Die Erzählungen

In den letzten Jahren seines Lebens erzählte Rabbi Nachman seinen Schülern mehrere Märchen und Geschichten. Es war immer irgend ein äußerer Anlass, der ihn zum Erzählen brachte. Einige dieser Anlässe sind uns überliefert Einmal berichtete ihm einer seiner Schüler, was er gerade von dem Kriege der Franzosen gehört hatte, der in jener Zeit war. „Und wir waren erstaunt über die große Erhebung, mit der Jener (Napoleon) erhoben worden war und aus einem Niederen (wörtlich: Knecht) ein Kaiser wurde. Und wir sprachen mit ihm davon. Und er sagte: ,Wer weiß, welche Seele sein ist, denn es kann sein, dass er vertauscht wurde. Denn in dem Quellschlosse der Wandlungen werden zuweilen die Seelen vertauscht.' Und sogleich begann er uns die Geschichte zu erzählen von dem Königssohn und dem Sohne der Magd, die vertauscht wurden.“ Ein andermal kam ein Synagogen-Vorsänger zu ihm, und dessen Kleid war zerrissen. Da sprach er zu ihm: „Bist du denn nicht ein Meister des Gebetes, durch das der Segen herniedergebracht wird? Und du sollst in zerrissenem Gewande gehen!“ Damals erzählte er die Geschichte von dem Meister des Gebetes. Ein andermal wieder hatte ein Schüler einem anderen geschrieben, er möge fröhlich sein. Als der Meister von dem Briefe hörte, sagte er: „Was wisset ihr, wie man sich zu freuen vermag inmitten der Schwermut? Ich will euch erzählen, wie man sich einst gefreut hat.“ Und er begann die Geschichte von den sieben Bettlern, die letzte der Geschichten, die er nicht vollendet hat

Der Antrieb zum Erzählen war für Rabbi Nachman jenes Gefühl, dass seine Lehren „keine Kleider haben“. Die Geschichten sollten die Kleider der Lehren sein. Sie sollten „erwecken“. Er wollte eine mystische Idee oder eine Lebenswahrheit in das Herz der Schüler pflanzen. Aber ohne dass er es im Sinne hatte, gestaltete sich die Erzählung in seinem Munde, wuchs über den Zweck hinaus und trieb ihr Blütengeranke, bis sie keine Lehre mehr war, sondern ein Märchen oder eine Legende. Verloren haben die Geschichten ihren symbolischen Charakter deshalb nicht, aber er ist stiller und innerlicher geworden.


Rabbi Nachman fand eine Tradition jüdischer Volksmärchen vor und knüpfte an sie an. Aber er ist der erste und bisher einzige wirkliche Märchendichter unter den Juden. Alles Frühere war anonyme Schöpfung; hier zum erstenmal ist Person, persönliche Intention und persönliche Gestaltung,

Die Geschichten wurden von seinen Schülern, namentlich von seinem Lieblingsschüler, Nathan von Niemirow, der sein eigentlicher Apostel war, aus dem Gedächtnis niedergeschrieben, die meisten (insbesondere die nicht in die Sammlung aufgenommenen) in völlig verstümmelter und fragmentarischer Weise. Nathan pflegte allerdings die einzelnen Geschichten, damit er sie nicht vergesse, sogleich nach dem Hören zwei anderen zu erzählen, bevor er nach Hause ging, um sie niederzuschreiben; doch scheint er mit der Niederschrift oft länger gewartet zu haben, denn von manchen Dingen gibt er selbst zu, dass er sie vergessen hat, von anderen auch geradezu, dass er sie nicht „zu ihrer Zeit“ niederschrieb. Bei den Lehrworten kann man erkennen, welche unmittelbar aufgezeichnet wurden; sie zeigen den Geist und die Sprache des Meisters. Von den Geschichten hingegen sind alle offenbar entstellt Einen ebenbürtigen Schüler, der das Vergessene im Sinne des Erzählers hätte ergänzen können, besaß Rabbi Nachman nicht; und er selbst sah sich wohl hier und da einmal die Niederschrift der Lehrworte an, niemals aber die der Erzählungen. So gilt vor allem von ihnen, was zwei frühe Geschichtsschreiber des Chassidismus von den Niederschriften der Schüler sagen. „Sie schrieben Dinge, die er nie gesagt hatte,“ meint der eine, und der andere urteilt: „Sie glichen das Wort, das er gesprochen hatte, dem an, was sie selbst dachten.“

Dreizehn der Geschichten sind fünf Jahre nach dem Tode des Meisters, 1815, gesammelt und in dem jüdischen Original mit hebräischer Übertragung veröffentlicht worden. Von diesen sind hier sechs mitgeteilt.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Geschichten des Rabbi Nachman