. 17, 22—23), aber für den Juden sind dies fremde Vögel, und die jüdische Taube findet keine Stätte unter ihnen*).

Das Christentum, das in der Synagoge geboren und auferzogen worden ist, ist so vollständig von seiner Mutter verleugnet worden, dass die tiefste Kluft die beiden trennt. Der bloße Name „Jude" ist gleichbedeutend mit einem Gegner des Christentums, und wiederum schließt der Name „Christen" alle Völker der Erde in sich, mit Ausnahme der Juden. Sobald ein Jude sich deshalb zum Christentum bekennt, wird er von seinem Volke als ein Verräter und Abtrünniger gebrandmarkt und jede Gemeinschaft mit seinen jüdischen Volksgenossen ist ihm abgeschnitten.

Der Jude weigert sich, den Heiland der Christen als seinen verheißenen Messias anzuerkennen, weil es ihm nicht gelungen ist, die angekündigte Erlösung und Wiederherstellung Israels zustande zu bringen. Weil die verheißene messianische Zeit des Weltfriedens, der göttlichen Erkenntnis und eines ungestörten Glückes noch nicht eingetroffen ist, wartet der gläubige Jude immer noch auf das Kommen seines Messias!

Wegen der dem Juden merkwürdig erscheinenden Dogmen des Christentums spricht er dieser Religion jedes Recht ab, die wahre biblische Religion zu sein. Dogmen wie die Dreieinigkeit, die göttliche Natur Christi oder die Menschwerdung Gottes, betrachtet der Jude als etwas, was seiner mosaischen und prophetischen Religion völlig fremd ist und was im besten Falle als ein Zugeständnis an die noch vorhandenen heidnischen Neigungen der christlichen Welt angesehen werden könnte.

*) „Die Gemeinde Israels gleicht einer Taube, nach Psalm 68, 13. Gleich wie die Taube durch ihre Flügel gedeckt ist, also ist Israel durch die Gebote gedeckt." (Shabb. 130 a).

Eine Religion, die das Gesetz aufgehoben hat, behauptet der Jude, mag für die Völker gut genug sein, denen keine Thora gegeben wurde; sie kann jedoch niemals von der Gemeinde Jakobs angenommen werden, die das durch Moses ihnen befohlene Gesetz geerbt (5. Mose 33, 4) und den ausdrücklichen Befehl erhalten hatte, weder etwas dazu, noch davon zu tun. (5. Mose 4, 2).

Die schwerwiegendste Anklage, die aber die Juden gegen das Christentum vorbringen, ist das Verhalten seiner Bekenner gegen sie, die Juden. Nach dem Maßstabe, den der Gründer der christlichen Religion aufgestellt hat: „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“ (Matth. 7, 16, 20; 12, 33; Luk. 6, 44), kann das Christentum, dessen Anhänger sich so mancher blutigen Vergehen in der Geschichte der Juden schuldig gemacht haben, nimmermehr als die wahre Religion Jehovahs und seines Gesalbten angesehen werden. (s. S. 93 C).

Kraft dieses siebenfachen Einwands ist der Jude taub gegen die Verteidiger des Christentums und schleudert Flüche gegen die Glieder seines eigenen Volkes, welche den Weg der Wahrheit gefunden haben (Joh. 14, 6) und trotz des Spotts und der Verachtung ihrer jüdischen Brüder es wagen, wie Andreas einst, ihre Brüder zu suchen und ihnen zu verkünden : „Wir haben den Messias gefunden", dessen griechischer Name Christus ist. (Joh. 1, 41)i.

Auf den Vorwurf ungerechter Behandlung, den der Jude den Anhängern des Christentums zur Last legt, sind wir schon auf den vorhergehenden Seiten eingegangen. Wir haben bewiesen, dass die Judenhetzen schon in der vorchristlichen Zeit eine Rolle gespielt haben, und wir haben auch versucht, auf die Ursachen hinzuweisen. Das christliche Europa hat nicht allein seine Hand bei den Judenverfolgungen im Spiele gehabt, sondern auch das heidnische Griechenland und Rom, und das noch ältere Ägypten, Assyrien und Babylon. Im muhamedanischen Persien und in Marokko ist das Los des Juden kein besseres als im christlichen Russland.

*) Heines Charakteristik seines ehemaligen Freundes und Kameraden Eduard Gans, in Bezug auf seine Annahme des Christentums und sein Bestreben, andere zu gleichem Tun anzuregen, ist das allgemeine Verhalten des modernen Durchschnittsjuden gegen einen christlichen Missionar der jüdischen Rasse: „Wenn er es aus Überzeugung tut, dann ist er ein Narr, und wenn er es aus Heuchelei tut, dann ist er ein Schurke".

Die Juden haben mannigfache Verfolgungen in den christlichen Ländern ertragen müssen, nicht deshalb, weil die Bewohner dieser Länder Christen waren, sondern lediglich darum, weil sie nur ungenügende Christen waren. Ein Heidenchrist mag sich noch nicht vollkommen frei von dem Vorurteil gegen die Juden fühlen, dass er jedenfalls von seinen heidnischen Vorfahren überkommen hat. Aber kein echter Christ hat je den Juden, oder überhaupt irgend jemanden, verfolgt. Er kennt die Mahnung seines Meisters viel zu gut: „Selig sind die, die verfolgt werden" (Matth. 5, 10), um sich selbst auf die Seite der Verfolger zu schlagen.

Ein Nachfolger und Jünger dessen, der gekommen ist, um sein Volk zu retten (Matth. 1, 21), der gesagt hat, dass das Heil von den Juden kommt (Job. 4, 22), dessen Auftrag während seines Erdenwandels sich ausschließlich an die verlorenen Schafe aus dem Hause Israel richtete (Matth. 15, 24; 10, 6), dessen Herz beim Anblick der jüdischen Volksmenge, die ihm in die Wüste nachgefolgt war, von Mitleid bewegt wurde (Matth. 9, 36), der sich danach sehnte, die Kinder Jerusalems zu sammeln, so wie eine Henne ihre Küchlein unter ihre Flügel sammelt (Matth. 23, 37), der im Todeskampf am Kreuz betete: „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun" (Luk. 23, 34), — ein Nachfolger und Jünger dieses Jesus kann nie daran denken, den Juden zu verfolgen.

Der Christ, der zu den Füßen des Apostel Paulus sitzt und sein Seufzen und Bangen vernimmt, das beim Gedanken an das Schicksal seiner Brüder nach dem Fleisch durch seine Seele geht (Rom. 9, 2—3); der Christ weiter, der sich mit vereinigt im Gebet um die Rettung Israels (10, 1), der die gewisse Freudenbotschaft in sein Herz aufnimmt, dass Gott Sein Volk, welches er zuvor versehen hat, nicht verstoßen kann (11, 2), sondern dass, wenn die Fülle der Heiden eingegangen sein wird, auch Israel errettet werden soll (11, 25—26); — ein Christ, der so stellt, kann nie vergessen, dass des Apostels dringende Bitte an die Christen die war, dass durch die Barmherzigkeit, die diesen widerfahren ist, auch sie (die Juden) Barmherzigkeit überkomme. (11, 31).
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Judenfrage und der Schlüssel zu ihrer Lösung