Der Eintritt der Frau ins öffentliche soziale und politische Leben.

Es würde gegen alle bisherige Erfahrung in der Menschheitsentwickelung verstoßen, wollte man in einer so großen und gewaltigen Umgestaltung, wie sie in unserm sozialen Leben durch das Eingreifen der Frau in die industrielle, wie geistige Tätigkeit sich vollzogen hat, und in höherem Grade sich noch in der Zukunft vollziehen wird, einen Kulturrückschritt erblicken. Ich betone noch einmal, der Eintritt der Frau in das öffentliche soziale Leben, dem der Eintritt in das politische mit ebensolcher Notwendigkeit folgen muss und wird, wie er sich bei dem Arbeiter bereits vollzogen hat, hat große Störungen und erhebliche Nachteile im Gefolge: aber dies sind ähnliche Störungen und Nachteile, wie sie der Eintritt der Gewerbefreiheit, der Freizügigkeit und die Wegräumung aller Schranken für die großkapitalistische Entwickelung unserm Kleingewerbe brachten; die Einführung der Maschinen und verbesserter Arbeitswerkzeuge und Arbeitsmethoden für die Arbeiter erzeugt haben und täglich noch erzeugen. Wie es sich hierbei für jeden Vernünftigen von selbst versteht, diese Kulturerrungenschaften nicht in Frage zu stellen, sondern derart zu gestalten, dass ihre Nachteile beseitigt werden und nur die Vorteile bleiben und Allen zu Gute kommen, so verhält es sich auch mit der Stellung der Frau. Das ,,Wie“ wird später ausgeführt werden.



Ich erklärte es für eine wohl zu entschuldigende Engherzigkeit, wenn Arbeiter das gänzliche Verbot der Frauenarbeit verlangten und wies darauf hin, wie dieses Verbot durch die offenbaren sittlichen Nachteile einigermaßen begründet werden könnte. Eine andere nicht unbeachtenswerte Entschuldigung für eine solche Forderung ist auch, dass der schon durch die Konkurrenz der männlichen Arbeiter unter sich auf das Mögliche herabgedrückte Lohn, noch tiefer herabgedrückt werde durch verdoppelte Konkurrenz, wenn auch die Arbeiterin in Frage kommt; und zwar hauptsächlich durch die der weiblichen Arbeitskraft anhängende Eigentümlichkeit, dass sie für weit niedrigere Bezahlung, wie die männliche, zu haben ist. Daran ist Schuld einmal die ewige Unterdrückung der Frau durch den Mann, die dadurch in ihren Ansprüchen und in ihren Bedürfnissen weit maßiger gehalten wurde; dann, dass sie heute, wo sie um zu leben den Kampf aufnehmen muss, ihn nur mit Erfolg bestehen kann, wenn sie ihre Arbeitskraft wesentlich billiger anbietet als der Mann. Wäre es gerechtfertigt durch hunderte von Generationen hindurch natürlich gewordene und sich entwickelnde Zustände, Individuen oder Klassen, oder auch einem Geschlecht als absichtlich gewollte und mit Bewustsein ausgeführte, in die Schuhe zu schieben, so könnte man hier sagen, diese Unterdrückung rächt sich jetzt an dem unterdrückenden Geschlecht.

Ein wenig anders liegen aber die Dinge, wenn man sieht wie männliche Kreise, die sich sonst auf ihre Bildung und höhere Einsicht gar viel zu Gute tun, das Bestreben der Frauen nach höherer Entwickelung und Selbstständigkeit auf ihrem, dieser ,,höheren“ Männerkreise eigenem Boden, zurückweisen und bekämpfen, weil sie ihre Konkurrenz fürchten, obgleich die Gefahr, dass auch hier das Einkommen an festem Gehalt oder an Salair sich vermindere, weniger vorhanden ist, und auch kein Überfluss von Kräfteangebot konstatirt werden kann. Eher das Gegenteil.

Ich meine hier vorzugsweise das Streben der Frauen nach Ausbildung für die höheren Lehr- und Verwaltungsfächer und die ärztliche Praxis. Da werden die lächerlichsten und absurdesten Einwendungen hervorgesucht und unter dem Schein der „Gelehrsamkeit“ verteidigt. Es geht der Gelehrsamkeit und der Wissenschaft überhaupt gegenwärtig häufig wie der Sitte und Moral und der Ordnung. Obgleich es bis auf den heutigen Tag noch nie einen Menschen gegeben hat, der Sittenlosigkeit, Unmoralität und Unordnung als wünschenswerten Zustand hingestellt hat — man müsste denn solche Individuen ausnehmen, die durch diese bezeichneten Laster die Macht und die Herrschaft an sich gerissen haben, in welchem Falle sie aber stets sich bemühten ihre Thaten als das Gegenteil darzustellen — so werden doch diese Schlagworte mit ihrer schädigenden Wirkung stets gegen die angewandt, welche die wahre Sitte, die wahre Moral und Ordnung begründen, mit einem Wort menschenwürdigere Zustände herbeiführen wollen. Ähnlich muss auch die moralische Wirkung des Berufens auf die Gelehrsamkeit und die Wissenschaft heute herhalten, um das Absurdeste und Reaktionärste zu verteidigen. Da heißt es denn, die Natur und körperliche Beschaffenheit der Frau weise sie auf die Häuslichkeit und Familie an, dort habe sie ihren Lebenszweck zu erfüllen. Und der zweite und Haupttrumpf ist, die Frau sei an geistiger Befähigung dem Mann inferior, es sei ein Unsinn, zu glauben, dass sie auf geistigem Gebiete etwas Bemerkenswertes leisten könne. Diese von „Gelehrten“ erhobenen Einwände kommen so sehr dem allgemeinen Vorurteil der Männer über den eigentlichen Beruf und die Fähigkeiten der Frau entgegen, dass der, welcher sie erhebt, stets auf den Beifall der Männermenge rechnen kann und, wie heute die Dinge noch liegen, auch auf die Mehrheit der Frauen. Allein wenn auch die Mehrheit entscheidet und entscheiden muss, und gegen ihren Willen und ihr Vorurteil sich nichts durchführen lässt, so ist doch damit nicht gesagt, dass sie immer das Vernünftigste will. Neue Ideen werden, so lange die Bildung und die Einsicht allgemein noch so niedrig ist wie heute, und die gesellschaftlichen Einrichtungen es notwendig machen, dass ihre Ausführung die Interessen einflussreicher Kreise verletzt, stets harten Widerstand finden. Diese interessierten Kreise haben es leicht das Vorurteil der Massen für sich auszubeuten, und so werden diese neuen Ideen Anfangs nur eine kleine Minorität für sich gewinnen, sie werden verspottet und verlästert und auch verfolgt werden. Aber wenn diese Ideen gut und vernünftig sind, wenn sie aus den Zuständen selbst als notwendige Konsequenz erwuchsen, werden sie an Verbreitung gewinnen, und die Minorität wird schließlich zur Majorität werden. So ist es allen neuen Ideen im Laufe der Weltgeschichte ergangen und die Idee des Sozialismus, mit welcher die wirkliche und volle Emanzipation der Frau in so inniger Beziehung steht, zeigt uns dasselbe Schauspiel.



Ist die sozialistische Idee zu Grunde gegangen, weil sie nicht sofort die Majorität erlangte? Hat sie nicht heute noch dieselbe gegen sich und ist sie darum unvernünftig? Ist die gegnerische Majorität nicht von Jahr zu Jahr kleiner geworden, genau in dem Maße wie die sozialistische Minorität wuchs? Trotzdem gibt es noch eine, ich glaube nicht unerhebliche, Anzahl Sozialisten, die der Frauenemanzipation nicht weniger abgeneigt gegenüberstehen, wie der Kapitalist dem Sozialismus. Die abhängige Stellung des Arbeiters vom Kapitalisten begreift jeder Sozialist und er wundert sich oft, das Andere, namentlich die Kapitalisten selbst, sie nicht begreifen wollen; aber die Abhängigkeit der Frau vom Manne begreift er häufig nicht, weil sein eigenes liebes Ich ein wenig dabei in Frage kommt. Das Bestreben wirkliche oder vermeintliche Interessen, die dann immer unfehlbare und unantastbare sind, zu wahren, macht die Menschen so blind. Betrachten wir also die Einwände, die gegen die Befreiung der Frau erhoben werden, und zwar zunächst den ersten, dass das Gebiet iher Wirksamkeit die Häuslichkeit sei, das Natur und Sitte ihr anwiesen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Frau und der Sozialismus.