Die Geschichte von dem Rabbi und seinem Sohne

Es war einmal ein Rabbi, der hatte sein Leben der Thora dargebracht, all seinen Geist hatte er angewandt, sie zu durchforschen, und mit all seinem Willen hütete er die Gebote, dass sie bis ins kleinste geachtet würden in der Gemeinde. Als ihm in späten Jahren der einzige Sohn geboren wurde, schien ihm dies ein Lohn und eine Zustimmung Gottes. Es war ihm, als ob ihm von oben eine Bestätigung seines Weges zuteil würde, und er schwor sich zu, all seine Tage, die ihm noch blieben, darauf zu schauen, dass sein Sohn gleich ihm mit strengen Gedanken in die Tiefen der Lehre eindringe und nicht um eines Haares Breite von des Gesetzes letzter und kleinster Forderung abweiche. Dass er gleich ihm bitter Feind sei jenen Schwärmern, die die erhabenen Worte mit einem Gaukeltanz bunten Weltkrams umwinden, die es wagen, ihre schweifenden Träume an die urewige ernste Macht der Thora zu knüpfen und das unstete Herz da spielen zu lassen, wo nur der stählerne Gedanke walten darf. Der Sohn wuchs heran und ward groß in der Weisheit der heiligen Bücher. Er hatte im Hause seines Vaters ein Stübchen, darin er zu weilen und sich mit gesammelten Sinnen in die Geheimnisse der Schrift zu versenken pflegte. Aber seine Seele konnte über den Büchern nicht verharren, und sein Blick hielt sich nicht auf der unendlichen Fläche der kleinen starren Lettern, sondern glitt immer wieder hinaus über die gelbe Flut der Ähren hin und bis zu dem dunklen Strich der fernen Tannenwälder. Und mit seinem Blick glitt seine Seele hinaus und wiegte sich in der stillen Luft, scheu wie ein junger Vogel. Doch er zwang immer wieder Auge und Herz zurück in die enge Haft, denn er wollte wissen, und das Wissen war ja in den Büchern. Aber hielt er auch den Kopf mit beiden Händen über die zeichenbedeckten Blätter geneigt, so ließ sich die Seele doch nicht bannen. Und konnte sie sich an der Fülle da draußen vor dem Fenster nicht nähren, so schaute sie innig und heiß in sich selber, über wunderbare Saaten hin und zu geheimnisvollen Himmelsstrichen, die in ein unbekanntes Land hinüberblauten. Dennoch wuchs das Lernen in ihm, und er wurde stark im Erkennen; aber nicht aus dem Gewirr der Worte vor ihm strömte ihm die Weisheit zu, sondern aus ihm selbst, von seltsamer Wärme getrieben, sprosste sie auf und umfasste seine Seele mit mächtigem Gezweige. Zur gleichen Zeit wurde jene schrankenlose Kraft des Wesens groß in ihm, die Heiligkeit heißt; und was er sprach, war lauter wie Kristall, und was er tat, geweiht; und wenn er durch sein Stübchen schritt, war es ihm, als wandelte er auf den Wogen eines einsamen Meeres. Weisheit und Heiligkeit aber vermählen sich zu jener tiefen und unbegreiflichen Wandlung, die die Stufe des kleinen Lichtes genannt wird und von einer Zeit zur andern in einer einzigen Seele erscheint und dahingeht; dieses war die Stufe, zu der der Jüngling erhoben wurde, ohne es zu ahnen.

Aber wie einer, der sich unwissend wähnt, dieweil er im Innern die Welt umfängt, so glaubte er, um der Wahrheit willen auch fernerhin die Schriften durchforschen und ihrer dumpfen Stimme lauschen zu müssen, wiewohl ihm die letzten Dinge also vor den Augen standen, wie die stille Lampe, die seiner Arbeit leuchtete. Aber wie er nur den Büchern nahte, war ihm, als trete er in eine Leere, ein rätselhafter Mangel legte sich schwer auf ihn, und er fühlte sich verlassen im Grenzenlosen. So kehrte er von der Rede des toten Mundes immer wieder zu sich selbst zurück und gab sich den Verzückungen des großen Schweigens hin. Aber auch sie gewährten ihm den Frieden nicht, nach dem er verlangte, wie die ungeborenen Seelen nach dem Leben der Erde; und ihre selige Pein spannte ihn an, wie man einen Bogen spannt, den Pfeil in die Ferne zu entsenden, und nicht wie man eine Leier spannt, zu holdem Zusammenklingen. Auch in der höchsten Erfüllung fehlte ihm etwas, und er wusste nicht, was das sei; auch in der gnadenvollen Stunde des Schauens schlug eine Bangigkeit in ihm, für die er keinen Namen hatte.


Er wagte nicht, davon zu sprechen, es war allzu gewaltig, und wenn er es versuchte, sagte das Wort, das auf seine Lippen kam, schon anderes, als ihm in der Seele geschah. Von allen Menschen aber hielt er sich nur zu den Chassidim, zu jenen Schwärmern und Phantasten, die seinem Vater, dem Rabbi, so bitter verhasst waren. Denn er fühlte, dass in ihrer Art, so wild und unbändig sie war, etwas von dem lebendig sein mochte, was durch seine Träume ging. Sein Vater zürnte ihm deswegen, aber er konnte den Verkehr nicht lassen. Und so war er einmal mit zweien von jenen, zwei Jünglingen, beisammen. Da stärkte er sein Herz zum Reden und rang mit den „Worten, bis sie ihm gehorchten, und erzählte den beiden, wie ihn ein Mangel quäle und wie er verschmachte nach einem Unnennbaren. Da sprachen sie zu ihm: „Es gibt nur Einen, der dir zu helfen vermag. Das ist der große Zaddik, der eine Tagereise von hier wohnt. Denn ihm ist die Kraft gegeben, die Seelen frei zu machen. Er geht durch die Reihen der Menschen, und von dem Leuchten seiner Augen fließt eine Segnung Gottes zu ihnen allen hin. Er hebt die Hand den Bedrückten entgegen, und sie atmen auf wie aus einem schweren Traum. Er wischt die Zeichen des Grams und der Mühsal von den Stirnen. Er löst den Krampf des Hasses und zeigt den Schwermütigen die Schönheit der Welt.“ „Ist er weise?“ fragte der Jüngling. „Wir wissen nicht, ob er weise ist,“ antworteten sie, „denn er liegt dem Lernen nicht ob und redet nie von den Dingen, von denen man sagt, man habe sie erkannt. Aber dieses wissen wir, dass er ins Nahe und ins Fernste wirkt, und ganz gewiss ist das sein, was man die Tat nennt.“ „Ist er heilig?“ fragte er weiter. „Wir wissen nicht, ob er heilig ist,“ sagten sie, „denn er hält sich nicht abseits und hütet sich nicht, die Sündigen anzurühren. Aber dieses wissen wir wohl, dass er keinen entlässt, ehe er ihm die schwerste Bürde von der Seele nahm. Und ganz gewiss ist die Erlösung sein Reich.“ „Ist es aber nicht so,“ fragte er, und er blickte mehr in sich als zu ihnen hin, „dass Tat und Erlösung sich einen zur höchsten Begnadung, welche die Stufe des großen Lichtes genannt wird und von vielen Zeiten zu vielen Zeiten in einer einzigen Seele erscheint, um in Tausende zu strahlen und hinüberzuleben?“ Da schwiegen die Jünglinge und waren betroffen ob des seltsamen Ungestüms seiner Worte, wie sie solches an ihm nicht kannten. Er aber stand erschauernd da und wusste nicht, was ihm widerfahre. Von dieser Stunde an aber war es in ihm beschlossen, dass er sich zu jenem Zaddik begeben und von ihm die Offenbarung seines Wesens empfangen müsse. Er ging zu seinem Vater und sagte ihm sein Vorhaben und bat ihn, er möge ihn ziehen lassen, wenn er anders wolle, dass das Leben nicht all seinen Wert für ihn einbüße. Der Vater aber achtete es für eine große Schande, dass sein Sohn den törichten Wundermann aufzusuchen begehre, und bot alle Gründe dagegen auf, die ihm geläufig waren. Als der Jüngling beharrte, stritt er heftig wider ihn und gab ihm zu bedenken, wie wenig es für den gelehrten Sohn eines guten und strenggläubigen Geschlechtes sich schicke, sein Heil bei solch einem Irrlehrer und ungewissen Wirrkopf zu suchen. So wies er ihn zurück, aber der Jüngling kehrte immer wieder und wiederholte sein Ansinnen immer dringender. Und alle im Hause wurden es gewahr, wie an dieser ungestillten Sehnsucht das Leben des Knaben immer matter wurde und wie eine schier verlöschende Flamme hin und her flackerte. Und zu einer Stunde, als er seinen Wunsch wieder aussprach, neigte sich das Herz des Alten, von Liebe und Erbarmen überwunden, ihm zu. Er versprach, seinem Begehren willfährig zu sein, und beschloß, seinen Sohn selbst zu dem Zaddik zu führen, denn die Hingabe an sein einziges Kind war mächtig in ihm, auch hoffte er im verborgenen Herzen, dass es seiner Klugheit und Erfahrung gelingen werde, den Fremden albern und nichtig erscheinen zu lassen. Indem er einwilligte, sprach er jedoch: „Eins aber möge uns Zeichen sein, dass unsere Fahrt im Willen des Himmels liege: dass im Verlaufe der Reise nichts sich ereigne, was dem Gange des Alltags zuwiderläuft. Sollte uns aber ein Ding widerfahren, das uns den Fuß hemmt, so mag dies ein Hinweis, sein, dass dir der Weg nicht bestimmt ist; alsdann wollen wir umkehren.“ Am nächsten Tage begaben Vater und Sohn sich auf die Fahrt. Sie hatten sich bereits einige Stunden von ihrem Orte entfernt, als ihr Pferd auf einer Brücke stürzte und den Wagen zu Fall brachte. Wohl gingen die beiden unversehrt hervor, der Alte aber maß dem Unfall tiefere Bedeutung bei und wollte ihn nicht anders ansehen, denn als dass er eine Warnung darstelle, den Weg nicht fortzusetzen. So kehrten sie in die Heimat zurück. Aber von dieser Stunde an wurde der Jüngling von so unendlicher Traurigkeit befallen, dass der Vater bald wieder, von seinem Flehen bezwungen, sich aufs neue mit ihm auf den Weg begab. Sie hatten wohl schon eine halbe Tagereise hinter sich, als plötzlich die Achse des Wagens zerbrach und der Rabbi wiederum, verwirrt und geängstigt, da er das Geschehene nicht anders denn als eine höhere Fügung deuten mochte, von der Fahrt abstand und die Umkehr anordnete. Und wieder verzehrte sich der Knabe, dass der Vater vor Herzeleid es nicht länger anzusehen vermochte, und zum dritten Male traten sie die Reise an. Diesmal beschloß der Alte nicht umzukehren und keines Unfalls zu achten, es sei denn, dass ganz und gar Ungewöhnliches ihre Bahn hemme. So fuhren sie bis zum Abend und suchten erst mit eintretender Dunkelheit eine Herberge auf. Während sie in der Wirtsstube Rast hielten, gesellte sich ihnen als dritter ein reisender Kaufmann zu, mit dem sie alsbald in ein Gespräch kamen. Der Rabbi hatte es sich vorgesetzt, im Reden seines Besuches bei dem Zaddik nicht zu gedenken, denn es stand bei ihm fest, dass er sich dessen zu schämen habe. So sprachen sie über mancherlei Dinge der Welt und der Alte erstaunte, wie wohlbewandert und unterwiesen der Fremde auf jeglichem Gebiete sei, und wie er gar schicklich und gewandt die Unterhaltung zu lenken wisse. Und so geschah es, dass der Rabbi wie Wachs in seinen Händen war und der fremde Gast so viel erfuhr, als ihm zu wissen behagte. Und indem sie so von diesem und jenem sprachen, führte der Kaufmann ganz von ungefähr die Rede auf die Zaddikim und wo man welche fände. Als der Rabbi mit einiger Wissbegier auf das Gespräch einging, erwähnte jener, dass unfern von hier ein Zaddik lebe, der viel von sich reden mache. Bei diesen Worten umfing er den Jüngling, der bis dahin ganz still und versunken dagesessen hatte, mit einem eigentümlich blitzenden und durchdringenden Blick. Der Knabe schreckte auf, wie wenn ihn ein schmerzhafter Stich aus dem Schlafe geweckt hätte, und hörte nun, wie sein Vater den Fremden fragte, ob er diesen Zaddik kenne. „Wohl kenne ich ihn,“ erwiderte der Kaufmann mit einem leichtfertigen und höhnischen Lächeln. „So wisst Ihr ohne Zweifel, ob er in der Tat jener ehrwürdige und fromme Mann ist, als der er gilt?“ Da lachte der Fremde wiederum hell auf und sprach: „Der Zaddik ein Frommer und Gerechter? Nie ist mir ein schlimmerer Weltmensch begegnet als er. Mit eigenen Augen habe ich sein sündhaftes Treiben gesehen und ich, der ich zu ihm kam, Hilfe und Beistand zu suchen, zog enttäuscht und entsetzt von dannen.“ Der Alte wendete sich zu seinem Sohne und rief: „Ich habe geahnt, dass es so sei, wie dieser Mann in seiner Einfalt uns sagt. Wir wollen nach Hause kehren. Und nun du es selbst gehört hast, wirst du dein Herz von diesem Wahn befreien.“ Als sie aber heimkamen, legte sich der Sohn hin und verschied. Uferlos war die Trauer, die der Tod über den alten Rabbi brachte. Einige Wochen aber nach dem Hinsterben des Sohnes erschien der Tote dem Vater im Traum, schrecklich anzusehen und flammend gleich einer Säule des Zornes. Zitternd rief der Alte : „Warum sehe ich dich in solcher Gestalt, mein Sohn?“ Da erwiderte dieser: „Mache dich auf den Weg zu jenem Zaddik und du wirst es erfahren.“ Am Morgen gedachte der Rabbi zwar der Erscheinung, aber er meinte, seine Sinne hätten ihn wohl genarrt und dies sei ein Traum wie andere. Aber es kam wieder und kam zum dritten Male, und da wagte der Alte nicht zu widerstehen und begab sich auf den Weg zu jenem Zaddik. Gegen Abend, als das Dunkel und die Müdigkeit ihn überkamen, kehrte er in einer Herberge ein, und als er eine Weile in dem dämmrigen Wirtsraum gesessen hatte, sah er, dass es dieselbe Herberge war, in der er vor wenigen Wochen mit dem jetzt toten Sohne eingekehrt war. Der Gedanke schreckte ihn aus seinem Brüten auf, und er blickte um sich und sah sich gegenüber die Gestalt jenes Kaufmanns sitzen, dem er auch damals begegnet war. Bei seinem Kommen war das Zimmer leer gewesen, und er hatte nicht bemerkt, dass jemand eingetreten wäre. Allein der Schmerz war zu heftig in ihm, als dass er der Verwunderung Raum gegeben hätte. Und so fragte er den Fremden nur: „Bist du nicht jener Kaufmann, mit dem ich vor kurzem hier gesprochen habe?“ Da brach jener in ein unbändiges Gelächter aus und antwortete: „Ich bin es, und was ich wollte, ist mir wohl gelungen. Besinne dich, wie du mit deinem Sohne zum Zaddik ziehen wolltest. Und zueilt stürzte dein Pferd, und du kehrtest um. Und dann zerbrach die Achse deines Wagens, und du kehrtest wieder um. Und zuletzt kamst du und fandest mich und hörtest auf meine Worte und kehrtest um zum dritten Male. Und nun, da ich deinen Sohn getötet habe, magst du schon fahren. Denn wisse, dein Sohn hatte die Stufe des kleinen Lichtes, jenem Zaddik aber ward die Stufe des großen Lichtes gegeben, und wären sie auf Erden zusammengekommen, so hätte sich das Wort erfüllt und der Messias wäre erschienen. Nun aber, da ich deinen Sohn getötet habe, magst du schon fahren.“ Und indem er dies gesagt hatte, wich er unmerklich von hinnen und war verschwunden, und der Rabbi starrte in die leere Luft. Und er zog seines Weges weiter und kam zum Zaddik und warf sich ihm zu Füßen und schrie: „Wehe, wehe um die, so verloren gehen und können nicht wiedergefunden werden.“
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Geschichten des Rabbi Nachman