Die Geschichte von den sieben Bettlern

Es geschah vor Zeiten, dass ein Land von dem Fluch des Krieges überfallen wurde. Während die waffentüchtigen Männer dem Feind entgegenzogen, brach er vom Rücken her in das Land ein, traf Weiber und Kinder unbewehrt, riss ihr Gut an sich und trieb sie in die Flucht. Also von Not und Schrecken getrieben, eilten die Verjagten durch die Wälder. In der Hast und Verwirrung fügte es sich, dass zwei Mütter je eines ihrer Kinder verloren : es waren ein kleiner Knabe und ein kleines Mädchen, die zusammen gespielt hatten und nun in ihrer Verlassenheit vereint waren. Nachdem sie einen halben Tag weiter gescherzt und sich mit Moos und Steinen vergnügt hatten, begann sie der Hunger zu quälen, sie fassten einander an den Händen und gingen weinend immer tiefer in den Wald. Schließlich gerieten sie auf einen Weg, und nachdem sie ihm eine Weile gefolgt waren, kam ihnen ein Bettler entgegen, der eine gefüllte Tasche an seiner Seite hängen hatte. Sie liefen auf ihn zu und klammerten und schmiegten sich an ihn und baten ihn, er möge sie nicht allein lassen. Da reichte er ihnen Brot und Speise und ließ sie sich sättigen, dann aber hieß er sie getrost und guten Mutes weiter gehen, denn er könne sie nicht geleiten. Während er so sprach, sahen ihm die Kinder ins Angesicht und gewahrten, dass er blind war; und sie verwunderten sich gar sehr, wie er so sicher seines Weges dahergezogen war. Der Blinde aber entließ sie und segnete sie mit dem Spruche: „Möget ihr sein wie ich.“ Die Kinder wanderten weiter. Die Nacht brach über sie herein, sie fanden einen hohlen Baum und legten sich darin zur Ruhe. Als sie am Morgen erwachten, erhoben sie sich und gingen weiter. Nach einer Weile verlangte es sie von neuem nach Nahrung, und sie begannen zu klagen. Da trat ihnen auf ihrem Wege wieder ein Bettler entgegen, und sie baten ihn, wie sie tags vorher den Blinden gebeten hatten. Jener bedeutete sie, dass er taub sei und sie nicht hören könne, aber er sah, dass sie hungrig und verlassen waren, und speiste und tränkte sie. Als er sich wandte, gewahrte er, dass sie ihm folgen wollten. Da wies er sie an, ihres Weges weiter zu gehen und nicht zu verzagen; und auch er segnete sie mit den Worten; „Möget ihr sein, wie ich.“ Des folgenden Tages, als der Hunger sie wieder zu peinigen begann, begegneten sie abermals einem Bettler, dem sie ihre Not klagten. Er hörte ihnen zu und antwortete, aber sie konnten ihn nicht verstehen, denn er hatte eine schwere Zunge und stotterte. Er reichte ihnen Speise und Trank und tröstete sie, wollte sie aber nicht mit sich nehmen, sondern schied mit demselben Segenswunsche wie die früheren. Am vierten Tag fanden sie einen Bettler mit einem schiefen Halse, am fünften Tag einen Buckligen, am 'sechsten einen Mann mit lahmen Händen und am siebenten einen mit lahmen Füßen. Jeder spendete ihnen Nahrung und Zuversicht und segnete sie in der gleichen Weise. Am achten Tag verließen sie den großen Wald und sahen freundlich und glänzend vor sich im Tal ein Dorf liegen. Sie traten in das erste Haus und baten um Brot, und man gab ihnen reichlich. So gingen sie von Tür zu Tür, und als sie das Dorf verließen, hatten sie mehr, als ihre Hände fassen konnten. Da beschlossen sie, von nun an einander nimmer zu verlassen und zu zweit von der Menschen Güte zu leben, und sie nähten sich große Taschen, um die Gaben darin aufzunehmen. Und also durchstreiften sie fortan das Land, und man sah sie auf jedem Markt in der Schar der Bettler, und bei jedem Fest und bei jeder Hochzeit stellten sie sich ein. Und bald gewannen sich die zierlichen jungen Gestalten die Liebe der Genossen, wenn sie so, zart und einfältig, mit dem Teller in den kleinen Händen zwischen den verwitterten Alten auf den Schwellen saßen. Jeder Bettler im Land kannte die verlorenen Kinder und beschützte sie wie sein eigen Blut, wo er sie traf.

So vergingen die Zeiten, und die Kinder wuchsen heran. Einmal im Jahr war in der Hauptstadt des Landes ein großer Markt, zu dem viele Menschen aus allen Gegenden sich versammelten. Da gab es mancherlei Spiel und Lustbarkeit, alle Hände waren mild und offen, reichlich floßen die Gaben den Bettlern zu, von denen keiner fehlte, und auch sie wurden aufgeräumt und guter Dinge. Sie sahen voller Freude auf die beiden jungen Leute in ihrer Mitte, und in der heiteren Laune des Festes gerieten sie auf den Einfall, die beiden, die von früher Kindheit an stets beisammen geblieben waren, miteinander zu verheiraten. Der Knabe und das Mädchen waren es wohl zufrieden, und es war nur eine Sorge: wie man den Ort zur Hochzeit und das Festmahl bereiten könne. Doch war auch dafür bald Rat gefunden. Einer der Bettler schlug vor, man möge bis zum Geburtsfeste des Königs warten, da würde es der Speisen und Getränke für das Bettelvolk in Fülle geben; alles, was sie an Braten, Kuchen und Wein bekämen, möge man sammeln und die Hochzeit damit ausrichten. So geschah es. Am Vorabend des Festes aber hatten die Bettler eine Höhle vor der Stadt mit grünen Reisern und Feldblumen ausgeziert, große Steine zu Tischen zusammengeschoben und einen Baldachin aus blühendem Buschwerk bereitet.


Alle Bettler kamen zur Hochzeit und brachten ihre Gaben, und alle waren voller Freude. Inmitten des Glücks aber gedachte das Brautpaar des Tages, da sie als kleine Kinder im Walde verloren gegangen waren, und des blinden Bettlers, der ihren Hunger liebreich gestillt und sie getröstet hatte. Und ihre Herzen wurden bange vor Verlangen, den Alten wiederzusehen. Während sie so saßen und ihrer Sehnsucht nachsannen, beschattete sich der Eingang der Höhle, und in der Öffnung erschien eine gebeugte Gestalt, dunkel gegen den lichten Himmel. Eine Stimme sprach: „Sehet, hier bin ich,“ und sie erkannten den ersten Bettler, der ihnen im Walde begegnet war. Er sprach weiter: „Ich bin gekommen, um euch meine Gabe zur Hochzeit darzubringen. Einst, da ihr Kinder wart, habe ich euch gesegnet, ihr möget sein wie ich. Heute schenke ich es euch als vollendetes Geschehen, dass ihr ein so langes Leben haben möget wie ich. Ihr meinet, ich sei blind. Aber ich bin nicht blind. Sondern also ist es, dass alle irdischen Zeiten zu mir nicht aufsteigen und mir nicht für einen Augen-Blick gelten. Ich bin sehr alt und noch gar jung, und ich habe noch nicht angefangen zu leben. Und das ist nicht mein eigen Wähnen, sondern der große Adler hat es mir eröffnet und zugesprochen. Und also hat sich dieses ereignet:

Es geschah einst, dass eine Schar von Männern auf wohlausgerüsteten Schiffen eine Fahrt aufs Meer unternahm. Da aber gerieten sie in einen großen Sturm und unterlagen ihm dermaßen, dass sie nichts als das Leben retten konnten, indem sie schwimmend ein Eiland erreichten, das sich ihnen unverhofft geboten hatte. Wie sie die kleine Insel durchstreiften, sahen sie in ihrer Mitte einen Turm sich erheben, sie betraten ihn und stießen in ihm zwar auf keine lebendigen Gestalten, fanden aber gleichwohl alles, was der Notdurft des Lebens dient. Als der Abend anbrach, hatten sie durch eine Rast die Müdigkeit der Körper besiegt und sich um ein heiteres Licht versammelt. Einer unter ihnen kam mit dem Vorschlag, man möge erzählen. Jeder möchte die älteste Begebenheit, deren er sich entsinne, und den ersten Ursprung seines Gedenkens vorbringen. Da ihrer aber Greise sowohl als Jünglinge waren, erwiesen sie dem Ältesten die Ehre und baten ihn, zuerst zu erzählen. Der war ein meeralter Mann und sprach mit einer Stimme, die wie aus der Ferne kam: „Was soll ich euch erzählen? Ich erinnere mich des Tages, da man den Apfel vom Zweige schnitt.“ Da erhob sich der Zweitälteste und sprach: „Ich aber denke noch der Zeit, da das Licht brannte.“ Und der dritte, der noch jünger war, rief: „Ich weiß mich zu entsinnen der Tage, da die Frucht sich zu formen begann.“ „Mein Gedenken aber,2 fügte der vierte ein, „reicht bis zu der Stunde, da der Same in den Blütenkelch fiel.“ „Und mir ist noch gegenwärtig,“ sagte ein fünfter, „wie der Geschmack der Frucht in den Samen einging.“ „Und mir,“ setzte der sechste ein, „wie der Geruch der Frucht in den Samen einging.“ „Und mir ist noch inne,“ sprach der siebente, „wie die Gestalt der Frucht sich dem Keim verband.“ „Ich aber“ — so redete der blinde Bettler weiter — „der ich damals noch ein Knabe war, bin auch mit ihnen gewesen. Und ich sagte zu ihnen: Ich entsinne mich aller dieser Begebenheiten, und ich entsinne mich des Garnichts.“ Und sie waren alle voller Staunens, dass die Jüngsten das früheste Gedenken hatten und das Kind von dem urältesten Geschehen wusste. Da kam der große Adler und pochte an den Turm und hieß sie alle heraustreten nach ihrem Alter: den Knaben hieß er vor allen gehen, denn er war in Wahrheit der Älteste im Gedenken, und den Ältesten führte er zuletzt hinaus, denn er war in Wahrheit der Jüngste. Und der große Adler sprach: „Möget ihr euch erinnern, wie ihr vom Mutterleibe gelöst wurdet, oder wie ihr wuchset im Mutterleibe zur Zeit, da ein Licht auf dem Haupte des Kindes brennt, oder wie sich eure Glieder zu formen begannen im Mutterleibe; möget ihr euch der Stunde entsinnen, da der Same in den Mutterschoß fiel; möget ihr gedenken eures Geistes, ehe er in den Samen einging, oder eurer Seele, oder eures Lebens, ehe es in den Samen einging: — dieser Knabe ist über euch allen, denn ihm weben noch im inneren Sinn die Schatten des Uranfangs, und der Flügelschlag an der Schwelle des Werdens tönt noch in ihm nach, und der Anhauch des großen Nichts ist von ihm nicht gewichen. So steht er auf den Abgründen der Ewigkeit wie auf heimatlichem Boden.“ Und weiter sprach der große Adler zu ihnen: „Höret auf, arm zu sein und euch an fremdem Tische zu nähren, wendet euch den Schätzen zu, die euch gegeben sind, sie zu nützen. Geister, eure Körper sind zerschlagen, die Schiffe, auf denen ihr gekommen seid; siehe, sie werden wieder erbauet werden und wiederkehren.“ Zu mir aber sprach er, und seine Stimme kam aus den Wolken und war wie die Stimme eines Bruders : „Du komm mit mir, und sei mit mir, wo immer du wandelst, denn du bist wie ich, du bist alt und gar jung, und hast noch nicht angefangen zu leben, und so bin ich, alt und gar jung, und die Zeiten der Zeiten sind vor mir. Und so mögest du bleiben.“ Also sprach der große Adler zu mir. Und dieses, ihr Kinder, schenke ich euch heute als hochzeitliche Gabe, ihr möget sein wie ich.“ Und mit diesen Worten des blinden Bettlers ging ein Rauschen großer Freude durch die Höhle, dem Bräutigam aber und der Braut stand das Herz still vor der Berührung des Wunders.

Am zweiten Tag der Hochzeit saß das Brautpaar schweigsam in der Reihe der Fröhlichen und gedachte voller Wehmut des zweiten Bettlers, des Tauben, der sie gespeist hatte, als sie in dem großen Wald umherirrten. Während sie ihn herbeiwünschten, sahen sie ihn schon vor sich stehen, ohne dass sie sein Kommen gemerkt hätten. Und er redete zu ihnen: „Hier bin ich, da ihr nach mir verlanget, und bin gekommen, dass ihr durch mich besitzen möget, was ich einst als Segen über euch sprach, ihr sollet sein wie ich. Ihr wähnet, ich sei taub. Ich bin nicht taub. Mein Ohr vermag nur dem großen Schrei der Not, der aus der Welt aufsteigt, keinen Eingang zu bieten. Denn die Stimme jeglicher Kreatur ist aus der Not geboren. Zu mir aber dringt all ihr Rufen nicht hin, und mein Herz wird von der Angst der Schöpfung nicht erfasst. Und mit dem Brot, das ich esse, und dem Wasser, das ich trinke, lebe ich ein gutes Leben ohne Not und Gier. Des habe ich ein Zeugnis aus dem Munde der Leute, die in dem Reiche des Überflusses leben. Deren war einst eine Schar versammelt, und sie rühmten sich hoch und mit gar großen Worten des herrlichen Lebens, das sie in ihrer Heimat lebten, wo alles in Fülle gedieh. Da sprach ich, der zugegen war: „Euer Leben ist eitel und ein unseliges Spiel vor dem meinen.“ Da maßen sie meine graue Tracht und meine Betteltasche und lächelten über mich als über einen Toren, Ich aber sprach zu ihnen: „Nun wohl, so wollen wir prüfen, wes Leben das bessere sei. Ich weiß ein Land, das war einst ein großer, wunderbarer Garten, wo in unerhörter Üppigkeit die köstlichsten Früchte der Erde gediehen, deren Anblick, Duft und Genuss alle Sinne der Bewohner dermaßen erfreuten und erquickten, dass es ihnen dünkte, nimmer und nirgends könnte die Wonne ihres Lebens übertroffen werden. Über all ihr Gebiet war ein Gärtner gesetzt, der mit Weisheit hegte und pflanzte und die Schönheit und Fruchtbarkeit des Landes jedes Jahr von neuem schuf. Aber es geschah eines Nachts, dass der Gärtner entschwand, und niemand wusste seinen Ort. Da verging der Segen von Jahr zu Jahr, die blinden Triebe wucherten in Menge, die Wildnis überzog das Land, und von Ernte zu Ernte minderte sich der Ertrag. Dennoch hätten die Insassen von dem reichen Nachwuchs sich nähren und in Freuden leben können, wäre nicht ein anderes Unheil über sie hereingebrochen. Ein fremder grausamer König kam mit seinen Scharen gezogen und machte sich das Land zu eigen. Er vermochte ihren Garten nicht, wie er es gern gewollt hätte, in seiner unverwüstlichen Triebkraft zu vernichten; so beschloß er, die Reinheit der Sinne seiner Einwohner zu zerstören, und ließ, während er auf seinem Eroberungszuge weiter eilte, die drei zügellosesten und verderbtesten Scharen seiner Knechte zurück. Diese lebten von nun an unter den Leuten des Landes, steckten sie mit ihren Lastern an und brachten Bestechung und Verleumdung und Buhlerei unter sie. Da verdunkelten sich den Leuten die einst von der freien Unschuld des Gartens genährten Sinne, ihre Augen sahen nur Trübe und Finsternis, ihr Mund schmeckte nur Bitterkeit, und ihr Geruch nahm nichts wahr, als den Gestank der Fäulnis, so dass es sie vor der Nahrung, die der Garten bot, ekelte, dass seine Düfte sie betäubten und sein Anblick ihnen zum Grauen wurde. Nun also gehet hin, ihr Söhne des Überflusses, und helfet jenen aus der Fülle eures guten Lebens.“ Da machten sich die Leute auf und zogen mit mir in das Land des Gartens. Als sie aber dort anlangten, waren die Greuel der Verderbnis so groß, dass ihr Anblick den Reichen selbst die Sinne verwirrte und der Geschmack ihres Mundes ihnen widerlich ward. Da sprach ich zu ihnen: „Nun ist es euch wohl inne geworden, dass all euer gutes Leben diesen nicht zu helfen vermag.“ Und ich versammelte die Leute des Gartens und bot ihnen von dem Brot und dem Wasser, das ich in meiner Tasche trug, und ich verteilte es unter sie alle. Und siehe, die Güte meines Lebens überkam sie, und sie schmeckten in meinem Brot und in meinem Wasser alle Wohlgerüche und jeglichen Wohlgeschmack aller Speisen der Welt. Ihre Sinne gewannen ihre Helle und Reinheit wieder, und sie verabscheuten ihr verirrtes Leben und erhoben sich und jagten die Knechte des grausamen Königs aus dem Lande. Und alsbald stand der verlorene Gärtner in ihrer Mitte, und jeder sah und fühlte den alten Segen wiederkehren. Also schauten die Leute aus dem Reiche des Überflusses, wie durch mich jene erlöst worden sind, und sie erkannten die Macht und Fülle meines guten Lebens. Euch aber, ihr Kinder, schenke ich es heute als hochzeitliche Gabe, ihr möget sein wie ich.“ Und wie der taube Bettler dies gesprochen hatte, zog wieder der helle Jubel durch die Höhle, und der zweite Tag des Festes verging in strahlender Freude.

Aber als der dritte Morgen anbrach, überkam das Brautpaar wieder die Bangnis, und übermächtig wuchs in ihnen die Sehnsucht nach dem dritten Bettler, dem Stammler, der sie im Walde gespeist und gesegnet hatte. Und wie sie zueinander redeten: „Dass man doch wüsste, wo er weilt, ihn zu rufen und zu laden!“, da stand er vor ihnen, wunderbar, als käme er aus dem Herzen der Erde, und nahm sie in seine Arme und sprach mit klarer und lauter Stimme: „Einst habe ich euch gesegnet, ihr möget sein wie ich; und heute soll mein Segen auf euch herabkommen und an euch offenbar werden. Ihr wähntet. Stammeln sei meine einzige Rede, aber nicht also ist es, sondern die Laute der Welt, die nicht Gottessinn und Gottesweihe tragen, sind nur unwürdige Trümmer des wahren Wortes und klingen wie Scherben in meinem Munde. Mir ist gar große Macht der Sprache geschenkt, und das edelste Lied ist mir beschieden als dem Herrn der Sänger, und da ist kein Geschaffener, der mir nicht lauschte, bis mein Ton durch seine Seele zittert, wie der Ton der reinsten Glocke durch die klare Luft Und in dem Lied ist eine Weisheit, die über aller Weisheit der Welt ist. Dieses ist mir gewiß aus dem Munde des gewaltigen Mannes, der da heißt der Mann der wahren Gnade. Denn ich gehe über die Erde und sammle alle Guttaten und alle Werke der Gnade und bringe sie jenem Manne. Und aus den Guttaten und den Werken der Gnade wird die Zeit geboren und erneuert sich in ewigem Strom, Denn die Zeit ist kein festes Ding und kein Sein von jeher, sie ist ein Ding, das geschaffen wird, und aus dem Tun der Seelen wird sie geschaffen. Ich will euch erzählen die Sage der Sagen, welche die urtiefe Wahrheit ist. An dem letzten Abgrunde des Raumes steht ein Berg, und auf dem Berge lagert ein Fels, und dem Felsen entströmt ein Quell. Aber wisset, dass jeglich Ding der Welt ein Herz hat, und auch die Welt selbst hat ein Herz. Und jener Berg mit dem Fels und dem Quell steht an dem einen Ende des Raumes, wo der letzte Abgrund beginnt, und das Herz der Welt steht an dem anderen Ende des Raumes, wo der erste Abgrund endet. Und das Herz der Welt steht da dem Quell gegenüber, und es schaut aus nach ihm über die Fülle des Raumes und über alle Dinge hin, die im Räume sind, und es bangt nach dem Quell mit großer Bangigkeit, zu ihm zu kommen. Und das Herz schreit nach dem Quell immerdar. Ist es aber ganz ermattet und will ein Weilchen ruhen und aufatmen aus seiner Not, dann kommt ein großer Vogel und breitet seine Flügel über ihm aus, und dann ruht es eine Weile in ihrem Schatten, aber auch in der Ruhe noch weiß es den Quell und schaut ihm entgegen. Und nach der Ruhe hebt es sich auf, zu dem Quell zu gehen. Aber wie es nur sich ihm entgegenregt, sieht es den Hang des Berges nicht mehr, den es bislang sah, und es vermag nicht mehr dem Quell entgegenzuschauen. Und würde sein Schauen zum Quell ganz und gar enden, dann müsste es vergehen, denn sein Leben ruht in dem Quell und in der Bangigkeit nach ihm. Und mit dem Herzen müsste die Welt vergehen, denn ihr Leben und das Leben jeglichen Dinges ruht in ihm, und nur aus ihm hat alles seinen Bestand. Aber wie es den Hang des Berges nicht mehr sieht, da wird die Bangigkeit, den Quell zu schauen, größer denn die Bangigkeit, zu ihm zu kommen, und das Herz der Welt kehrt zurück an seinen Ort. Dem Quell aber ist nicht Dauer gegeben, denn er ist jenseits der Zeit und kann aus sich selbst kein zeitliches Leben gewinnen. Und so müsste er ewig im Zeitlosen verborgen bleiben und könnte nie dem Herzen offenbar werden. Aber er empfängt von dem Herzen ein zeitliches Leben. Denn das Herz schenkt ihm Einen Tag und bringt ihn ihm als Gabe dar, und so dauert der Quell. Und wenn der Tag sich neigt und in den Abend mündet, dann sprechen sie zueinander Worte des Abschieds und des letzten Segens, und das Lied des ewigen Bangens steigt auf. Und das Herz steht in großem Bangen und will vergehen, denn es hat nicht mehr zu geben als Einen Tag, und die Angst ist über ihm, dass der Quell ihm entrückt werde über die Schranke der Zeit. Aber der Mann der wahren Gnade wacht mit wissenden Augen über Herz und Quell. Und da der Abend sich zur Nacht weitet und das bange Lied durch die Nacht tönt, schenkt er dem Herzen einen neuen Tag, und das Herz schenkt den Tag dem Quell. Aber wisset: die Zeit, die der Mann der Gnade vergibt, hat er aus meiner Hand. Denn ich gehe über die Erde und sammle alle Guttaten und alle Werke der Gnade. Und ich spreche über ihnen die Worte der großen Einung, und sie werden selbst zur Melodie, und diese bringe ich dem Manne der wahren Gnade, und er schafft aus ihr die Zeit; denn Zeit wird aus Melodie geboren und Melodie aus Gnade. Und so entströmen dem Liede die Tage und kommen zum Herzen und vom Herzen zum Quell, und so dauert die Welt und besteht in ihrer Bangigkeit. Mir aber füllen ewiglich Wort und Lied die Seele. Und dies schenke ich heute euch, ihr Kinder, als hochzeitliche Gabe, ihr möget sein wie ich.“ Schweigend, die Stirn geneigt vor dem neuen Glück, empfingen die beiden die Rede des Bettlers, und still, aber im Herzen seligen Liedes voll, verging ihnen der dritte Tag.

Am vierten Morgen kam wieder eine Sehnsucht zu ihnen nach dem Bettler mit dem schiefen Halse, der ihnen einst so viel Güte erwiesen hatte. Und wieder stand er, wie von ihrem Verlangen gerufen, unversehens vor ihnen und sprach: „Ich bin gekommen, meinen Segen vom Walde her, da ihr Kinder wäret, in reiner Erfüllung zu erneuern. Vermeinet ihr nicht, ich hätte einen schiefen Hals und vermöchte nicht geraden Antlitzes euch ins Auge zu schauen? Sehet, ich habe einen aufrechten Hals wie ihr. Aber ich wende immerdar mein Angesicht von den Eitelkeiten der Menschen und mag meinen Atem nicht mit ihrem Atem mischen. Mein Hals und meine Kehle .jedoch sind derart wohlgebaut, dass ich alle Stimmen der Welt, die nicht Rede und Wortgebärde sind, aus meiner Kehle erzeugen kann, und es gibt keinen so fremden Klang, dass ich ihn nicht in seiner vollen Art bilden könnte. Und das ist mir bestätigt von den Leuten im Lande der Musik. Denn es gibt ein Land, da sind sie alle der Flöte und des Saitenspiels kundig, und die Weisen schallen tausendfältig und doch verschwistert durch die Straßen, und noch das Lallen der Kinder ist dort ein wundersamer Gesang. Und jeder fühlt in seiner Kehle mannigfaltige Stimmenfülle, und die Stimmen drängen sich in ihm und gebieten, sie zu singen und freizumachen. Einmal erzählten sich die Meister jenes Landes von den Stimmen, die in ihnen lebten, wie nicht bloß der lebenden Dinge Ton zu ihnen komme und sie bitte, ihm durch ihren Mund zur Freiheit und Vollkommenheit zu helfen, sondern wie auch die Seele der Harfe und der Laute und der Viola sich ihrer Seele vermählten und aus ihr redeten. Da rief ich, der ich mit ihnen war, sie an und sprach: „Meine Stimme fasst all der euren vielfältigen Beruf in sich und mehr als dies; denn sie ist aller Klänge teilhaftig, die nie zu euch gelangten. Denn von Uranbeginn haben alle Wesen, denen das Wort nicht gegeben ist, nach meinem Kommen verlangt, sie zur reinen Stimme zu bringen, und das im Ton zu heben, was in ihrem Herzen zu innerst lag. Und wollet ihr meine Macht schauen und eure an ihr messen, wohlan! Es gibt zwei Menschenreiche, die sind tausend Meilen fern voneinander. Und kommt die Nacht, dann ist den Menschen jener Reiche kein Schlaf gegeben, sondern sie stehen umher, das Gesicht an die Mauer gepresst, oder wandeln umher, mit müden Händen die Schläfe umfassend, und klagen eine bittere Klage, alle, Männer, Weiber und Kinder. Und die Tiere winseln, und die Bäume seufzen, und die Wasser rauschen traurig, und noch von den Steinen steigt eine starre Wehklage auf. Wohlan, ihr Meister, helfet jenen Reichen, besieget die klagende Stimme mit euren Stimmen!“ Da begehrten sie, ich möge sie zu dem einen der Reiche führen, und ich führte sie und brachte sie dahin. Und es war Abend, als wir an die Grenze jenes Reiches kamen. Und wie wir an der Grenze waren, da begannen sie selber alle zu klagen eine gar bittere Klage, und ihre Stimme einte sich dem großen Klagechor, der aus dem Lande aufstieg. Da sprach ich zu ihnen: „Ihr sehet nun, wie eure Macht erliegt und hilflos von einer größeren mitgerissen wird. Ich will euch aber erzählen, wie es mit diesem Ding beschaffen ist. Es gibt zwei Vögel, ein Männchen und ein Weibchen, und sie sind ein einziges Paar, und keine anderen ihrer Art sind in der Welt. Eines Tages fügte es sich, dass sie voneinander kamen und einander nicht wiederfinden konnten. Da gerieten sie in Angst, und indem sie suchend einander sich zu nähern wähnten, flogen sie immer weiter auseinander und flatterten und riefen, bis sie endlich ermattet niedersanken und nimmer hofften, einander wieder zu finden. Da ließ sich jedes in dem Geäste des nächsten Baumes nieder. Und es traf sich, dass das eine in dem einen, und das andere in dem andern der zwei Reiche war, und die tausend Meilen lagen zwischen ihnen. Und da klagen sie die Klage ihrer Sehnsucht, jedes an seinem Ort in die Ferne hin. Am Tage kommen alle Vögel aus den Wäldern ringsum zu jedem der beiden und trösten es mit tausend zwitschernden und gurrenden Rufen und sprechen ihm zu, es werde sein Gemahl wiederfinden; und so schweigt das Herz der beiden am Tage, wiewohl es zittert und voller Trauer ist, und sucht sich Frieden im Tröste. Aber wenn der Abend kommt und die Scharen verflogen und die Laute verstummt sind, dann fühlt jedes wieder ganz und gar, wie allein es in der Welt ist, und hebt seine Klage an. Und da die Klage ertönt, ist sie gar laut und weithin hallend, und keiner, der sie hört, kann ihr widerstehen, alle zwingt sie einzustimmen, und greift von Mund zu Mund, und erfasst immer neue Stimmen, und zieht wie gewaltige Flut durch das Land. Und da die Klage also durch das Land geht, ist aller Wesen inneres Weh in ihr, denn jedes Dinges heimlicher Schmerz hat sich an seinem Erbarmen entzündet. So stehen die zwei Reiche in Klage Nacht für Nacht.“ Da sprachen die Meister zu mir: „Wohlan, und du, vermagst du ihnen zu helfen?“ Und ich sprach zu ihnen: „Fürwahr, ich vermag es. Denn da die Stimmen aller Dinge in mir lebendig sind und jede Stimme mir ihr Leid verkündet hat, bin ich des Leidens aller Dinge voll. Und also, dieweil euch euer Erbarmen übermannt und zu einer Beute der Klage macht, ist mein Erbarmen der inneren Herzen kundig und ist gesammelt zur Tat,“ Und ich führte die Meister hinweg, um sie von der Klage zu befreien, und kam mit ihnen in ihr Land zurück, das zwischen den zwei Reichen lag. Und da ich nicht bloß die Stimmen aller Dinge erzeugen kann, sondern sie auch zu werfen vermag, wohin ich will, also dass die Stimme, die ich bilde, nur an dem Orte gehört wird, an den ich sie werfe, wie fern er auch sein mag, schuf ich in meiner Kehle die Stimme des Männchens und warf sie zum Weibchen hin, und schuf die Stimme des Weibchens und warf sie zum Männchen hin. Und so hörten die zwei Vögel einander in meiner Stimme, und sie zitterten und saßen still auf ihren Zweigen und konnten sich nicht regen. Dann aber flogen sie auf und flogen mit steter Gewalt dem Rufe zu. Und sie fanden einander an dem Orte, wo ich mit den Meistern saß. So wurde die Klage gelöst. Euch aber, ihr Kinder, schenke ich dies heute als hochzeitliche Gabe, ihr möget sein wie ich.“ Da zogen das große Erbarmen und die helfende Kraft in die Herzen der beiden ein.

Am fünften Tage drang in ihre Freude die Erinnerung an den fünften Bettler, den Buckligen, und sie sehnten sich sehr nach ihm, dass er an ihrem Feste teilhabe. Da stand er schon vor ihnen und fasste ihre Hände und sagte: „Hier bin ich, zu eurer Hochzeit gekommen, meinen einstigen Segen zum Geschenk zu wandeln. Ich sprach es über eurer Kindheit, ihr möget sein wie ich. Euch dünkt, ich sei bucklig; das ist ein Schein und eitel Trugwerk und kommt daher, weil ich alle Lasten der Welt auf meinem Rücken trage, und mein Rücken ist gerade und stark, und er hat die Gabe des Kleinen, das das Große bezwingt. Denn ich trage auf meinem Rücken alle Lasten der Welt, Angst und Elend und Überdruss, alle nehme ich sie auf meine Schultern und trage sie. Und einst versammelten sich die Weisen und sie sprachen davon, wer wohl in Wahrheit das Kleine habe, das das Große bezwingt. Einer sprach: „Mein Hirn ist das Kleine, das das Große bezwingt; denn in meinem Hirne trage ich das Bedürfen von tausend und tausend Menschen, die an mir hangen, und aus meinem Hirne speise ich sie und gebe jedem das Seine.“ Da lachten sie seiner und schüttelten die Häupter. Und ein anderer sprach: „Mein Wort ist das Kleine, das das Große bezwingt. Denn ich bin von dem großen König eingesetzt, alle Lobpreisung und alle Bitten und allen Dank und alle laute oder stammelnde oder stumme Rede zu empfangen und in meinem Worte vor ihn zu bringen. Und mein Wort hebt sie alle und fasst und sagt sie.“ Da schüttelten sie wieder die Häupter, und ein dritter sprach: „Mein Schweigen ist das Kleine, das das Große bezwingt. Denn allerorten stehen Widersacher und Herren der bösen Sprache gegen mich auf, und sie streiten wider mich und erbosen sich gar sehr und bewerfen mich mit ihren Reden, mich zu schänden. Und ich schweige ihnen zu, und das ist meine Antwort auf alles.“ Da schüttelten sie wieder die Häupter und ein vierter sprach : „Mein Sehen ist das Kleine, das das Große bezwingt. Denn ich fasse in meinem Auge den Reigen der Welt und alle ihre Wirbel. Und sehend führe ich den großen Blinden, die Welt, ein Kleiner das Ungeheure. Ihr Untertan ganz und gar, führe ich sie doch mit meinem Auge, das ihren Reigen fasst.“ Da waren sie still und blickten auf ihn, der gesprochen hatte. Ich aber redete zu ihnen und sagte: „Dieser hier ist der Größte von euch, aber ich bin über ihm, und ich habe die Gabe des Kleinen, das das Große bezwingt, denn ich trage auf meinem Rücken alle Lasten der Welt. Ich will euch ein Ding offenbaren. Es ist euch bekannt, dass jedes Tier einen Schatten weiß, in dem allein es ruhen mag, und jeder Vogel weiß einen Zweig, auf dem allein er ruhen mag. Aber wisst ihr auch, dass es einen Baum gibt, dessen Schatten alle Tiere des Feldes und dessen Zweige alle Vögel des Himmels sich zur Ruhestatt erwählen?“ Da antworteten sie: „Wir wissen es wohl von den Urvätern her, und wir wissen, dass alles Glück des Lebens nichtig ist gegen das große Glück, bei dem Baum zu weilen, denn alle Wesen sind dort verschwistert und spielen miteinander. Aber uns ist keine Kunde, wie wir zu dem Baum kommen könnten, denn die einen sagen, man müsse nach Osten gehen, und die andern meinen, nach Westen führe die Bahn, und wir vermögen es nicht zu erkunden.“ Da sprach ich zu ihnen: „Warum forschet ihr, auf welchem Wege ihr zu dem Baum zu gelangen vermöchtet? Forschet vorerst, wer und wer und welcher Art die Menschen sind, die zu dem Baum kommen können. Denn nicht jedem ist dieses zugeteilt und keinem als dem, der die Gaben des Baums hat. Der Baum aber hat drei Wurzeln, aus denen seine Gaben sind; die eine Wurzel heißt Glaube, die andere Wurzel heißt Treue, die dritte Wurzel heißt Demut, und Wahrheit ist der Stamm des Baums; und nur wer alle diese hat, kann zu dem Baum kommen. Da nahmen sie meine Worte auf und weil nicht alle jene Gaben hatten, beschlossen sie zu warten, bis alle würdig wären. Und die der Vollendung ermangelten, strebten und rangen, sie zu erwerben. In dem Augenblick aber, da endlich allen die Gaben gleichermaßen beschieden waren, da wussten sie auch alle wie plötzlich erleuchtet den Weg und machten sich bereit und brachen auf. Und ich ging mit ihnen. Und wir gingen eine lange Zeit, bis wir von der Ferne den Baum erblickten. Da schauten sie und sahen, — siehe, da stand der Baum an keinem Ort, er stand da und hatte doch keinen Ort, und kein Raum war um ihn, und er war abgetrennt von allem Raum. Und sie verzweifelten, zu ihm zu kommen. Aber ich sprach zu ihnen: „Ich kann euch zu dem Baum bringen. Denn er steht über dem Räume; und weil ich alle Lasten der Welt trage in der Weise des Kleinsten, das das Größte bezwingt, habe ich den Raum in mir überwunden und seine Seelenspur vernichtet, und da, wo ich bin, ist seine Herrschaft zu Ende und ist nur Ein Schritt dahin, wo der Raum nicht ist. So will ich euch nun zu dem Baum bringen.“ Und ich tat also und brachte sie dahin. Euch aber, ihr Kinder, sei meine Kraft des Tragens beschieden, und dies schenke ich euch heute als hochzeitliche Gabe, ihr möget sein wie ich.“

So wuchs von Tag zu Tag die Fülle der Wundergaben und die Freude. Aber am sechsten Tage saßen die beiden wieder in Bangen da und gedachten des Bettlers mit den lahmen Händen, und sie wünschten ihn innig herbei. Und wieder stand auch er vor ihnen und begrüßte sie und sprach: „Mein einstiger Segen soll nunmehr an euch wahr werden. Ihr vermeinet, meine Hände seien untüchtig und ich könne sie nicht regen. Aber in Wahrheit mag ich sie nur nicht nützen zu irgend einem Ding, das die Gefesselten nicht frei macht und die Gebannten nicht erlöst. Und meine Hände sind gar stark und wirken in die Tiefe und in die Weite. Einst versammelten sich die Starken und jeder berühmte sich der Kraft seiner Hände. Der eine sprach: „Ich kann Pfeile in ihrem Fluge greifen. und zu ihrem Ausgang heimsenden, und den Pfeil, der sein Ziel gefunden hat, vermag ich also zu greifen, dass seine Tat zu nichte wird.“ Da fragte ich ihn: ,Über welche Pfeile ist dir solche Macht gegeben? Denn es gibt zehn Arten von Pfeilen, in zehnerlei Gifte getaucht.“ Er antwortete, diese und diese Art der Pfeile sei seiner Kraft Untertan. Da sagte ich zu ihm: „Dann wirst du die Königstochter nicht heilen. Denn du wirst die zehn Pfeile nicht aus ihrem Herzen ziehen.“ Und nun sprach ein anderer: „Ich vermag mit meinen Händen die Kerker zu öffnen, und ihre Tore springen auf, wenn mein Finger sie berührt.“ Da fragte ich ihn: „Welche Kerker erschließest du? Denn es gibt zehn Arten von Kerkern, und die Bande ihrer Tore sind von zehnerlei Form.“ Er antwortete, diese und diese Art könne ihm nicht widerstehen. Da sagte ich zu ihm: „Dann wirst du die Königstochter nicht heilen. Denn du kannst nicht frei eingehen über die zehn Wassermauern, die ihr Schloss umgeben. Denn nur wer die ganze Freiheit schafft, wandelt frei.“ Und ein dritter sprach: „Ich vermag mit meinen Händen Weisheit zu geben, und ich teile jedem Weisheit zu, auf den ich meine Hände lege.“ Da fragte ich ihn: „Welche Weisheit ist es, die du austeilst? Denn es gibt zehn Arten von Weisheit, und jede gibt nur ein Stück des wahren Wesens.“ Er antwortete, diese und diese Art der Weisheit besitze er in solcher Fülle. Da sagte ich zu ihm: „Dann wirst du die Königstochter nicht heilen. Denn du kannst ihre zehn Leiden nicht erkennen. Denn nur wer die ganze Weisheit spendet, erkennt das Verborgene.“ Und ein vierter berühmte sich: „Ich vermag mit meinen Händen die Flügel des Sturmwinds zu fassen und zu lenken.“ Da fragte ich ihn: „Welchem Sturmwind gebietest du? Denn es gibt zehn Sturmwinde, und jeder singt seine Weise, und er lehrt sie dich, wenn du sein Herr wirst.“ Er antwortete, diesen und diesen Sturmwind könne er bezwingen. Da sprach ich zu ihm: „Dann wirst du die Königstochter nicht heilen. Denn du kannst vor ihr die zehn Weisen nicht singen, die ihr Heil sind. Und die Weisen sind in der Macht der Stürme.“ Sie aber fragten mich: „Und was vermagst du, der du uns also richtest?“ Ich sprach: „Ich vermag all das Eure, und ich vermag all dies, was ihr nicht vermöget. Ich habe die Kerker der Erde geöffnet, diese und jene, und ich vermag frei zu wandeln auf den Wogen. Ich habe Macht über alle fliegenden Geschosse, und aus allen Wunden ziehe ich die Giftpfeile und vernichte ihr Wirken. Ich habe aller Weisheiten Schätze gespendet aus meiner Fülle, und mir ward Kraft gegeben, alles Geheimnis zu ergründen. Ich habe die Sturmwinde an meinen Wagen gespannt, und im Sausen erfuhr ich ihre Melodien. Und ich vermag die Königstochter zu heilen. Wisset aber, einst begehrte ein Fürst eine Königstochter, und er stellte Ränke an, sie zu fangen, und es gelang ihm, sie in seine Hand zu bekommen. Aber eine kurze Zeit darauf kam dem Fürsten der Traum, sie stehe über seinem Lager und ihre Hände seien um seine Kehle gelegt und würgten ihn. Da erwachte er, und der Traum war in sein Herz eingezogen. Er berief die Deuter und sie deuteten, es werde geschehen nach dem Geschehen des Traumes, dass er durch die Königstochter werde sterben müssen. Da wusste der Fürst seiner Seele keinen Rat zu geben, denn es war ihm leid sie zu töten, weil sie so schön war, und es war ihm leid sie zu verbannen, weil er es nicht ertragen mochte, sie eines anderen Eigen zu wissen, und leid war ihm, sie in seiner Nähe zu lassen, denn er hing am Leben und wollte es nicht lassen, ehe er sein müde würde. Indessen begann seine Furcht in die Blicke einzudringen, mit denen er die Königstochter anschaute, und in die Worte, die er zu ihr redete. Und wie sie ihn so düster und zweifelsüchtig einhergehen sah, verdarb die Liebe, die sie zu ihm gewonnen hatte. Mal für Mal, und sie konnte seinen Anblick nicht länger ertragen und floh von dannen. Und flehend kam sie zu dem Wasserschloss, das hinter den zehn Wellenmauern auf den Fluten steht. Und all dies, Schloss und Mauern und ihr Ort, alles ist aus Wasser, und niemand kann über die Schwelle treten, denn er stürzt in die Wogen. Und als die Königstochter vor den Mauern stand, da schaute sie um sich, und sie sah, dass der Fürst mit seinen Leuten ihr nachgesetzt hatte, und da war kein Weg, ihm zu entfliehen. So stand sie und wandte ihr Gesicht wieder dem Wasser zu und schloss die Augen und hörte hinter sich das Stampfen von tausend Hufen, vor sich das Rauschen der großen Gewässer, und lieber dünkte sie irgend ein Sein oder irgend ein Tod, als zurückzukehren in das Elend. Da hob sie die Arme um den Nacken und warf den Kopf zurück und lief in die Flut. Aber die Flut trug sie, und die Mauern waren offen, und sie lief durch die zehn Tore in das Schloss. Der König jedoch hatte sie in das Wasser tauchen gesehen, und der Grimm hatte ihn ergriffen, und er hatte seinen Schützen zugeschrieen, auf sie zu schießen. Und die Schützen spannten die Bogen, und die Pfeile schwirrten und erreichten sie nicht. Aber als sie am Eingang des Schlosses stand, wandte sie sich, und ihre Augen öffneten sich und sahen den Fürsten an. Da kamen die letzten zehn Pfeile und durchbohrten ihr Herz, und sie fiel an der Schwelle hin; aber die Wellen trugen sie in das Schloss und betteten sie. Der Fürst jedoch und seine Leute setzten ihr nach und versanken in der Flut. Nun aber will ich hingehen und die Königstochter heilen; denn die Zeit ist erfüllt, und ich höre den Befehl ergehen.“ Und ich ging hin und heilte die Königstochter. Euch aber, ihr Kinder, schenke ich heute als hochzeitliche Gabe die Kraft meiner Hände und dies, ihr möget sein wie ich.“ Da stieg von neuem die Freude auf, und sie feierten ihr Fest in hoher Freude.

„Das Ende dieser Geschichte, das ist von dem siebenten Bettler und ihren Abschluss zu hören sind wir nicht gewürdigt worden. Und Er sprach, er werde sie nicht weiter erzählen. Und dieses ist ein großer Verlust. Denn wir werden nicht gewürdigt werden, sie zu hören, bis dass der Messias kommt. Dies möge geschehen in Bälde, in unseren Tagen, Amen.“
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Geschichten des Rabbi Nachman