Gründe für die Mehrzahl der Ehen.

Sicher wurde auch in der Vergangenheit die große Mehrzahl der Ehen weit mehr aus materiellen Rücksichten, als aus rein menschlichen und moralischen Gründen abgeschlossen — für die Armen und Eigentumslosen war sie, weil sie arm waren, nahezu ganz unmöglich — aber dass die Ehe in so nackter und zynischer Weise, so zu sagen auf offenem Markte allgemein zum Gegenstand der Spekulation und zum bloßen Geldgeschäft gemacht wurde wie heute, dafür fehlen die Beispiele. Der Eheschacher wird heute sehr häufig in den besitzenden Kreisen — für die nichtbesitzenden hat er keinen Sinn — mit einer Schamlosigkeit getrieben, der die ewig wiederholte Phrase von der ,,Heiligkeit“ der Ehe als puren Hohn erscheinen lässt. Dieses hat allerdings, wie Alles, seinen natürlichen Grund. In keinem Zeitalter ist es der großen Mehrzahl der Menschen schwerer geworden sich zu einem, den allgemeinen Begriffen entsprechenden Wohlstand empor zu schwingen, wie gegenwärtig; zu keiner Zeit hat aber auch das an und für sich berechtigte Streben nach menschenwürdiger Existenz und nach Lebensgenuss allgemein so vorgeherrscht wie jetzt. Die Schwierigkeit zum Ziel zu kommen wird um so schwerer empfunden, da nach den geltenden Anschauungen moralisch Alle das gleiche Recht haben zu genießen, wenn sie können; formell besteht kein Stände- und Klassenunterschied. Diese demokratische Gleichberechtigung in der Idee hat das Verlangen in Allen erweckt, sie auch in die Wirklichkeit umsetzen zu können. Da aber die Mehrzahl noch nicht begriffen hat, dass die Gleichheit im Genuss wohl möglich ist, wenn die Gleichberechtigung und Gleichheit in den sozialen Existenzbedingungen gegeben ist, die herrschende Anschauung vielmehr und das Beispiel von oben, den Einzelnen lehrt, jedes Mittel zu ergreifen, das, ohne ihn allzu sehr zu kompromittieren, scheinbar zum Ziele führt, so ist die Spekulation auf die Geldehe vorzugsweise ein Mittel zum Emporkommen geworden. Das Verlangen nach Geld, viel Geld auf der einen, und die Sehnsucht nach Rang, Titeln und Würden auf der andern Seite, findet insbesondere in den sogenannten höheren Schichten der Gesellschaft seine gegenseitige Befriedigung. Die Ehe wird hier sehr oft als bloßes Geschäft angesehen, sie wird zum rein konventionellen Band, das beide Teile äußerlich respektieren, während im übrigen ein Jedes nach seinen Neigungen und Leidenschaften handelt. An die Ehe aus Politik in den höchsten Kreisen sei hier nur der Vollständigkeit halber erinnert. In diesen Ehen hat denn auch in der Regel, und zwar der Mann in höherem Grade als die Frau, das stillschweigend anerkannte Privilegium gehabt, sich nach Laune und Bedürfnis außer ehelich schadlos zu halten. Ja es gab eine Zeit, wo die Maitressenschaft bei einem Regenten so zum guten Ton gehörte, dass jeder Fürst sich wenigstens eine Maitresse halten musste, sie gehörte gewissermaßen zu seinen fürstlichen Attributen. Der solide Friedrich Wilhelm I. von Preussen (1713 — 1740) unterhielt in Folge dessen mit einer Frau Generalin ein Verhältnis, dessen Intimität darin bestand, dass er täglich mit ihr eine Stunde auf dem Schlosshof spazieren ging. Dahingegen ist allgemein bekannt, dass der letzte verstorbene König von Italien, der König „Ehrenmann“ genannt, nicht weniger als 32 uneheliche Kinder hinterlassen hat, von denen er jedes mit 100,000 Franken ausstattete. Die Zahl der Beispiele könnte sehr vermehrt werden.



In fast jeder größeren Stadt gibt es bestimmte Orte und gewisse Tage, wo die höheren Klassen wesentlich zu dem Zweck sich vereinigen, den Abschluss von Verlobungen und Ehen zu befördern, welche Zusammenkünfte sehr passend die ,,Ehebörse“ genannt werden; denn hier wie dort spielen die Spekulation und der Schacher die Hauptrolle, bleiben Betrug und Schwindel nicht aus. Mit Schulden überladene Offiziere, die aber einen alten Adelstitel präsentieren können, durch die Debauche brüchig gewordene Roué's, die im ehelichen Hafen die ruinierte Gesundheit wieder herstellen wollen, am Bankrott und manchmal vor dem Zuchthaus stehende Fabrikanten, Kaufleute oder Banquier's, oder solche, die nach Erlangung oder Vermehrung von Gold und Reichtum trachten, erscheinen neben Beamten, die Aussicht auf Avancement besitzen, einstweilen aber in Geldnöten sind, als Kunden und schließen den Handel ab, einerlei ob die Frau jung oder alt, hübsch oder hässlich, gesund oder krank, gebildet oder ungebildet, fromm oder frivol, Christin oder Jüdin ist. Das Geld gleicht alle Schäden aus und wiegt alle Untugenden auf. Zahlreiche und umfassend organisierte Heiratsbureaux, wie auf eigne Faust handelnde Kuppler und Kupplerinnen gehen auf Beute aus und suchen die Kandidaten und Kandidatinnen für den ,,heiligen Stand der Ehe“. Solche Geschäfte sind, namentlich, wenn sie für die Glieder höherer Stände abgeschlossen werden, außerordentlich profitabel. In einem Kriminalprozess, der dieses Jahr in Wien wegen Giftmischerei gegen eine solche Kupplerin stattfand und mit ihrer Verurteilung zu fünfzehn Jahren Zuchthaus endete, wurde festgestellt, dass der frühere französische Gesandte in Wien, Graf Banneville, diesem Weibe für die Beschaffung seiner Frau 22,000 fl. Kuppellohn bezahlt hatte. Zahlreiche andere Mitglieder der hohen Aristokratie wurden gleichfalls in diesem Prozess schwer kompromittiert und die Wiener Polizei hat augenscheinlich Jahre lang das dunkle und verbrecherische Treiben jenes Weibes gewähren lassen. Weshalb dürfte nach dem Mitgeteilten nicht zweifelhaft sein. Aus der deutschen Reichshauptstadt erzählt man sich ähnliche Geschichten. Wer, sei es Männlein oder Weiblein, heute unter der Hand nichts passendes zur Heirat findet, vertraut sein Herzensbedürfnis den liberalen Zeitungen an, die für Geld und ohne gute Worte dafür sorgen, dass die gleichgestimmten Seelen sich finden. Der Eheverkuppelungs-Unfug hat teilweise eine Höhe erreicht, dass die in diesen Dingen häufig durch die Finger sehenden Behörden sich hier und da veranlasst gesehen haben mit Warnungen und Drohungen gegen die allzu unbescheidenen und zu deutlich werdenden Schacher vorzugehen. So erließ im Jahre 1876 die Amtshauptmannschaft zu Leipzig eine Bekanntmachung, worin sie auf das unstatthafte gewerbsmäßiger Heiratsvermittelung aufmerksam machte und die Polizeibehörden anwies, sie vorkommenden Falls unter Strafandrohung zu verbieten, und im Falle der Nichtachtung zu bestrafen. Im Übrigen nimmt der Staat, der doch sonst gern als Wächter von „Ordnung und Sittlichkeit“ auftritt — wenn z. B. eine ihm unbequeme Partei Versammlungen abhalten will — keine Veranlassung gegen das immer größer werdende Unwesen irgendwie ernstlich einzuschreiten. Seine Gerichte behandeln vielmehr die aus solchen Heiratskuppeleien entstehenden Differenzen, wegen nicht Innehaltung der eingegangenen Bedingungen, ganz wie andere ehrliche Geschäfte und verurteilen den, welcher z. B. die versprochene Prämie nicht bezahlen will, weil die gekaufte Frau nicht das zugesicherte Bare besaß, wie jeden anderen Kontraktbrüchigen.

Staat und Kirche spielen bei Schließung solch einer ,,heiligen“ Ehe auch noch in anderer Richtung eine gar zweifelhafte und nichts weniger als moralische Rolle. Mag die staatliche Behörde oder der Geistliche, welchem die Eheschließung obliegt, hundert Mal überzeugt sein, dass das vor ihnen stehende Ehepaar durch die schmutzigsten Praktiken zu einander geführt wurde; mag es offenbar sein, dass sie weder in ihrem Äußern, noch in ihrem Alter, noch in ihren körperlichen oder geistigen Eigenschaften im Geringsten zu einander passen; mag die Braut zwanzig und der Bräutigam siebenzig Jahre alt sein oder umgekehrt; mag die Braut jung, schön und lebenslustig, der Bräutigam alt, mit Gebresten behaftet und mürrisch sein, alles das ficht sie nicht an; der Ehebund wird ,,gesegnet“, mit um so größerer Feierlichkeit und Salbung gesegnet, je reichlicher die Bezahlung für die ,,heilige Handlung“ fließt.



Stellt sich aber dann nach einiger Zeit heraus, dass eine solche Ehe, wie Jedermann vorausgesehen und das unglückliche Opfer, das in der Regel die Frau bildet, selbst vorausgesehen hat, eine höchst unglückliche ist; entschließt sich der eine Teil zur Trennung, dann erhebt dieser selbe Staat und diese selbe Kirche, welche vorher nicht gefragt ob wirkliche Liebe sie zusammengeführt, ob nur rein natürliche und moralische Triebe das Band geknüpft, oder nackter schmutziger Egoismus, die größten Schwierigkeiten. Staat und Kirche halten sich nicht für verpflichtet vor der Ehe auf das zu Tage liegende unnatürliche und darum höchst unmoralische ihres Bundes hinzuweisen. Als genügender Grund für die Trennung wird dann nicht der moralische Abscheu angesehen, da werden physisch brutale und handgreifliche Beweise verlangt. Beweise, die immer den einen Teil in der öffentlichen Meinung entehren oder herabsetzen, sonst wird die Trennung nicht ausgesprochen.

Solcher Art werden Menschen zwangsweise aneinandergekettet, der eine Teil zum Sklaven des andern gemacht, und gezwungen sich den intimsten Umarmungen und Liebkosungen des andern Teils aus ,,ehelicher Pflicht“ zu unterwerfen, die er vielleicht mehr verabscheut als Schimpfworte und schlechte Behandlung.

Und nun frage ich, ist eine solche Ehe — und es gibt deren viele tausende — nicht schlimmer als Prostitution? Die Prostituierte hat wenigstens die Freiheit sich ihrem schmählichen Gewerbe zu entziehen, und wenn sie dies nicht will, so hat sie wenigstens das Recht den Kauf der Umarmung desjenigen zurückzuweisen, der ihr aus irgend welchen Gründen nicht zusagt. Aber eine verkaufte Ehefrau muss sich die Umarmung ihres Mannes gefallen lassen, wenn sie auch hundert Gründe hat ihn zu hassen und zu verabscheuen.

In vielen andern in ähnlicher Weise, mit der Hauptrücksicht auf materielle Vorteile geschlossenen Ehen, sind die Zustände wohl nicht so schlimm; man trifft einen modus vivendi, nimmt das einmal Geschehene als unabänderlich hin, weil man den Skandal fürchtet, oder Kinder besitzt, auf die man Rücksicht nehmen muss — obgleich es grade die Kinder sind, die unter einem kalten liebelosen Leben der beiden Eltern, das gar nicht erst in offene Feindschaft, in Hader und Zank auszubrechen braucht, am meisten leiden — oder weil man materiellen Schaden befürchtet. Ist es der Mann von dem der Stein des Anstoßes in der Ehe ausgeht, und das ist wie die Ehescheidungsprozesse ausweisen in den allermeisten Fällen der Fall, so weiß er, Kraft seiner Herrschaftsstellung, sich anderweitig zu entschädigen. Für die Frau ist, abgesehen davon, dass sie weit mehr zur Sitte neigt, darum seltener die Abwege betritt, auch ein solcher für sie gefährlicher ist, ein Verbrechen, das dem Manne leicht verziehen wird. Zur Scheidung wird sie nur in den schwersten Fällen männlicher Untreue oder schwerer Misshandlung sich entschließen, weil sie die Ehe überwiegend als eine Versorgungsanstalt ansehen muss, sie sich in einer materiell unfreien, und, als geschiedene Frau, auch gesellschaftlich in einer nichts weniger, als beneidenswerten Lage befindet. Kommt dennoch die weitaus größere Zahl der Scheidungsanträge von weiblicher Seite, — in Frankreich kommen auf 100 Ehescheidungsklagen 91 auf Frauen — so ist das ein Symptom für die bedenkliche Höhe, welche die ehelichen Übel für die Frau erreicht haben müssen. Die von Jahr zu Jahr steigende Zahl der Ehescheidungen in allen Ländern spricht auch dafür, denn es ist kaum eine Übertreibung wenn vor einiger Zeit ein österreichischer Richter in einem Feuilletonartikel der ,,Frankfurter Zeitung“ erklärte: „Die Klagen wegen gebrochener Ehen seien so häufig, wie die wegen gebrochener Fensterscheiben.“



Die immer größer werdende Unsicherheit des Erwerbs, die steigende Schwierigkeit in dem wirtschaftlichen Kampfe Aller gegen Alle eine halbwegs gesicherte Position zu erringen, gibt keine Aussicht, dass unter dem gegenwärtig herrschenden sozialen System dieser Schacher mit der Ehe aufhöre oder sich nur vermindere. Er muss im Gegenteil, da er mit den bestehenden Eigentums- und sozialen Zuständen innig verknüpft ist, immer mehr wachsen und zunehmen, sich auf alle Schichten der Gesellschaft ausdehnen, die überhaupt noch Aussicht zu haben glauben, eine selbstständige Stellung, oder was sie als solche ansehen, erlangen zu können.

Die zunehmende Korruption der Ehe einerseits und die Unmöglichkeit für sehr viele Frauen überhaupt eine Ehe schließen zu können, lassen Redensarten wie die: die Frau müsse auf die Häuslichkeit beschränkt bleiben, sie müsse als Hausfrau und Mutter ihren Beruf erfüllen, als gedankenlose Phrase erscheinen. Dagegen wird durch die zunehmende Korruption der Ehe, wie durch die immer zahlreicher werdenden Ehehinderungsursachen — trotz der Erleichterung der staatlichen Einwilligung — die außereheliche Übung des Geschlechtsverkehrs, die Prostitution, und die ganze Reihe unnatürlicher Laster vermehrt.

In den besitzenden Kreisen sinkt die Frau nicht selten, ganz wie im alten Griechenland, zum bloßen Gebärapparat für legitime Kinder herab, zur Hüterin des Hauses und Pflegerin des kranken Gatten. Und der Mann unterhält zu seinem Vergnügen und für sein Liebesbedürfnis Courtisanen und Hetären — bei uns jetzt Maitressen genannt — aus deren eleganten Wohnungen man in allen großen Städten die schönsten Stadtviertel zusammenstellen könnte. Daneben führen unnatürliche Eheverhältnisse zu allerlei Verbrechen, wie Gattenmord und künstliche Wahnsinnerzeugung. Gattenmord soll namentlich in Cholerazeiten öfter vorkommen als man gewöhnlich glaubt, weil die Krankheitssymptome vielfach mit der Vergiftung übereinstimmen, die allgemeine Aufregung, die Menge der Leichen und die Gefahr der Ansteckung die Sorgfalt der Untersuchung vermindern, aber die rasche Fortschaffung und Beerdigung der Leichen notwendig machen.

In den Kreisen, wo die Mittel zum Halten einer Maitresse nicht zulangen, nimmt man seine Zuflucht zu den öffentlichen und geheimen Luststätten, den Tingeltangels, den öffentlichen Konzert- und Ballsälen. Die Zunahme der Prostitution ist eine überall wahrgenommene Tatsache.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Frau und der Sozialismus.