Von der Zerrüttung einer Ehe.

Entsteht die Zerrüttung der Ehe in den mittleren und oberen Schichten der Gesellschaft durch die Geldheirat, den Überfluss, den Müßiggang und die Schwelgerei, verbunden mit der entsprechenden Nahrung für Geist und Gemüt, frivole Theateraufführungen, üppige Musik, unsittliche Roman- und Zotenlektüre und Bilder, so wirken in den untersten Schichten ähnliche und andere Ursachen in der gleichen Richtung. Die Möglichkeit, dass der Lohnarbeiter heut zu Tage sich zu einer selbstständigen Stellung emporarbeite, ist eine so geringe, dass sie bei der in Frage kommenden Masse der Arbeiter kaum in Betracht kommt. Die Heirat nach Geld und Gut verbietet sich für ihn, wie den weiblichen Teil seiner Schicht von selbst. In der Regel entscheidet für ihn die Neigung zu einer Frau die Ehe, doch spielt auch nicht selten die Berechnung eine Rolle, dass die Frau mit verdienen kann, oder die Aussicht, dass die Kinder sich frühzeitig als Arbeitsinstrumente verwerten lassen, und so einigermaßen ihre Kosten selbst decken. Traurig aber nur zu wahr. Aber an störenden Ursachen für die Arbeiterehe fehlt es auch außerdem nicht. Reicherer Kindersegen legt die Arbeitskraft der Frau teilweise oder ganz lahm und vermehrt die Kosten; Handels- und Geschäftskrisen, Einführung neuer Maschinen oder verbesserter Arbeitsmethoden, Kriege, ungünstige Zölle und Handelsverträge, indirekte Steuern, schmälern dem Arbeiter bald kürzere, bald längere Zeit den Verdienst oder werfen ihn gänzlich aufs Pflaster. Solche Schicksalsschläge verbittern, und im häuslichen Leben verschafft sich diese Stimmung am ersten Ausbruch, wenn täglich und stündlich Anforderungen von Frau und Kindern für das Allernotwendigste gemacht werden, die der Mann nicht befriedigen kann. Aus Verzweiflung sucht er im Wirtshaus bei ordinärem Fusel Trost, das letzte Geld wird vertan, Zank und Streit nehmen kein Ende; der Ruin ist da.



Nehmen wir ein anderes Bild. Mann und Frau gehen zur Arbeit. Die Kinder sind sich selbst oder der Überwachung der älteren Geschwister überlassen, die selbst aufs nötigste der Überwachung und Erziehung bedürfen. In fliegender Eile wird Mittags das sogenannte Mittagessen hinabgeschlungen, vorausgesetzt, dass die Eltern überhaupt die Zeit haben nach Hause gehen zu können, müde und abgespannt kehren Abends Beide heim. Statt einer freundlichen anmutenden Häuslichkeit finden sie ein enges ungesundes Logis, der Luft und des Lichts und oft der nötigsten Bequemlichkeiten entbehrend. Die Frau hat jetzt alle Hände voll zu tun; Hals über Kopf muss sie arbeiten um nur das Notwendigste in Stand zu setzen. Die schreienden und lärmenden Kinder werden eiligst ins Bett gebracht, die Frau sitzt und näht und flickt bis in die späte Nacht. Die so nötige geistige Unterhaltung und Aufrichtung fehlt. Der Mann ist ungebildet und weiß wenig, die Frau ist es noch mehr, das Wenige, was man sich zu sagen hat, ist rasch erledigt. Der Mann geht ins Wirtshaus und sucht dort die Unterhaltung, die ihm zu Hause fehlt; er trinkt, und wenn es auch wenig ist was er verbraucht, für seine Verhältnisse ist es viel. Unter Umständen verfällt er auch dem Laster des Spiels, das auch in höheren Kreisen so viele Opfer fordert, und verliert drei und zehnfach mehr als er vertrinkt. Unterdes sitzt die Frau zu Hause und grollt; sie muss arbeiten wie ein Lasttier, eine Ruhepause und Erholung gibt es für sie nicht; der Mann benutzt die Freiheit, die ihm der Zufall als Mann geboren zu sein gibt und die Disharmonie ist fertig.

Durch alle diese Umstände wird heutigen Tages die Ehe des Proletariers immer mehr zerrüttet. Selbst günstige Arbeitszeiten üben ihren zersetzenden Einfluss, denn sie zwingen ihn zu Sonntag und Überstundenarbeit, nehmen ihm die Zeit, die er für seine Familie noch übrig hatte. In tausend Fällen hat er halbe und ganze Stunden bis zur Arbeitsstätte; die Mittagpause zum Heimweg zu benutzen ist häufig ein Ding der Unmöglichkeit; so steht er morgens mit dem frühesten auf, wenn die Kinder noch im tiefsten Schlafe liegen und kehrt erst am Abend spät, wenn sie bereits wieder im gleichen Zustand sich befinden, an den Herd zurück. Viele Arbeiter, namentlich die Bauarbeiter in den größeren Städten, bleiben der weiten Entfernung wegen die ganze Woche aus, und kehren erst am Sonntag nach Hause; und bei solchen Zuständen soll das Familienleben gedeihen. Auch nimmt die Frauen- und Kinderarbeit immer mehr über Hand, namentlich in der Textilindustrie, die ihre Tausende von Dampfwebstühlen und Spindelmaschinen von billigen Frauen- und Kinderhänden bedienen lässt. Dort hat sich das Verhältnis der Geschlechter und der Alter nahezu umgekehrt, Frau und Kind gehen in die Fabrik, der brotlos gewordene Mann sitzt zu Hause und besorgt die häuslichen Verrichtungen. In Colmar waren Ende November 1873 von 8109 in der Textilindustrie beschäftigten Arbeitern, 3509 Frauen, nur 3416 Männer, aber 1184 Kinder, so dass Frauen und Kinder zusammen 4693 Köpfe zählten gegen 3416 der Männer.

In der englischen Baumwollen Industrie gab es 1875 unter 479.515 Arbeitern 258.667 Frauen, also 54 pCt. der Gesamtarbeiterzahl, 38.558 oder 8 pCt. jugendliche Arbeiter von beiden Geschlechtern im Alter von 13 — 18 Jahren, 66.900 oder 14 pCt. Kinder unter 13 Jahren, und nur 115.391 oder 24 pCt. Männer. Man stelle sich das Familienleben dieser Menschen vor.



Da ferner die Wohnungsmieten im Vergleich zu den Löhnen meist viel zu hoch sind, so muss sich der Arbeiter und der kleine Mann aufs äußerste einschränken, es werden sogenannte Schlafburschen oder auch Mädchen in Logis genommen, manchmal auch beide Geschlechter zugleich. Alte und Junge leben auf engstem Räume, ohne Scheidung der Geschlechter, selbst bei den intimsten Vorgängen eng zusammengepfercht, und was dabei für Schamgefühl und Sittlichkeit herausspringt, darüber gibt es schauerliche Tatsachen. Und welche „Wirkung muss in gleicher Richtung wohl die Fabrikarbeit für die Kinder haben? Unzweifelhaft die schlechteste, die sich denken lässt, und zwar physisch wie moralisch.

Die immer mehr zunehmende Beschäftigung auch verheirateter Frauen muss namentlich bei Schwangerschaften und Geburten und während der ersten Lebenszeit der Kinder, wo diese auf die mütterliche Nahrung angewiesen sind, von den verhängnisvollsten Folgen sein. Da entstehen denn eine Menge von Krankheiten während der Schwangerschaft, die sowohl auf die Leibesfrucht wie auf den Organismus der Frau von zerstörerischer Wirkung sind, Abortus, Früh- und Todgeburten zur Folge haben. Ist das Kind zur Welt, so ist die Mutter gezwungen so rasch als möglich wieder zur Fabrik zurückzukehren, damit nicht ihr Platz von einer Konkurrentin besetzt wird. Die unausbleiblichen Folgen für die kleinen Würmer sind: vernachlässigte Pflege, unpassende Nahrung oder gänzlicher Mangel an Nahrung; sie werden mit Opiaten gefüttert um ruhig zu sein. Wiederum die Folgen hiervon: massenhaftes Sterben, Siechtum und Verkümmerung, mit einem Wort: Degeneration der Race. Die Kinder wachsen vielfach auf ohne je mütterliche oder väterliche Liebe genossen und ihrerseits wahre Elternliebe empfunden zu haben. So gebiert, lebt und stirbt das Proletariat; und der ,,christliche“ Staat und diese ,,christliche“ Gesellschaft wundern sich, dass Rohheit und Sittenlosigkeit und Verbrechen sich immer mehr verbreiten.

Als im Anfang der sechziger Jahre in den englischen Baumwollendistrikten in Folge des nordamerikanischen Sklavenbefreiungskrieges viele Tausende von Arbeiterinnen feiern mussten, machten die Ärzte die auffallende Entdeckung, dass trotz der großen Not der Bevölkerung die Kindersterblichkeit abnahm. Die Ursache war eine sehr einfache. Die Kinder genossen jetzt eine bessere Pflege, und die Nahrung von der Mutter in höherem Grade, als sie solche in den besten Arbeitszeiten genossen hatten. Und diese selbe Tatsache ist in der neuesten Krise in Nordamerika, in New - York und Massachusetts, seitens der Ärzte konstatiert worden, weil die allgemeine Arbeitslosigkeit die Frauen zu feiern zwang und ihnen Zeit zur Kinderpflege gab.

Der zunehmende schwere Kampf ums Dasein zwingt Männer und Frauen auch oft zu Handlungen oder Duldungen, die sie sonst verabscheuen würden. So ist im Jahre 1877 in München konstatiert worden, dass unter den polizeilich eingetragenen und überwachten Prostituierten sich nicht weniger wie 203 verheiratete Frauen von Arbeitern und Handwerkern befanden; und wie viele verheiratete Frauen treiben aus Not dieses schmähliche Handwerk, ohne sich der das Schamgefühl und die Menschenwürde aufs tiefste verletzenden polizeilichen Kontrolle zu unterwerfen.

Wirken erfahrungsmäßig schon die hohen Kornpreise eines einzigen Jahres auf die Verminderung der Ehen und der Geburten, so wirken Jahre lange Krisen, wie sie mit unserm heutigen Wirtschaftssystem unausbleiblich verknüpft sind, noch viel nachteiliger. Furcht vor Mangel, das Bedenken, die Kinder nicht standesgemäß erziehen zu können, ist es auch was viele Frauen und zwar aus allen Ständen zu Handlungen treibt, die weder mit dem Naturzweck, noch immer mit dem Strafgesetzbuch in Übereinstimmung stehen. Dahin gehören die verschiedensten Mittel zur Verhinderung der Empfängnis, oder wenn diese wider Willen und Erwarten stattgefunden hat, die Beseitigung der unreifen Leibesfrucht, der Abortus. Es wäre sehr fehl gegangen, wollte man behaupten, dass dieses letztere Mittel nur von leichtfertigen und gewissenlosen Frauen angewandt werde. Es sind im Gegenteil oft sehr pflichttreue und ehrenwerte Frauen, welche um dem Dilemma zu entgehen sich dem Gatten versagen und ihren Naturtrieb gewaltsam unterdrücken zu müssen, oder aus Furcht den Mann auf Abwege zu drängen, die zu wandeln er meist Neigung hat, sich lieber der Gefahr der Anwendung abortativer Mittel unterwerfen. Daneben gibt es andere Frauen, und namentlich in den höheren Ständen, welche, sei es, um einen Fehltritt zu verdecken, oder aus Widerwillen gegen die Unbequemlichkeiten der Schwangerschaft, des Gebärens und der Erziehung, oder aus Furcht ihre Reize rascher einzubüssen und dann bei dem Gatten oder der Männerwelt an Ansehen zu verlieren, solche verbrecherischen Mittel anwenden und für schweres Geld bereitwillige ärztliche, wie geburtshelferische Unterstützung finden. So hat sich z. B. im Laufe dieses Frühjahrs in New - York ein Weib Namens Restel selbst das Leben genommen, nach dem sie länger als ein Menschenalter hindurch, in einem prachtvollen Palais mit fürstlichem Luxus ausgestattet wohnend, ihr schamloses Gewerbe vor den Augen der New - Yorker Polizei und Richter ausgeübt aber endlich doch der Nemesis einer sie schwer belastenden Anklage zu erliegen drohte. Das Weib hinterließ, trotz ihres luxuriösen Lebens, ein Vermögen, das bis auf anderthalb Millionen Dollars geschätzt wurde. Ihre Kundschaft besaß sie ausschließlich in den Reihen der reichsten Kreise New - Yorks.

Die Furcht vor zu starker Vermehrung in Rücksicht auf das vorhandene Eigentum und die Ernährungsverhältnisse haben in zahlreichen Klassen, ja selbst bei ganzen Völkern, die Repressivmaßregeln zu einem vollständigen System, das zur öffentlichen Kalamität geworden ist, gesteigert. So ist es eine allgemein anerkannte Tatsache, dass in allen Schichten der französischen Gesellschaft das Zweikindersystem durchgeführt wird. In keinem Lande der Welt sind die Ehen so zahlreich, wie in Frankreich, und in keinem Lande ist die durchschnittliche Kinderzahl eine geringere, die Bevölkerungsvermehrung eine so langsame. In letzterer Beziehung steht Frankreich sogar hinter Russland zurück. Der französische Bourgeois, wie der Kleinbürger und der Parzellenbauer befolgen dieses System, und der französische Arbeiter schließt sich dem allgemeinen Strome an.

Nicht anders ist es in Siebenbürgen bei den Sachsen. Das Bewusstsein, in Folge ihres großen Besitzes der herrschende Stamm zu sein, die Sorge es zu bleiben, verleitet sie, um das Erbe nicht durch Teilung zu sehr zu schmälern, auf möglichst wenig legitime Nachkommenschaft bedacht zu sein. Daher erklärt sich die den Ethnologen aufgefallene Zahl blonder Zigeuner und urgermanisch geformter Rumänen, und bei dem letzteren Volke sonst gar nicht in seiner Natur liegende Charaktereigenschaften, wie Fleiß und Sparsamkeit. Durch diese Maximen sind die Sachsen in Siebenbürgen, obgleich sie schon gegen Ende des zwölften Jahrhunderts zahlreich eingewandert sind, heute kaum auf 200.000 Köpfe gestiegen. In Frankreich hingegen, wo es keine fremden Racen zur geschlechtlichen Ausnutzung gibt, ist die Zahl der Kindermorde und der Kinderaussetzungen bedeutend im Steigen, beides allerdings noch befördert durch das Verbot des französischen Zivilgesetzes nach der Vaterschaft zu forschen, und durch die überall eingerichteten Findelhäuser.

Das ist das Bild, welches die heutige Ehe in der überwiegenden Zahl der Fälle uns bietet. Es weicht stark ab von dem schönen Gemälde, das die Dichter und Poeten und die poetisch angehauchten Phantasten von ihr entwerfen, doch es hat einen größeren Vorteil für sich, den — wahr zu sein.

Aber dieses Bild wäre immer noch mangelhaft, wenn ich unterließe einige Pinselstriche hinzuzufügen, die alle Gesellschaftsschichten fast gleichmäßig treffen.

In der Darstellung der Eheverhältnisse des Arbeiters wies ich auf die ungleichmäßige geistige Ausbildung der beiden Geschlechter hin, die ebenfalls zu Ungunsten der Frau besteht, und dieses Gebiet ist viel zu wichtig um übergangen zu werden. Das geistige Niveau der Frau steht durchschnittlich unter dem des Mannes — obgleich der Unterschied in der untern Volksklasse noch am geringsten ist — das ist eine unbestreitbare, von allen Seiten widerspruchslos zugegebene Tatsache. Aber ob dieses tiefere geistige Niveau natürlich und unabänderlich ist, wie die meisten Männer behaupten, und die Frauen in gehorsamer Nachbetung ihrer Herren ebenfalls zu glauben geneigt sind, das ist eine andere Frage, die untersucht werden muss, die ich aber erst später, wenn es sich um die Einwendungen gegen die Behauptung: die Frau sei für höhere geistige Disziplinen nicht zu gebrauchen, handelt, erörtern werde. Bei meiner jetzigen Erörterung genügt die hervorgehobene Tatsache, dass die Frau gegenwärtig durchschnittlich geistig tiefer steht als der Mann, und es handelt sich zunächst festzustellen wodurch.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Frau und der Sozialismus.