Die Legende des Baalschem

In die Tiefen der jüdischen Volksseele, auf das brandende Meer von Hoffen und Verlangen, von Dichten und Träumen des Ghetto vor 100 Jahren führt das Legendenbuch Martin Bubers. In schroffem und bewusstem Gegensatz zu den einseitigen Bestrebungen des rationalistisch gestalteten Judentums dringt Buber mit seltenem Scharfblick in die Abgrundtiefen des Sehnens und Träumens der jüdischen Masse im Osten. Auf dem Boden der Armut und des Elends, in der Unweit des Pogroms, unter hagern, schwächlichen Menschen mit eingefallenen Wangen und tiefliegenden, schwärmerischen Augen, entkeimt ihm die blaue Blume der mystischen Romantik. Die Legende des Baalschem ist eine psychologische Studie. Es ist die Geschichte einer Gottesberufung, der Werdegang eines religiösen Genies, der in diesen 21 Märchen erzählt wird. Der Mann, um den sich diese Legenden gruppieren und dessen Wesen sie schildern, gehört zu jenen seltenen Erscheinungen der Geschichte, zu jenen Flügelmännern der Menschheit, die in sich den Typus ihrer Zeit und ihrer Rasse darstellen. Es werden die unbewussten Unterströmungen der Menschenseele in der Brust dieser Erwählten, dieser fein und zart Besaiteten ins Reich

des Bewusstseins erhoben, so dass sich all das Seelenleid und Seelenhoffen eines Volkes in ihnen zu einem gewaltigen, alles bezwingenden Wollen wie in einem Brennpunkt vereinigt. Daher geht auch von dem Helden des Buches ein mitreißender Strom warmer Sympathien aus. Er fühlt den Herzschlag der Natur und ist eins mit ihr; ihm flüstern die Blätter und raunen die Blumen das Geheimnis des Werdens und Vergehens zu; vor seinem ungebrochenen Willen zerfließen die Grenzen von Raum und Zeit in nichts: mit dem Saum seines Gewandes berührt er die Erde, seine Hände reckt er in die Wolken. Die stille, nach innen gekehrte Geistesklarheit dieses Gottessuchers verbreitet Ruhe und Frieden um sich; die Räder des Weltgetriebes scheinen in ihrem ewigen Lauf einzuhalten, um seinen Worten zu lauschen, dieweil sein Inneres von der geheimnisvollen geistigen Flamme der Ekstase erleuchtet und — verzehrt wird. — Schon in den Geschichten des Rabbi Nachman hat Buber gezeigt, dass er diese Legendengestalten, die heute mit abergläubischem Geröll bis zur Unkenntlichkeit überschüttet sind, in ihrem rein menschlichen Kern zu erfassen und dementsprechend umzudichten versteht. Dabei entwickelt das Buch eine metaphysische Philosophie, welche, wenn auch nicht im Schatten uralter Palmenhaine oder immergrüner Olivengehänge erwachsen, dennoch den Gedanken eines Buddha oder Franziskus von Assisi ebenbürtig an die Seite gestellt werden kann. Die Sprache des Buches ist von einer herben Melodik, dabei von großem, reinem Pathos beseelt, so dass sie sich an manchen Stellen zu biblischer Schönheit emporschwingt. Man denkt an die Glaubensmission des Nazareners, wenn dieser Messias des Ghetto, unter einer Hauspforte stehend, seine schlichten Reden hält. Dann zieht er in den Bannkreis seiner Worte die Mägde, die mit dem Wasserkrug auf der Schuher stehen bleiben, die Arbeiter mit Schere und Feile, mit Leisten und Spaten in der Hand.


Einen Faust der Tat, einen Brand im mystischen Gewande schildern die Legenden des Baalschem, des „Meisters des wahren, sonst unaussprechlichen Gottesnamens“ (Baal = Herr, Schema Name). In diesem schlichten Märchen entfaltet sich das große Menschheitsdrama: die Tragödie der ekstatischen Leidenschaft, die aus dem schmerzlich empfundenen Gegensatz eines klar vorgestellten Ideals zur wirklichen Welt entsteht, und die von ihr Erfassten unter ihrer Wucht zuletzt begräbt.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Geschichten des Rabbi Nachman