Drei Reden über das Judentum

Martin Buber, der Erneuerer des jüdischen Mystizismus, hat in seinen „Drei Reden über das Judentum“ seine Ansicht über das Wesen des Judentums als selbständige Theorie, losgelöst von den Märchengestalten des Chassidismus, niedergelegt. Für den Juden selbst (1. Rede) bedeutet das Judentum: die Einheit in der Zwiespältigkeit seiner völkischen Existenz, den Sieg im Kampf zwischen Neuwelt und Innenwelt, Eindruck und Substanz, Atmosphäre und Blut, die richtige Wahl zwischen den Zwecken der Gesellschaft und der Aufgabe seiner Eigenkraft. Er, der von allen Kulturvölkern im prägnantesten Sinne eine Mischung darstellt, soll nicht der Sklave, sondern der Herr dieser Mischung sein, aus tiefster Selbsterkenntnis heraus sich selbst bejahen, und damit als sein eigner Messias seine Erlösung vollziehen.

Aber nicht nur der Jude als politisches Wesen, das Judentum selbst ist zwiespältig, ein „polares Phänomen“; im Juden an sich offenbart sich stärker als anderswo das „Mysterium der Urzweiheit“, die Wurzel und der Sinn alles Geistes; und so macht das Streben des Juden nach Einheit die Judenfrage zu einer Menschheitsfrage. Die Bedeutung des Judentums für die Menschheit (2. Rede) war und bleibt demnach: dass es, die Urzweiheit im innersten Wesen kennend und darstellend (Sündenfall, Gut und Böse), eine Welt verkündet, in der sie aufgehoben ist und an die Menschen die Forderung der Einheit immer wieder heranbringt. In den Propheten und im Urchristentum predigt es die religiöse, in Spinoza die gedankliche, im Sozialismus die gesellschaftliche Synthese; und heute bereitet sich der Geist des Judentums vielleicht zu einer Synthese all dieser Synthesen.


Denn nicht lediglich eine Verjüngung oder Neubelebung, eine wahrhafte und vollkommene Erneuerung des Judentums (3. Rede) erhofft und verlangt Buber. Das Judentum ist ihm mehr als eine konfessionelle oder nationale Gemeinschaft: es ist ihm ein geistiger Prozess, der sich in der Geschichte als das Streben nach immer vollkommenerer Verwirklichung der drei untereinander zusammenhängenden Ideen der Einheit, der Tat, der Zukunft vollzieht. Von der Einheit ist schon die Rede gewesen. Die Tat ferner, und nicht der Glaube, steht seit uralter Zeit im Mittelpunkt der jüdischen Religiosität, als entscheidende Verbindung zwischen Mensch und Gott; „all dein Tun sei um Gottes willen“, jede Tat, durch die Seele des Täters, irgendwie auf das Göttliche bezogen. Endlich die Zukunft, der Messianismus, die am tiefsten originale Idee des Judentums; am Ende der Tage, in der endgültigen Zeit, in der Fülle der Zeit, in der absoluten Zukunft hat der Jude sich ersonnen, das Haus des wahren Lebens für die Menschheit zu bauen.

Der große Geistesprozess dieser drei Ideen ist nun aber unterbrochen; er muss von neuem anheben, dazu in einer neuen Form, indem seine drei Richtungen in eins verschmelzen an dem Weltgefühl, das in uns Heutigen zu keimen beginnt. Denn der jüdischen Seele tiefstes Menschentum und tiefstes Judentum meinen und wollen ein und dasselbe. „Es geht hier um Größeres als das Schicksal eines Volkes, um den Wert eines Volkstums; es geht um urmenschliche und allmenschliche Dinge.“ Aus dem innersten Grund des religiösen Fühlens herausgemeißelt, reihen sich diese tiefen Gedanken durch Bubers stilistische Meisterschaft in köstlicher Klarheit und plastischer Schärfe aneinander — für den denkenden Leser ein ästhetischer Genuss erlesener Art.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Geschichten des Rabbi Nachman