Die Bedeutung der Karikatur

Die Karikaturen über Menschen und Dinge, denen wir bei jeder Rückschau auf Schritt und Tritt begegnen, stehen selbstverständlich niemals zusammenhanglos in der Geschichte. Sie sind niemals einfach bloß da, ohne dass ein zwingender Grund für ihre Existenz vorhanden wäre. Wie für das Entstehen eines Gewitters ganz bestimmte Spannungen und Widerstände in der Luft vorhanden sein müssen, so sind für das Entstehen einer jeden Karikatur ganz bestimmte gesellschaftliche Spannungen die Voraussetzung.

Karikaturen über eine bestimmte Person, über bestimmte Volksgruppen oder über irgendwelche Dinge und Erscheinungen sind stets provoziert worden von einem wenn auch nicht immer äußerlich sichtbaren, so doch stets stark empfundenen Widerspruch zwischen diesen Personen und Dingen und dem sozusagen landläufigen Allgemeinzustand der Gesellschaft.


Aus diesem Umstand resultiert auch der historische Wert, den ich der Karikatur als Wahrheitsquelle für die Vergangenheit beimesse. Man kann an einer Karikatur noch nach Jahrhunderten ablesen, welcher Art Spannungen und Widersprüche während der Zeit ihrer Entstehung in der Gesellschaft vorhanden waren. Aus dem größeren oder geringeren Grad der Heftigkeit und aus der Zahl der in einer Zeit oder einem Lande über bestimmte Personen, Zustände oder Ereignisse erschienenen Karikaturen kann man den Umfang und die Tiefe dieser Spannungen ermessen und entnehmen, wie stark jene Zeit von den in den betreffenden Karikaturen zum Ausdruck gekommenen Widersprüchen durchwühlt war. Man kann weiter aus den durch die einzelnen Karikaturisten angewandten satirischen Mitteln mit Leichtigkeit feststellen, welchen Rang der karikierte Zustand — Person oder Sache — in der öffentlichen Achtung oder Wertschätzung damals eingenommen hat; ob die karikierte Person oder das von ihr verkörperte Prinzip bewundert oder gefürchtet war, oder ob es ein Objekt der allgemeinen Verachtung war, das man gerade gut genug fand, um in ihm alle möglichen verächtlichen Laster zu brandmarken. Aus dem Charakter der einzelnen Karikaturen, ihrem geistigen Wesen, kann man mit derselben Leichtigkeit erkennen, ob zur Zeit der Entstehung Pressefreiheit herrschte, froher und fröhlicher Meinungsaustausch in

Übung war, oder ob das freie, offene Wort verpönt war und die Karikatur dem heimlichen Pfeil aus dem Hinterhalt glich, den man niemals wagen durfte, öffentlich abzuschnellen. Ebenso wichtige Aufschlüsse über die Zeit ihrer Entstehung gibt der jeweilige künstlerische Wert einer Karikatur oder einer ganzen Karikaturengruppe. Ob es eine Zeit blühender Volkskunst oder des allgemeinen kulturellen Niederganges war, ob stolze, schöpferische Kraft die Zeit und die Menschen erfüllte, oder ob sie zu geistiger Armut und zur Unfruchtbarkeit verdammt waren. An ihren Techniken — ob Holzschnitt, Radierung oder Kupferstich — erkennt man, in wessen Diensten der satirische Geist einer Zeit stand, für wen er seine satirischen Pfeile schärfte, ob für das Volk in seiner Gesamtheit, ob „für die Gasse“, oder nur für den Salon. Und so weiter.

Ist so die Karikatur durch diese verschiedenen Umstände eine zwar einseitige, aber gerade kraft ihrer Einseitigkeit wertvolle Wahrheitsquelle für die Vergangenheit — weil in der Übertreibung des Wesentlichen einer Erscheinung das Element der Karikatur besteht, tritt in der Karikatur dieses Wesentliche am sinnfälligsten in Erscheinung . — , so muss man andererseits zuerst die historische Situation entschleiern, aus der bestimmte Karikaturen vorübergehend und dauernd entstanden sind, oder noch entstehen, um zum richtigen Verständnis der einzelnen karikaturistischen Dokumente zu gelangen. Man muss die Stimmungen, die sich in den Karikaturen über gewisse Zustände oder Erscheinungen spiegeln, in ihrer gesellschaftlichen und in ihrer psychologischen Bedingtheit aufdecken, wenn man den Einzelwert wie den Gesamtwert der Karikatur einer Zeit, ihre sogenannte historische Rolle, richtig beurteilen will. Erst dadurch erlangt die zeitgenössische Satire in unserer Vorstellung ihren entscheidenden Inhalt und Eindruck, und erst dadurch bekommt das Große und Starke seine volle Bedeutung zugewiesen, dagegen das Nebensächliche den ihm gebührenden untergeordneten Rang. Diese Aufdeckung der gesellschaftlichen Spannungen und Widersprüche, die seit Jahrhunderten in fast allen europäischen Ländern anti-jüdische Karikaturen gezeugt haben und täglich von neuem zeugen, muss darum die Basis aller meiner Darlegungen sein. Selbstverständlich kann es sich hierbei nur um eine Darlegung in großen Zügen handeln, um eine Schilderung der nach meiner Meinung prinzipiellen und programmatischen Gesichtspunkte. Eine Geschichte des Judentums bei dieser Gelegenheit zu geben, ist vom Stoff nicht bedingt und ist auch nicht der Zweck dieser Arbeit, um so weniger, als mir hierzu die nötige wissenschaftliche Qualifikation fehlt. Für meine

Ausführungen über die geschichtliche Rolle der Juden muss ich mich deshalb vielfach auf solche wissenschaftliche Erkenntnisse stützen, die gewonnen worden sind, und ich muss mich damit begnügen, aus diesen Erkenntnissen auszuwählen, was sich mit meinen in anderer Richtung gewonnenen Überzeugungen deckt. Im allgemeinen mochte ich hier jedoch vorausschicken, dass es trotz der vielen tausend Bücher, die über die Juden geschrieben worden sind, das, was man eine den heutigen wissenschaftlichen Ansprüchen entsprechende Geschichte des Judentums nennen kann, überhaupt noch nicht gibt. Eine solche wird es freilich erst an dem Tage geben, an dem das in Frage kommende Grundproblem endgültig gelöst ist. Dieses Grundproblem lautet: Gibt es einen innerlich bedingten Widerspruch zwischen der geistigen Wesenheit des Judentums und derjenigen der in Europa vor dem Auftreten der Juden ansässigen Völker? Und wenn ja: worin besteht dieser Widerspruch? Wurde er zu einer Ergänzung für unser nordisches Wesen oder zum Gegenteil? Erst aus der erschöpfenden Beantwortung dieser Frage ermöglicht sich dem Geschichtsschreiber ein richtiges historisches Urteil, das heißt eine aufhellende Verwendung des ihm zu Gebote stehenden geschichtlichen Materials. Für die Lösung dieses Grundproblems gibt es meines Wissens bis jetzt nur einen einzigen größeren und bedeutsamen Beitrag, nämlich das Buch von Werner Sombart: „Die Juden und das Wirtschaftsleben“. Da mich die Studien, die ich zu meinen verschiedenen kulturgeschichtlichen Büchern gemacht habe, und auch die bereits vor zehn Jahren begonnenen Vorarbeiten zu diesem Buche zu einer Reihe von Urteilen geführt haben, die sich mit denen Sombarts decken, so gab mir sein Buch, als ich es vor einigen Jahren zu Gesicht bekam, zahlreiche ergänzende Anregungen. Ich habe diese im nächsten Kapitel mannigfach verwertet.

010. Die Durchstechung der Hostie durch die Juden zu Sternberg. 1492
011. Der Jude Josel von Rosheim vor dem goldenen Kalb als ,,Herold aller Jüdischkeit“ Satirisches Flugblatt auf die Schalkheit der Juden. Anfang 16. Jahrhundert
012. Titelholzschnitt der satirischen Schrift: ,,Der Juden Badstub.“ 1535
013. Titelholzschnitt der satirischen Schrift: ,,Der Judenspieß“. Straßburg 1541
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Juden in der Karikatur
010. Die Durchstechung der Hostie durch die Juden zu Sternberg. 1492

010. Die Durchstechung der Hostie durch die Juden zu Sternberg. 1492

011. Der Jude Josel von Rosheim vor dem goldenen Kalb als ,,Herold aller Jüdischkeit“

011. Der Jude Josel von Rosheim vor dem goldenen Kalb als ,,Herold aller Jüdischkeit“

012. Titelholzschnitt der satirischen Schrift: ,,Der Juden Badstub.“ 1535

012. Titelholzschnitt der satirischen Schrift: ,,Der Juden Badstub.“ 1535

013. Titelholzschnitt der satirischen Schrift: ,,Der Judenspieß“. Straßburg 1541

013. Titelholzschnitt der satirischen Schrift: ,,Der Judenspieß“. Straßburg 1541

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