Lübeck

Wer die Entwicklung dieses blühenden mittelalterlichen Gemeinwesens in den ersten Jahrhunderten nach seiner Gründung mit aufmerksamen Augen verfolgt, der wird erinnert an das Schauspiel jener Weltstädte, die in unseren Tagen auf neu kultiviertem Boden in Eile aus dem Nichts entstanden sind. Hundert Jahre, nachdem Herzog Heinrich der Löwe Lübeck aus einer holsteinischen Landstadt zum Haupthafen seines Herzogtums gemacht hatte, stand es an der Spitze aller norddeutschen Städte; höchstens das altmächtige Köln konnte man ihm zur Seite stellen. Das Verdienst dieser raschen Entfaltung gebührt nächst der außerordentlichen Gunst der Lage in erster Linie dem umsichtigen, fürsorglichen Sachsenherzog.

Die nähere Betrachtung des Entstehens und Aufblühens der Stadt lässt es klar und deutlich erkennen, dass Lübeck eine durchaus planmäßige Anlage war. Schon seine Lage sicherte dem Travehafen die Erbschaft des slawischen Stargard (Oldenburg) und des dänischen Hethaby (Schleswig), welches letztere eben in den Jahren der Gründung Lübecks zu veröden anfing. Mag die Plünderung einer russischen Flotte im Schleswiger Hafen durch den Dänenkönig Svend Grathe dazu beigetragen haben, entscheidender waren die Vorzüge, mit denen Herzog Heinrich die neue Stadt auszustatten wusste*). Er schickte Boten, sagt Helmold, nach den Städten und Reichen des Nordens, nach Dänemark, Schweden, Norwegen und Russland und lud ein, seine Stadt Lübeck zu besuchen. Er gewährt Russen, Goten, Normannen und den andern Völkern des Ostens Freiheit von Zoll und der Abgabe, die Hanse hieß. Er stellt die Goten auf gleichen Fuß mit den deutschen Kaufleute, vorausgesetzt, dass sie „seinen Hafen in Lübeck fleißig besuchen". Weder der Fremde noch der Einheimische brauchte in Lübeck den Erbkauf zu zahlen, wie es in Schleswig der Fall war. Die Lübecker selbst sind frei von Zoll und Hanse durch das ganze Herzogtum Sachsen, die Zollstelle Artlenburg ausgenommen; sie können sich überall nach lübischem Recht verteidigen, der bloße Eid bewahrt dem Lübecker Bürger auswärts seine Freiheit. Zwar übt der Rat nicht das Münzrecht aus, aber er darf die Münzen prüfen auf Gewicht und Gehalt.


Und diesen den Handel erleichternden und fördernden Bestimmungen stand eine den Bedürfnissen des Verkehrs angepasste Ordnung des Rechts und der Verfassung zur Seite. Die Stadt erhielt das früh ausgebildete, altbewährte Recht von Soest, in erster Linie wohl, weil Westfalen, damals das eigentliche Handelsland Norddeutschlands, die Hauptmasse der Ansiedler stellte. Mit diesem Rechte wurde es eines stetigen, ganzen, geordneten Marktfriedens für alle Kaufleute teilhaftig, der aus dem Gottesfrieden erwachsen, durch Rat und Bürger selbst verwaltet wurde, während in Schleswig jeder einzelne Kaufmann befriedet werden musste. Daneben war es den Bürgern gestattet, vorbehaltlich der herzoglichen, später kaiserlichen Rechte, durch Willkür neues Recht zu bilden. Die Stadt bildete eine vollkommen einheitliche Gerichtsgenossenschaft; Ausnahmen von der Gewalt des Vogts, wie in andern Städten, gab es nicht. Und dieser Erhebung zu einer Gerichtsgenossenschaft gleichzeitig werden die Bedingungen zu einer freien Gemeindeverfassung hergestellt durch Einsetzung eines Rats — „Ziele, welche ältere Städte nur allmählich, nach einander und nach langen Zwischenräumen erreichen".

Ausschließlich aus Kaufleuten wurde der neue Rat zusammengesetzt. Der beste Kenner des lübischen Rechts und der lübischen Verfassung nennt diese eine planmäßig aus den Bedürfnissen hervorgewachsene Neugestaltung. Die Bedürfnisse aber wiesen in erster Linie auf den Handel und seine Förderung hin. Nur wer diesem sich widmete, konnte in der neuen Stadt zur Geltung kommen. Wie zu jener Zeit noch in allen andern Städten war auch in Lübeck vom Rate ausgeschlossen, wer „seinen Lebensunterhalt als Handwerker erwarb". Eine grundbesitzende Aristokratie, wie sie in andern Städten Jahrhunderte lang die Macht behauptete, gab es wenigstens im Anfange in Lübeck nicht; sie konnte sich erst im Laufe der Jahrhunderte im Anschluss an den durch den Handel erlangten Reichtum entwickeln. So nahmen von vornherein die Kaufleute die einflussreichsten Stellen in der Stadt ein; der Handel war der Lebensnerv, seine Vertreter die Leiter des lübischen Gemeinwesens. Die zuerst im Rate der Stadt saßen, waren gewiss Männer, die in kühnen Handelsfahrten Mut und Tatkraft gestählt, in umfassenden Unternehmungen den Blick erweitert und geschärft hatten. Und ihr Geist konnte unter den gegebenen Verhältnissen nicht leicht aussterben. Jahrhunderte hindurch hat sich die lübische Politik durch Großartigkeit der Auffassung, durch Umsicht der Durchführung in ihren Plänen ausgezeichnet. Eine Handelsrepublik in großem Stile ist hier im innersten Winkel der Ostsee erwachsen, wie Deutschland keine zweite gesehen hat.

Heinrich der Löwe hat die Freude gehabt, seine Schöpfung sich rasch entwickeln zu sehen. „Es gab da großen Besuch", sagt Detmar, und „Lübeck gewann sehr an Reichtum und Ansehen". Mancher Kaufmann aus Westfalen und Friesland, der im Ostseehandel beschäftigt war, mochte sich den wohlgelegenen Hafenplatz zum Wohnorte wählen. So sammelte sich alsbald eine unternehmende, tatkräftige Bevölkerung. Lübeck wurde eine Hauptstütze der Macht des Löwen. Als es sich doch dem Kaiser unterwerfen musste, wurde es von diesem „wegen des Vorteils seiner Einkünfte und weil es an der Grenze des Reiches gelegen war" in unmittelbaren Schutz genommen, ihm die herzoglichen Privilegien bestätigt. Auch der Däne Waldemar erkannte die Bedeutung der Stadt; „weithin werde sein Name berühmt werden, wenn er über eine solche Stadt herrsche". Die Befreiung der nordelbischen Lande von den Dänen geschah unter tätiger Mitwirkung der Lübecker, aber ausdrücklich lassen sie sich von Fürsten und Herren verbriefen, dass sie aus freiem Willen, durch keine Verpflichtung gebunden, Hilfe leisten. Eine Gesandtschaft nach Italien erwirbt ihnen vom Kaiser 1226 die Reichsfreiheit. Rasch blühte die Stadt jetzt auf, verteidigte sich 1234 siegreich gegen Dänen und Holsteiner, suchte um die Mitte des Jahrhunderts jene im eigenen Lande heim, war um dieselbe Zeit ohne Zweifel zum ersten Handelsplatz an der Ostsee emporgewachsen.

Die Lübecker sind die ersten, welche als mit der so wichtigen Fischerei an der Schonenschen Küste beschäftigt erwähnt werden. Sie nehmen einen wesentlichen Anteil an der gotländischen Genossenschaft. Vielfach tritt ihr Einfluss im Osten hervor. Die Schwertritter benutzen die Vermittlung Lübecks, um ihre Güter als Reichsfürsten in Besitz zu bekommen. Von Lübeck und seinen Nachbarstädten aus wurde besonders die livländische Ansiedelung gefördert. „Durch das Blut eurer Väter und Brüder, eurer Söhne und Freunde", schreibt 1261 der Vizemeister der Deutschordensbrüder in Livland an Lübeck, „ist das Feld des Glaubens in diesen Landen wie ein auserwählter Garten oft benetzt worden", und 1274 der Bischof von Dorpat auch an Lübeck: „Durch die Mühen, die Schätze und das Blut der Kaufleute ist die junge Kirche in Livland und Estland zur Erkenntnis ihres Schöpfers unter göttlicher Gnade erstmals geführt worden". Selbst mehrere Jahrhunderte später hatte man das in Livland noch nicht vergessen; stets bestanden die innigsten Beziehungen zwischen der Stadt und dem Ordenslande. „Wir müssen zusammenhalten, wie die zwei Arme eines Kreuzes", schreibt 1274 Reval an Lübeck. Zahlreich sind die Zeugnisse, dass die Kreuzfahrer ihren Weg nach der Düna fast ausschließlich über Lübeck nahmen. Und wie die italienischen Städte durch die Kreuzzüge nach dem Morgenlande heranwuchsen, so die baltischen, vor Allem Lübeck, durch die Fahrten nach Livland und Preußen unter dem Schutze der Kreuzesfahne und päpstlicher Bullen. Denn nicht bloß an die Düna, auch nach Preußen führte der Weg für die Westfalen, Flaminger und Niedersachsen, die ja besonders in jene Gebiete einzogen, über die Travestadt. Es muss in der Tat ein lebhafter Verkehr gewesen sein, der die Lübecker auf den Gedanken brachte, an der samländischen Küste, wo wenige Jahre später Königsberg erstehen sollte, Stadt und Hafen zu gründen. Nach und nach kam der Ostseehandel der Westfalen ganz in die Hände Lübecks, das man allenfalls ihre Pflanzstadt nennen könnte. Mochte der Kaufmann auch noch so sehr gewohnt sein, seine Waren selbst über Land und Meer weithin dem Käufer zuzuführen, der Vorteil, im Einschiffungshafen, im Mittelpunkte des Geschäfts zu wohnen, war zu handgreiflich, als dass er nicht die alten Bahnbrecher im Ostseehandel hätte anlocken sollen. Immer seltener werden im Laufe des 13. Jahrhunderts die Westfalen im baltischen Meere, bis sie im 14. und 15. fast daraus verschwinden. Lübeck ist an ihre Stelle getreten.

Und wie es die Konkurrenten des entlegenen Westens überflügelt, so verdrängt es auch das günstiger situierte Gotland aus seiner bisherigen Stellung im Ostseehandel. Im Jahre 1280 verbündet sich Lübeck mit den Deutschen zu Wisby auf 10 Jahre zur Befriedung der Ostsee von der Trave und dem Sunde bis hinauf nach Nowgorod. Die beiden Städte werfen sich zu Wächtern des Friedens auf, offenbar sind sie die den Handel beherrschenden Mächte im baltischen Meere, aber noch in gleicher Stellung und gemeinschaftlicher Wirksamkeit. Das aufblühende Riga, das Haupt der livländischen Städte, welches zwei Jahre später in den Bund aufgenommen wird, steht im Range jenen beiden Häuptern des Ostseehandels zunächst. Aber noch vor Ablauf des Jahrhunderts ist Lübecks Übergewicht entschieden, steht es allein an der Spitze der Deutschen in der Ostsee, ist Wisby und die deutsche Genossenschaft dort in den Hintergrund gedrängt.

Von wesentlichem Einfluss auf diese Entwicklung der Dinge ist neben jenen handelspolitischen Gründen die weite Verbreitung des lübischen Rechts geworden. Es war mit wenigen Ausnahmen in fast allen Ostseestädten herrschend. Die große Mehrzahl der auf der Ostsee Handeltreibenden lebte nach demselben, den Westfalen konnte es nicht allzu fremdartig erscheinen. Auf dem Hofe zu Nowgorod scheint den Kaufleuten lübischen Rechtes schon bisher gestattet worden zu sein, nach diesem zu leben, vielleicht auch in streitigen Fällen in Lübeck die endgültige Entscheidung zu suchen. So lag nahe genug der Beschluss, den 1203, ohne Zweifel auf Anregung Lübecks, die Kaufleute der Städte Sachsens und Slawiens (d. h. Mecklenburgs und Vorpommerns) zu Rostock fassten, dass in Zukunft vom Hofe zu Nowgorod nur noch nach Lübeck appelliert werden solle *). Gleichzeitig scheint man versucht zu haben, zahlreiche lübische Rechtssätze in die Nowgoroder Skra zu bringen, auch einen Artikel, der die Appellation nach Lübeck anordnete. Es war vergebens, dass man diesen Artikel aus der Skra auf dem Hofe zu Nowgorod wieder auslöschte, dass Wisby protestierte, dass es klagte, Lübeck wolle das alte, von allen Kaufleuten aufgerichtete Recht der Gotlands und Nowgorodfahrer aufheben und in lübisches Recht verwandeln, wolle Jeden, der in Nowgorod oder Gotland lebe, zwingen, zur Erlangung seines Rechts nach Lübeck zu gehen. Nur bei zwei Städten fand Wisby, viel wir wissen, Gehör, bei Osnabrück und Riga, und von diesen ging Riga bald zu Lübeck über. Von 24 Städten aber sind uns in Lübeck Zustimmungserklärungen erhalten, zugleich ein Zeugnis für die Lebhaftigkeit und weite Verzweigung des Handels nach Nowgorod. Es sind: Köln, Dortmund, Paderborn, Minden, Lemgo, Lippstadt, Herford, Höxter, Magdeburg, Halle, Braunschweig, Goslar, Hildesheim, Hannover, Lüneburg, Rostock, Stralsund, Wismar, Greifswald, Kiel, Stade, Reval, Danzig, Elbing. Kiel spricht am deutlichsten das die Städte leitende Motiv aus: es dankt für die Vertretung des lübischen Rechts, das Lübeck in Nowgorod und an andern Orten zur Geltung gebracht habe, wo es den andern Städten nicht möglich gewesen sei, etwas auszurichten.

*) Diese Behauptung kann nicht vollständig richtig sein, aber schwerlich ist sie doch auch ganz aus der Luft gegriffen. Anzunehmen, dass lübisches Recht auf den Hofe zu Nowgorod auch vor 1293 schon bis zu einem gewissen Grade in Gebrauch war, auch in gewissen Fällen Appellation nach Lübeck geschah, scheint mir notwendig.

Doch vermochte diese eine Niederlage die Macht Wisbys noch nicht zu brechen. Noch im folgenden Jahre, 1294, erscheint es neben Lübeck in der Bewerbung um die Erneuerung der dänischen Privilegien als Führerin. Hatte Lübeck doch das Hauptziel seines Strebens beim ersten Angriffe noch nicht erreicht. Vergebens hatte es sich bemüht, die Besiegelung der für den gemeinen Kaufmann gültigen Beschlüsse aus der Hand der gotländischen Genossenschaft in die eigene zu bringen. Erst 6 Jahre später gelang dieser Schritt. 1299 beschlossen zu Lübeck die Gesandten der Seestädte (so werden häufig in älterer Zeit die „wendischen" oder , „slawischen“ Städte genannt: Lübeck, Wismar, Rostock, Stralsund, Greifswald, einzeln auch Anklam, Demmin, Stettin und Stargard) zusammen mit denen der westfälischen Städte, dass auf Gotland kein Siegel des „gemeinen Kaufmanns" mehr gehalten werden solle, denn es könne damit besiegelt werden, was den andern Städten nicht gefalle; es habe ja jede Stadt ihr eigenes Siegel, mit dem sie in Angelegenheiten ihrer Bürger nach Bedarf siegeln könne. Die Tendenz dieses Beschlusses ist klar genug. Man will nicht mehr die Verbindung der eigenen Bürger im Auslande in der bisherigen Selbständigkeit; man will deren Angelegenheiten in der obersten Leitung selbst in die Hand nehmen. An die Stelle der gotländischen Genossenschaft treten die Städte selbst, deren Vereinigung. Die Gesellschaft der deutschen Kaufleute auf Gotland verschwindet aus, der Geschichte; sie wird nicht mehr genannt. Damit wird aber zugleich der Schwerpunkt des Einflusses auf der Ostsee, und auf den sie befahrenden deutschen Kaufmann von Wisby an die Trave, nach Lübeck verlegt. Die mächtigste, die reichste, die unternehmendste Stadt im ganzen Ostseegebiet, die natürliche Führerin der zahlreichen neuen noch nicht ein Jahrhundert alten deutschen Städte an den Gestaden des baltischen Meeres, wird auch die Vorkämpferin des deutschen Kaufmanns im skandinavischen und slawischen Norden und Nordosten.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Hansestädte und König Waldemar von Dänemark.