Die Ostsee

In dem Verkehrsleben des letzten Jahrtausends nimmt die Ostsee ihre Stelle neben, nicht unter dem Mittelmeere ein. Sie gleicht ihm in der tief eindringenden Verzweigung seiner Glieder. Steht sie ihm in der Größe nach, im natürlichen Reichtum der anliegenden Länder, in der Gunst der klimatischen Verhältnisse, so sind ihr andererseits schwerwiegende Vorzüge beschieden. Mächtige Ströme ergießen sich in ihr Becken, lassen sie als den natürlichen Zugang zu zehntausenden von Quadratmeilen fruchtbaren Landes erscheinen; bewohnt sind diese Gebiete von Völkern, die zu den fleißigsten und betriebsamsten Europas zählen; was die Ostsee auf ihrem Rücken trug und trägt, sind Produkte, die wegen ihrer Massenhaftigkeit und Unentbehrlichkeit einen eben so reichen als sichern Gewinn abwerfen: Getreide, Holz, Metalle, Fische, Wachs. Nicht ganz mit Unrecht hat man gesagt, dass seit den Zeiten der Hanse Besitz des Ostseehandels und Seeherrschaft gleichbedeutend gewesen sei. Hansen, Holländer, Engländer haben nach einander die erste Rolle im Ostseehandel gespielt.

Schon aus früher Zeit haben wir Kunde von Verkehr auf dem baltischen Meere; seit dem Anfange unseres Jahrtausends, seit dem Vordringen der abendländischen Kultur an seine Gestade ist derselbe in stetem Wachsen begriffen. Über die Ostsee holte der Holmgardfahrer, durch Newa und Wolchow die Wolga erreichend, die kostbaren Waren des fernen Ostens: Gewürze, Perlen, leinene und seidene Gewänder, brachte dafür vor Allem sein Pelzwerk. Zahlreiche kufische Münzfunde in Schweden zeugen von diesem Verkehr. Über die Ostsee fuhr nach der Mündung der Düna der Waräger, diese hinauf, den Dnjepr hinabschiffend erreichte er das schwarze Meer und Konstantinopel, zugleich durch Kriegsdienst und Handel gewinnend. Weichselaufwärts, am Nordabhange der Karpathen entlang den Dnjestr hinab führte ein anderer schon von den Römern für ihren Bernsteinhandel benutzter Weg nach demselben Ziele. Römische und byzantinische Münzfunde längs der bezeichneten Straße und im südlichen Schweden beglaubigen auch hier die Nachrichten der Quellen. Auch dem Lauf der March und Oder folgend kam der Römer von der Adria und von Pannonien aus über die Ostsee in den skandinavischen Norden. Von der preußischen Küste wurde Bernstein in den inneren westlichen Winkel der Ostsee verschifft, ging von dort zu Lande über Elbe und Weser an den Rhein. Auch Völker des Westens finden wir in der Ostsee. Mögen auch von den 20.000 angelsächsischen Münzen des 9. und 10. Jahrhunderts, die man besonders im östlichen Schweden gefunden hat, die meisten durch nordische Wikinger ihren Weg dorthin gefunden haben, Wulfstans Fahrten beweisen doch, dass auch den Angelsachsen dies ferne Meer nicht unbekannt war. Man darf sich den Verkehr nicht allzu unbedeutend denken. Das wendische Jumne an der Odermündung schildert Adam von Bremen als eine große, herrliche Stadt, die größte des heidnischen Europa. Schleswig, der Ausgangspunkt des Ostseehandels von Westen her, galt einem arabischen Geographen als eine sehr große Stadt; es entsandte, wie Adam von Bremen erzählt, aus seinem Hafen Schiffe ins Slawenland, nach Schweden und Preußen und bis ins „Griechenland" (Russland), sah zahlreiche russische Schiffe unter seinen Mauern. Im Norden war Birka (Björkö im Mälar) wenigstens vom 9. bis 11. Jahrhundert ein von Dänen und Norwegern, Slawen und Preußen viel besuchter Hafen.*)


*) Vgl. Lassen Rasmussen, de Arabum Persarumque commorcio cum Russin et Scandinavia medio aevo, Anniv. Hafn. 1825; W. Wackernagel a. a. O. S. 585 Sadowsky , die Handelsstraßen der Griechen und Römer durch das Flussgebiet der Oder, Weichsel, Dnjepr und Njemen, übers. v. Cohn; Genthe, über den etruskischen Tauschhandel nach dem Norden S. 102 ; Langebek, Scr. rer. Dan II, 118 ff ; Ad. v. Br. II, 19 und dazu L. Giesebrecht, Wend. Gesch. 1. 37 ff.; vita Ansgarll c. 11, 26, 27, Mon. SS. II und Ad. v. Br. I, 63; vgl. wich Herodot IV, 83. Dass Birka die kleine Insel Björkö im Mälaraee, beweisen die überaus erfolgreichen Ausgrabungen, die unter Leitung des Dr. Stolpe dort in den letzten Jahren vorgenommen worden sind. Bei meiner Anwesenheit im Sommer 1877 waren circa 600 Gräber aufgegraben; die Insel hat deren über 2.000 aus der jüngeren Eisenzeit. Vgl. Stolpe, grafundersökningar pa Björkö in Tidskrift för Antropologi och Kulturhistoria, B. I.

Weitaus die bedeutendste Rolle aber in diesem Verkehr spielte die Insel Gotland. Den Grund zeigt ein Blick auf die Karte. Zu einer Zeit , wo die Seefahrer auf kurze Stationen angewiesen waren, ungern das feste Land auf längere Zeit aus den Augen verloren, musste Gotland, in der größten Erweiterung des Ostseebeckens mitten inne liegend, den Einfahrten in den finnischen und rigaischen Meerbusen, in Weichselmündung, frisches und Kurisches Haff gerade gegenüber, eine überaus günstige Lage haben. Kaum eine weitere Fahrt auf der Ostsee war möglich ohne die Insel zu berühren. In der heidnischen Zeit, in den ersten christlichen Jahrhunderten war sie der eigentliche Mittelpunkt des Ostseehandels, in dem die Kaufleute von Osten und Westen, „Leute von mancherlei Zungen" zusammen kamen, ihre Produkte gegen einander auszutauschen. Über Gotland ging die russische Fahrt, von Gotland aus geschah die vielbesprochene erste „Aufsegelung" Livlands *). Was uns schriftliche Überlieferungen berichten, wird bestätigt von den zuverlässigsten Zeugnissen anderer Art. Von den 5000 römischen Münzen, die man aus schwedischem Boden aufgegraben hat, sind allein auf Gotland 3400 gefunden worden, und das gleiche Verhältnis treffen wir wieder in den viel zahlreicheren und wertvolleren Funden byzantinischer und kufischer, angelsächsischer und deutscher Münzen.

*) Vgl. Höhlbaum , die Gründung der deutschen Kolonie an der Düna in d. Hans. Geschbl. 1872, S. 64.

Einen nicht minder triftigen Beweis für den alten Reicht h um. die frühe Entwicklung der Insel liefert die Menge ihrer alten stattlichen Kirchen. Während im ganzen übrigen Schweden die Kirchspiele sich durch ihre Größe auszeichnen (auch im mittleren Schweden umfassen manche viele Quadratmeilen), hat Gotland auf kaum 60 Quadratmeilen noch jetzt 91 benutzte Kirchen, je eine auf 600 Einwohner. Und wie viele liegen verfallen und unbenutzt! Mit wenigen Ausnahmen aber stammen diese Kirchen sämtlich aus den ersten christlichen Jahrhunderten, zeichnen sich zum großen Teil durch Größe, architektonische Schönheit und ornamentalen Schmuck aus, weit über die gewöhnliche Ausstattung von Dorfkirchen hinaus. Auch unter Voraussetzung eines weit lebhafteren kirchlichen Sinnes, als unsere Zeit ihn zu hegen pflegt, würde die arme, dünn gesäte Bevölkerung der Insel in ihrer jetzigen Lage nicht im Stande sein, so viele und so stattliche Gotteshäuser aufzurichten. Die gegenwärtige Verwahrlosung mancher derselben ist wohl ein hinreichender Beleg dafür *). Diese Bauten gehören einer besseren Zeit an; sie sind redende Zeugen von der Herrlichkeit vergangener Tage.

3) Die schöne Ruine von Roma-Kloster wird von ihrem gegenwärtigen Eigentümer, trotzdem er ein eifriger „läsare" ist, als Heumagazin benutzt. Das Vorhaus der Kirche von Lau, einer der größten und schönsten Gotlands, wird von der verarmten Gemeinde zur Aufbewahrung des elendesten Gerumpels, zur Vieh- und Ackerwirtschaft verwandt (Sommer 1877).

Eben diese Insel sollte nun auch für die Stellung der Deutschen in der Ostsee eine entscheidende Bedeutung gewinnen. Sehen wir ab von jenen frühen Zeiten, da die Deutschen selbst noch einen großen Teil der Ostseeküste bewohnten, so fehlt es uns auch für jene Periode, in der sie vollständig vom kritischen Meere verdrängt waren, nicht an Zeugnissen für ihre Teilnahme am Verkehr auf demselben. In Begleitung von Kaufleuten unternahm Ansgar, der Apostel des Nordens, seine erste Fahrt zu den heidnischen Schweden. Im slawischen Lubike wohnten schon unter dem Wendenfürsten Heinrich deutsche Kaufleute. Dass sich auch an dem von Schleswig ausgehenden Handel Deutsche beteiligten, scheint die Gilde der Schleswiker zu Soest zu beweisen. Liegt die Urkunde für das kleine westfälische Städtchen Medebach, die von einem Handel nach Dänemark und Russland redet, auch einige Jahre später als die Gründung Lübecks (1143 durch Graf Adolf II. von Schauenburg und Holstein), so können wir um so gewisser auf ein früheres Bestehen dieses Verkehrs schließen, als er sich gerade in einer so kleinen, nie besonders hervorragenden Stadt zeigt; auch die Art der Erwähnung führt zu dieser Annahme. Und auch hier wieder hat uns die Erde Zeugnisse bewahrt, die den vergänglichen Pergamenten mächtig zu Hilfe kommen. Unter allen in Schweden gefundenen fremden Münzen sind die deutschen weitaus die zahlreichsten, und sie zählen schon aus der Zeit von der Mitte des 10. bis zum Ende des 11. Jahrhunderts nach Zehntausenden; unter den Kaisermünzen dieser Zeit sind die Otto III. die häufigsten, unter den städtischen die des entlegenen Köln.

Und wieder ist es nun Gotland, das auch hier in den Vordergrund tritt. Nirgends fand man deutsche Münzen so häufig wie gerade auf dieser Insel; nirgends in der Ostsee finden wir das Auftreten der Deutschen urkundlich so früh beglaubigt wie hier. Schon Kaiser Lothar gewährt den übers Meer kommenden Goten ein Recht, das in wesentlichen Bestimmungen mit dem sächsischen übereinstimmt; die Deutschen sollen in Gotland desselben Rechtes gemessen. 1163 (1161 ?) *) schlichtet dann Herzog Heinrich der Löwe den zwischen Deutschen und Goten ausgebrochenen Streit durch Bestätigung jenes Vertrags, „der den Goten gewährten Friedens- und Rechtsbestimmungen". Der Herzog erscheint hier als Schiedsrichter, um Vermittlung angerufen von einem gotischen und einem deutschen Gesandten, Lichnatus und Odelricus. Der Letztere wird dann als Vogt zu seinen Landsleuten auf Gotland zurückgesandt. Mag Manches dunkel bleiben in dem gegenseitigen Verhältnis, so viel ist klar: die Deutschen nehmen eine einflussreiche Stellung auf der Insel ein; sie üben unter einem deutschen Vogt eine eigene Gerichtsbarkeit nach heimischem Recht; ihr Verhältnis zu den Goten ist durch einen Vertrag geregelt. Wir erfahren auch, woher sie kommen. Offenbar sind es vorzugsweise Angehörige des Herzogtums Sachsen, besonders Westfalen, die schon bei der Gründung Lübecks eine so hervorragende Rolle spielten. Von der unwirklichen Höhe des kahlen Asten herab ziehen noch heute die Winterberger mit ihren Waren hausierend durch viele Länder, ja übers Meer nach Amerika und Australien. Eigentümlich genug, dass ein kleines Städtchen eben dieser Gegend so frühe Zeugnisse aufzuweisen hat von einem in weiter Ferne getriebenen Verkehr, der mit dem heutigen Hausierhandel gewiss manche Ähnlichkeit hatte.

*) Sollte nicht 1161 zu datieren sein? Jahre des König- und Kaiserreichs sprechen dafür. Bischof Gerold starb schon im August 1163, Urkdb. d. Bist. Lübeck I, S. 4.

Ob nun schon damals ein Unterschied bestand zwischen den auf Gotland angesiedelten und den sich nur vorübergehend dort aufhaltenden Deutschen, kann zweifelhaft erscheinen *). In späterer Zeit ist eine solche Trennung deutlich erkennbar. Schon 1225 wird in der Benutzung der von den Händen deutscher Stifter erbauten Marienkirche in Wisby ein Unterschied gemacht zwischen deutschen Bürgern Wisbys und den kommenden und gehenden deutschen Gästen. Zwei Jahre später erteilt Papst Honorius III. den deutschen Bürgern Wisbys für Stadt und Hafen den erbetenen Schutz, weil sie die Bekehrung der Bewohner von Oesel und anderer Völkerschaften beabsichtigen. 1280 besiegeln dann Rat und Gemeinde von Wisby ihre Zustimmung zu der Verlegung des Stapels von Brügge nach Ardenburg mit doppeltem Siegel, dem der Deutschen (der Lilie) und der Goten (dem Lamm mit der Siegesfahne), und eine Urkunde des Jahres 1288 spricht von „Vögten und Ratmannen der Goten und Deutschen“. Dass unter den Bürgern Wisbys zahlreiche Deutsche waren, ist klar. Der Rath musste aus „Leuten von beiden Zungen", aus Goten und Deutschen bestehen; neben dem gotischen Vogt wachte ein deutscher über Marktrecht und Marktfrieden. Deutsche und Goten lebten gemeinsam nach demselben, in wesentlichen Teilen auf dem gotländischen Landrecht beruhenden Stadtrechte. Dass die Deutschen, wenn auch nicht an Zahl so doch der Bedeutung nach, ihren gotischen Mitbürgern überlegen waren, ergibt sich aus Allem, was uns überliefert ist.

*) Mir scheint die Trennung schon damals vorhanden zu sein. Dafür spricht besonders Hans Urkdb. I, n. 448, aus welcher Urkunde hervorgeht, dass schon zwischen 1173 und 1179, ebenfalls durch Vertrag mit Heinrich dem Löwen, vereinbart war, dass die in Schweden sich niederlassenden Deutschen nach schwedischem Recht leben sollten. Das ist auch tatsächlich die Stellung der nachher zahlreich in schwedischen Städten auftretenden Deutschen gewesen. Die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, dass es in Gotland anfangs nicht anders war als im übrigen Schweden, wenn man jenen Vertrag nicht geradezu als für Gotland mitgehend ansehen will. In Wisby leben später die deutschen Bürger nach demselben Recht wie die gotischen; und dies Recht ist allerdings offenbar unter deutschem Einfluss entstanden, hat aber doch seine gotländische Grundlage unverkennbar bewahrt — Höhlbaum gibt (Hans. Urkdb. 8. 9, A. 1) den Inhalt von n. 448 nicht richtig an, wenn er sagt: „Die Bedingungen für das Tragen des glühenden Eisens und Gesetze über die Schwangerschaft unverehelichter Frauenzimmer werden erlassen.“

Neben diesem aus ansässigen Leuten bestehenden deutschen Teil der Stadtgemeinde Wisby besteht nun aber in dieser Stadt eine Genossenschaft aller nach und über Gotland handelnden und sich dort kürzere oder längere Zeit aufhaltenden deutschen Kaufleute; und diese Genossenschaft ist es, welche als die älteste, Angehörige zahlreicher Städte umfassende Vereinigung deutscher Kaufleute im Auslande von allen Verbindungen der Art die wichtigste geworden ist und am meisten einigend auf die Städte daheim zurückgewirkt hat.

Selbständig sehen wir diese Genossenschaft als Vertreterin des deutschen Handels auftreten, nicht nur im Ostsee-, sondern auch im Nordseegebiete. Wegen des eifrigen Beistandes, den sie von Anfang an in der Bekehrung der Heiden geleistet habe, gewährt ihr Bischof Albert von Riga, der Bekehrer Livlands, wichtige Privilegien *). Riga, die neugegründete Dünastadt, erhielt das Recht der Deutschen auf Gotland, deren Münze. Auf dem Wege Düna aufwärts nach dem altbesuchten Markte von Smolensk treffen wir zuerst die gotländische Genossenschaft. Im Sommer 1229 schließen die „Kaufleute am gotischen Ufer" und die Stadt Riga einen Vertrag mit dem Fürsten von Smolensk, der einen Beleg gibt für den regen Verkehr der Deutschen bis ins Innere Russlands hinein und zugleich einen Blick tun lässt in die Zusammensetzung der Gesellschaft der deutschen Kaufleute auf Gotland. Denn diese, nicht die deutsche Stadtgemeinde zu Wisby ist es, die wir unter den „Kaufleuten am gotischen Ufer“ zu verstehen haben. Es schließen den Vertrag 3 Bürger von den gotischen Ufern, d. h. Angehörige der deutschen Stadtgemeinde zu Wisby, 2 Kaufleute aus Lübeck, 1 aus Soest, 2 aus Münster, 2 aus Groningen, 2 aus Dortmund, 1 aus Bremen und 3 aus Riga. Die auf Gotland ansässigen Deutschen nehmen hier zu der allgemeinen deutschen Genossenschaft dieselbe Stellung ein wie irgend eine Stadt daheim, welche durch Bürger auf Gotland vertreten ist, eine Sachlage, die sich auch aus andern Zeugnissen erkennen lässt. Was die Herkunft der deutschen Kaufleute betrifft (es werden im 13. Jahrhundert noch deren aus Köln. Utrecht und Braunschweig erwähnt, so finden wir die westlichen Städte, Westfalen und Friesen, noch stark vertreten. Noch waren sie nicht durch Lübeck und seine Genossen in den Hintergrund gedrängt.

Und wie auf dem Wege zur Düna und nach Smolensk, so waren auch auf dem zur Newa und nach dem normannisch-russischen Nowgorod die ersten Deutschen Leute der gotländischen Genossenschaft. Sie folgen hier den Spuren der Skandinavier, speziell der Gotländer. Denn diese sind in Nowgorod schon im 11. Jahrhundert als Kaufleute nachweisbar, besaßen dort schon vor 1152 eine eigene Kirche. Dass die Deutschen noch über 100 Jahre später die Wasserschnellen der Wolchow als „vorsch" (schwed. fors) bezeichnen, zeigt ebensowohl wie die Namen Berkö und Dhrelleborch , welche Wegweiser sie auf dieser Fahrt gehabt hatten. In der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts sind die Deutschen in Nowgorod selbst sicher nachweisbar, und nicht lange dauert es, so linden wir sie im Besitz einer eigenen, dem Apostelfürsten geweihten Kirche und des damit verbundenen Peterhofes. Die Gotländer treten zurück; wird ihr Name um die Mitte des 13. Jahrhunderts und später in den Urkunden genannt, so ist außer an die deutschen Kaufleute auf Gotland höchstens an die zweisprachigen Bewohner Wisbys zu denken.

Und diese neue Niederlassung steht nun ihrer Entstehung gemäß in vollkommener Abhängigkeit von der deutschen Genossenschaft auf Gotland. Deren Recht herrscht wie in Riga so auf dem Hofe zu Nowgorod; die ältesten Ordnungen (Skraen) für diesen, die eine ungefähr der Mitte, die andere wahrscheinlich dem Ende des 13. Jahrhunderts angehörend, sind gesetzt von ihr. In der früheren wird bestimmt, dass die überschüssigen Gelder von St. Peters Hofe zu Nowgorod nach Wisby gebracht und dort in der Marienkirche, der Kirche der Deutschen, aufbewahrt werden sollen. Vier Älterleute sollen dazu einen Schlüssel haben: jener der Deutschen auf Gotland, der von Lübeck, der von Soest und der Dortmunder. Zeigt uns diese Bestimmung einerseits, welche Städte die Hauptrolle spielen im Ostseehandel, bestätigt sie, dass die Westfalen auch um die Mitte des 13. Jahrhunderts noch den östlichen Städten die Wage hielten, so lässt sie uns andererseits einen Blick tun in die Organisation der deutschen Kaufleute auf Gotland. Älterleute stehen an der Spitze der Angehörigen einzelner Städte. Erfahren wir nun, dass Lübeck auf Ansuchen Salzwedels seinen Ältermann auf Gotland anweist, die Bürger Salzwedels in die „Bank und Genossenschaft" der Lübecker aufzunehmen, so wird klar, dass eine Gliederung des deutschen Kaufmanns bestand, dass die Angehörigen der größeren Städte mit ihren Älterleuten entweder die Glieder ausmachten oder wenigstens an ihrer Spitze standen, dass in jedem Falle die heimische Stadt die Aufnahme der Bürger kleinerer Städte in ihre „Bank und Genossenschaft" anordnen konnte.

Über die leitende Stellung der gotländischen Gesellschaft im deutschen Ostseehandel während des größten Teils des 13. Jahrhunderts kann kein Zweifel sein; wir werden sehen, dass diese Vereinigung von Kaufleuten auch im Gebiet der Nordsee selbständig und bahnbrechend vorgeht. Unter allen Verbindungen der Deutschen im Auslande hat gerade diese bei Weitem zuerst, schon 1229, ein eigenes Siegel geführt. Jene Lilie, das Siegel der deutschen Bürger Wisbys, diente in kleinerer und etwas veränderter Gestalt auch als „Siegel der Gotland besuchenden Deutschen", wird auch wohl schlechthin als „Siegel aller Kaufleute“ bezeichnet. Während die anderen hansischen Niederlassungen später Siegel haben, die sämtlich mehr oder weniger auf Lübeck hinweisen, bildet sich hier in Wisby schon jener spätere hansische Brauch vor, gemeinsame Beschlüsse zu siegeln mit dem Siegel der Stadt, in der sie gefasst waren. Jenen Umschriften entsprechende Ausdrücke, wie „Gesamtheit der Kaufleute", „gesamte" oder „gemeine Kaufleute“, Bezeichnungen, die später gebraucht werden für die Gesamtheit aller an den Privilegien der deutschen Kaufleute im Auslande teilnehmenden Angehörigen deutscher Städte, finden wir zuerst angewandt auf die gotländische Genossenschaft. Ihre Stellung zu den Städten selbst, ihre Macht beleuchtet eine Urkunde des Jahres 1287 hell genug. In Folge eines an der estländischen Küste verübten Strandraubes wird einstimmig von allen Kaufleuten, die aus verschiedenen Städten und Örtern Gotland zu besuchen pflegen, beschlossen, dass alle Städte, in deren Nähe Güter durch Schiffbruch oder Raub verloren gegangen sind, den Kauf und Verkauf dieser Güter in öffentlicher Bursprake (communi civiloquio) verbieten und den Beschädigten mit Rat und Tat zur Rettung oder Wiedererlangung des Verlorenen behilflich sein sollen. Unterlässt das irgend eine Stadt, so können ihre Bürger nicht Eideshelfer sein für einen wegen derartiger Güter angeklagten Mitbürger, und zwei Zeugen genügen, um einen solchen Angeklagten zu überführen. Auch soll eine solche Stadt die dem Überführten auferlegte Busse (20 Mark Silber = circa 900 resp. 6 — 7000 M. Reichsw. *)) nicht einziehen, sondern sie den „Kaufleuten" d. h. der gotländischen Genossenschaft überlassen. Ja, welche Stadt sich diesen Anordnungen nicht fügt, die wird sogar mit Ausschließung aus der Genossenschaft bedroht an allen Orten und auf allen Wegen, es sei denn, dass sie ihr Unrecht wieder gut mache. Und gegen Reval wird sogleich in dieser Weise vorgegangen. Also eine Gesellschaft deutscher Kaufleute, die ihren Sitz im Auslande hat, trifft Verfügungen, die für die heimischen Städte verbindlich sind, bedroht diese, wenn sie die Anordnungen missachten, mit Ausschließung ihrer Angehörigen von den Rechten, die der in der gotländischen Genossenschaft geeinigte deutsche Kaufmann im Auslande besitzt. In der Tat eine seltsame Erscheinung und ein Beweis hoher Machtfülle und weittragender Bedeutung in dieser eigentümlichen Bildung.

*) Die Berechnung der Geldsummen nach heutigem Wert ist gemäß einer in Kap. VII zu gebenden Auseinandersetzung vollzogen; die zwei verschiedenen Bestimmungen gehen die eine den Silberwert, die andere den heutigen Geld-, resp. Waren- oder Verkehrswert an. Verschiedenheit der Berechnung wird zuweilen nötig durch die verschiedene Zeit; dabei ist zu Grunde gelegt Grautoff, Geschichte d. Lübeck. Münzfußes bis zum .Jahre 1463. in den ,,Histor. Schriften“ B. III.

Die unter diesen Gotlandfahrern bestehende Einigung, in der Angehörige von mindestens 30 deutschen Städten von Köln und Utrecht an bis hinauf nach Wisby, Riga und Reval nachweisbar sind, die mit Recht als die „geeinigten Gotlandfahrer des römischen Reichs" bezeichnet werden konnten, musste in demselben Augenblicke zu einer Einigung der Städte selbst führen, wo diese oder auch nur eine von ihnen der im Auslande erstandenen, im Auslande ihren Sitz habenden Genossenschaft die Leitung der allgemeinen Angelegenheiten des deutschen Kaufmanns aus der Hand nahm, den von ihr geübten Einfluss selbst zu üben begann. Und dazu fehlte es weder an Neigung, noch an Fähigkeit.

Waren die deutschen Kaufleute in der Ostsee nach dem Sturze der weitreichenden Herzogsmacht Heinrichs des Löwen zunächst auf sich selbst angewiesen und zeigten sie sich in der Herausbildung der gotländischen Genossenschaft, in ihrem Auftreten an der Düna und in Nowgorod dieser Stellung gewachsen, so sind die im Laufe des 13. Jahrhunderts immer mehr erstarkenden Städte ihnen doch eine wesentliche, ja unentbehrliche Stütze gewesen , ohne die ihr Aufblühen eigentlich gar nicht denkbar ist. Sie sind schwerlich jemals ganz ohne Einfluss gewesen auf die Genossenschaft, vor Allem Lübeck nicht. Seit der Mitte des 13. Jahrhunderts haben wir die deutlichsten Zeugnisse für einen solchen. Wie Lübeck Anordnungen trifft für die Bank seiner Angehörigen in der gotländischen Genossenschaft haben wir schon gesehen. Ein Lübecker steht an der Spitze der Gesandtschaft, die 1261) vom Fürsten von Nowgorod einen neuen Vertrag mit Deutschen und Goten erlangt. Auf gemeinsamen Beschluss der Städte und der Gotlandfahrer wird 1278 die Fahrt nach Nowgorod verboten. Auch hinter jenen Beschlüssen von 1287, welche die gotländische Genossenschaft in so großer Selbständigkeit zeigen, steckt ein Einfluss Lübecks. Die geraubten Güter gehörten einem Lübecker Bürger, Markward mit Namen. Vom Könige von Dänemark war den Boten Lübecks Ersatz und Bestrafung der Schuldigen zugesagt worden, aber vergebens hatte dann der Lübecker Rat den Johann von Dowaye mit Markward nach Reval geschickt , die Güter zu erlangen. Mit leeren Händen waren Beide nach Gotland zurückgekehrt. Dort traf sie der Befehl des Rates, allen Verhandlungen des Kaufmanns über die Sache beizuwohnen. Befriedigt schreibt Johann nach Hause, dass er das getan und mit den Vertretern der einzelnen Städte den Entwurf eines festzusetzenden Rechtes vereinbart habe, den er beilege. Es kann an nichts Anderes gedacht werden als an die besprochenen Beschlüsse. Der Kaufmann fasste sie, aber unter dem Einfluss des Lübecker Boten, der bestimmt ist, das seiner Stadt angetane Unrecht zu verfolgen, und Lübeck werden sie zur Billigung vorgelegt. Es ist klar, die Genossenschaft der Kaufleute will doch nicht vorgehen ohne der Zustimmung der mächtigen Stadt gewiss zu sein. Neben der Genossenschaft, zum Teil durch Diese äußert also Lübeck einen bestimmenden Einfluss auf die Stellung des deutschen Kaufmanns in der Ostsee.

Dieser städtische Einfluss musste steigen, je mehr die Träger desselben sich materiell entwickelten, je freier und unabhängiger sie in ihren Bewegungen nach außen wurden, und Lübeck, von dem die Einwirkungen auf die Stellung des Kaufmanns fast allein scheinen ausgegangen zu sein, entwickelte sich überaus rasch und nahm als Reichsstadt eine sehr selbständige Stellung ein. Es gelangte bald zu dem entscheidenden Schritt, den Schwerpunkt für den deutschen Kaufmann in der Ostsee von Wisby an die Trave zu verlegen. Es wird nötig sein, die Stellung Lübecks, des Erben von Gotland, näher ins Auge zu fassen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Hansestädte und König Waldemar von Dänemark.