Der wahre Zweck der Ehe.

Wie groß die Zahl der heutigen Ehen ist, die aus ganz andern Motiven und von ganz andern Anschauungen ausgehend, als die eben dargelegten, geschlossen werden, lässt sich statistisch und mathematisch nicht beweisen, da die Beteiligten in den meisten Fällen sehr dabei interessiert sind, ihre Ehe vor der Welt als etwas anderes erscheinen zu lassen, als sie in Wirklichkeit ist. Auch hat der Staat, als Repräsentant der Gesellschaft, kein Interesse, auch nur versuchsweise darüber Untersuchungen anzustellen, deren Resultat gar leicht ihn selbst in ein merkwürdiges Licht stellen könnte, da seine eignen Maximen, die er in Bezug auf die Verehelichung ganzer und großer Kategorien seiner Beamten und Diener verfolgt, das Anlegen eines sittlichen Maßstabes nicht vertragen.

Statt dass die Ehe ein rein sittliches Band sein sollte, das zwei Menschen aus gegenseitiger Liebe und Achtung umschlingt und sie zur Erreichung ihres Naturzweckes verbindet, dürfte dieser eigentliche Naturzweck bei vier unter fünf Ehen erst in die zweite oder dritte Linie gestellt sein. Dagegen wird die Ehe von Seiten der allermeisten Frauen als eine Art Versorgungsanstalt angesehen, in die sie um jeden Preis eintreten müssen, wohingegen auch der Mann seinerseits die materiellen Vorteile meist genau abwägt und berechnet. Und selbst in den Ehen wo nicht egoistische, berechnende Motive vorliegen, bringt die rauhe Wirklichkeit so viel Störendes und Auflösendes, dass sie in den seltensten Fällen die Hoffnungen erfüllt, welchen die Eheschließenden bei Eingehung ihres Bundes in jugendlichem Enthusiasmus und Liebesfeuer sich hingeben.


Das geht sehr natürlich zu. Soll die Ehe für die beiden Gatten ein heiteres und sie befriedigendes Zusammenleben gewähren, so erfordert sie neben der gegenseitigen Liebe und Achtung, die Sicherung der materiellen Existenz, die Gewährung eines solchen Maßes von Lebensnotwendigkeiten und Annehmlichkeiten, als sie nach Lage ihrer gewohnten Bedürfnisse für sich und ihre Kinder glauben notwendig zu haben. Die schwarze Sorge, der harte Kampf um das Dasein, ist der erste Nagel zum Sarge ehelicher Zufriedenheit und ehelichen Glücks. Die Sorge wird um so schwerer, je fruchtbarer die eheliche Gemeinschaft sich erweist, d. h. in je höherem Grade die Ehe ihren Naturzweck erfüllt. Der Bauer, der mit Jubel jedes Kalb begrüßt, das seine Kuh ihm bringt, der mit Behagen die Zahl der Jungen zählt, die ein Mutterschwein ihm wirft und mit Befriedigung und einem gewissen Stolz das frohe Ereignis seinen Nachbarn berichtet, derselbe Bauer blickt ernst und düster vor sich nieder, wenn seine Frau ihm zu der Zahl seiner Sprößlinge, die er glaubt ohne zu schwere Sorge erziehen zu können — und groß darf diese Zahl nicht sein — ihm einen neuen Zuwachs schenkt, um so düsterer, wenn das unschuldige Neugeborne das Unglück hat, ein Mädchen zu sein.

Diese einfache Tatsache, dass die Geburt eines Menschen, des höchsten und vollkommensten Wesens, das die Welt kennt, ,,Gottes Ebenbild“, wie es die Religiösen bezeichnen, in so vielen Fällen viel unterwertiger taxiert wird, wie ein neugebornes Kalb oder Schwein, zeigt den unwürdigen und tief unsittlichen Zustand an, in dem wir uns befinden. Darüber helfen alle Phrasen nicht hinweg. Und zwar ist es vorzugsweise wieder das weibliche Geschlecht, das am meisten darunter leidet. In dieser Beziehung unterscheiden sich unsere Anschauungen noch sehr wenig von denen der alten barbarischen Völker und mancher noch jetzt lebender. Neben der allgemein angenommenen Sitte in der alten Welt und zwar bei allen Völkern, Griechen und Römer nicht ausgenommen, von Geburt schwächliche oder verkrüppelte Kinder zu tödten, bestand auch die Sitte, überzählige Mädchen, und diese waren bei den ewigen Kriegen und Kämpfen stets überzählig vorhanden, zu beseitigen. Noch heute soll diese Sitte in China nnd bei verschiedenen indischen Völkerschaften, auf vielen Inseln der Südsee und des stillen Oceans und bei manchen Völkerschaften Afrika’s bestehen. Wir sind allerdings zivilisierter geworden, getötet werden die Mädchen nicht mehr, aber sie werden als Parias in der Gesellschaft und in der Familie behandelt; der physisch stärkere Mann drängt sie mit der Faust im Kampf um das Dasein überall zurück, und wo sie dennoch, getrieben von der Liebe zum Leben, den Wettkampf aufnehmen, werden sie als unliebsame Konkurrentinnen häufig mit Hass und mit Gemeinheit von dem stärkeren Geschlecht verfolgt. Darinnen machen die verschiedenen Stände des männlichen Geschlechts durchaus keinen Unterschied. Wenn kurzsichtige und beschränkte Arbeiter die Frauenarbeit gänzlich verboten wissen wollen — die Forderung wurde erst kürzlich von einer Seite auf dem französischen Arbeiterkongress gestellt aber mit großer Majorität abgelehnt — so ist eine solche Engherzigkeit noch zu entschuldigen, denn diese Forderung kann mit Hinweis auf die unbestreitbare Thatsache begründet werden, dass durch die immer weitere Einführung der Frauenarbeit das Familienleben der Arbeiter gänzlich zu Grunde gerichtet werde, und der Verfall der Sitten, wie die Degeneration des Geschlechts unausbleiblich sei. Dieser Zustand lässt sich nun freilich durch Verbot der Frauenarbeit nicht beseitigen, denn hunderttausende von Frauen sind zur industriellen, wie jeder andern außerhäuslichen Arbeit gezwungen, weil sie sonst nicht leben können; und die verheirathete Frau muss ebenfalls in den Konkurrenzkampf mit eintreten, wenn andere unverheiratete bereit sind, ihre Stelle in der Fabrik einzunehmen und der Verdienst des Mannes allein die Familie nicht mehr erhalten kann*).

Gegen die Frauenarbeit an sich zu opponieren ist gerade so unsinnig wie gegen die Einführung der Maschinen zu kämpfen, oder den Untergang der Kleinindustrie durch reaktionäre Maßregeln, die zudem unzulänglich sind, aufhalten zu wollen. Die Einführung der Frauenarbeit und die Ausdehnung der Frauentätigkeit auf alle Gebiete menschlichen Schaffens, zu denen ihre körperlichen und geistigen Kräfte sie befähigen, ist, trotz aller heute daraus erwachsenden, zum Teil sehr großen Übelstände, ein Kulturfortschritt, weil diese Entwickelung den Weg zeigt, auf welchem allein die volle und ganze Emanzipation der Frau, aber ohne Schädigung des Mannes, wie das heute der Fall ist, und ohne die Erfüllung ihrer Gattinnen- und Mutterpflichten irgendwie einzuschränken, oder zu verhindern, gesucht werden muss.

*) Herr E., ein Fabrikant, unterrichtet mich, dass er ausschließlich Frauen bei seinen mechanischen Webstühlen beschäftigt; er gebe verheirateten Frauen den Vorzug, besonders solchen mit Familien zu Hause, die von ihnen für den Unterhalt abhängen; sie sind viel aufmerksamer und gelehriger als unverheiratete, und zur äußersten Anstrengung ihrer Kräfte gezwungen, um die notwendigen Lebensmittel beizuschaffen. So werden die Tugenden, die eigentümlichen Tugenden des weiblichen Charakters zu seinem Schaden verkehrt — so wird alles Sittliche und Zarte ihrer Natur zum Mittel ihrer Sklaverei und ihres Leidens gemacht.“ Rede des Lord Ashley über die Zehnstunden-Bill 1844. Siehe Karl Marx „Das Kapital“, II. Auflage.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Frau und der Sozialismus.