Von Abhängigkeiten, Natur und Sitte.

Ist die sozialistische Idee zu Grunde gegangen, weil sie nicht sofort die Majorität erlangte? Hat sie nicht heute noch dieselbe gegen sich und ist sie darum unvernünftig? Ist die gegnerische Majorität nicht von Jahr zu Jahr kleiner geworden, genau in dem Maße wie die sozialistische Minorität wuchs? Trotzdem gibt es noch eine, ich glaube nicht unerhebliche, Anzahl Sozialisten, die der Frauenemanzipation nicht weniger abgeneigt gegenüberstehen, wie der Kapitalist dem Sozialismus. Die abhängige Stellung des Arbeiters vom Kapitalisten begreift jeder Sozialist und er wundert sich oft, das Andere, namentlich die Kapitalisten selbst, sie nicht begreifen wollen; aber die Abhängigkeit der Frau vom Manne begreift er häufig nicht, weil sein eigenes liebes Ich ein wenig dabei in Frage kommt. Das Bestreben wirkliche oder vermeintliche Interessen, die dann immer unfehlbare und unantastbare sind, zu wahren, macht die Menschen so blind. Betrachten wir also die Einwände, die gegen die Befreiung der Frau erhoben werden, und zwar zunächst den ersten, dass das Gebiet ihrer Wirksamkeit die Häuslichkeit sei, das Natur und Sitte ihr anwiesen.



Es ist immer eine heikle Sache, wenn man sich auf Natur und Sitte bei irgend einer menschlichen Einrichtung glaubt berufen zu müssen und dabei natürlich die Natur mit althergebrachten Gewohnheiten verwechselt. Wenn ich z.B. behaupten würde, dass Natur und Sitte erforderten, dass das Königtum ewig bestehe, weil es, so lange wir eine Geschichte haben, stets irgendwo Könige gegeben, so würde man mich auslachen. Obgleich wir nicht wissen, wann und wo der erste König auf der Erde war, so wenig wir wissen, wann und wo der erste Staat gegründet wurde oder der erste Kapitalist entstand, so wissen wir doch aus der Geschichte, dass das Königtum unter vielfachen Formen seit uralter Zeit bestanden hat und im allgemeinen die Tendenz seiner Entwickelung dahin geht, dass seine Macht in demselben Grade sich vermindert, wie der Kulturzustand eines Volkes steigt. Wir können schon allein daraus ganz sicher schließen, dass es eines Tages verschwinden wird, weil es mit den vorgeschritteneren Anschauungen und Kulturbedürfnissen einer späteren Zeit ganz in Widerspruch tritt. Das Königtum wird fallen, aber das verhindert nicht, dass die Könige und ihre Nachkommen als Menschen wie andere werden weiter leben. So verhält sich’s auch mit der Haussklaverei der Frau. Gab es eine Zeit, wo Mann und Frau wild lebten, d. h. ohne innigere Gemeinschaft als die des vorübergehenden Geschlechtsgenusses — es gibt heute noch wilde Völkerschaften, wo dieser Zustand besteht — so kam auch die Zeit, wo die Frau des Mannes Genossin wurde, wo sie aber nichts anderes als seine Sklavin war, welche die niedrigsten, unangenehmsten und schwersten Arbeiten ihm verrichten musste. Die Frau bei einem Hirtenvolk hat eine andere Stellung wie die Frau bei einem ackerbautreibenden Volk, und welche Stellung die Frau selbst bei den so hoch gebildeten Athenern einnahm, dass habe ich oben geschildert. Dort war sie ganz auf die engste Häuslichkeit beschränkt, sie hatte, wie wir aus Demosthenes Worten ersehen, den einzigen Zweck: „legitime Kinder zu gebären und treue Hüterin des Hauses zu sein.“ Wer würde heute wagen eine solche Stellung der Frau als naturgemäß zu verteidigen, ohne sich den Vorwurf grenzenloser Rohheit und Geringschätzung der Frau zuzuziehen! Dass es heute noch Käuze gibt, welche die Auffassung der Athener von der Stellung der Frau im Stillen teilen, bezweifle ich gar nicht, aber Keiner wagt heute öffentlich auszusprechen, was in Griechenland vor 22 hundert Jahren einer der bedeutendsten Männer frei und offen als selbstverständlich bekennen durfte. Darin liegt ein großer Fortschritt. Aber wir haben gar nicht nötig bis auf griechische Zeiten und Zustände zurück zu greifen um die große Veränderung in der Stellung der Frau von heute zu früher zu beweisen. Vor fünfzig bis sechzig Jahren und selbst noch später, galt es in jedem Bürger- und Bauernhause als ganz selbstverständlich, dass die Frau nicht nur nähte, strickte und wusch, obgleich auch das schon heut zu Tage sehr aus der Mode gekommen ist, sie buk auch das Brot, spann und webte und bleichte, braute Bier und kochte Seife, zog Lichte u. s. w. Ein Kleidungsstück außerhalb des Hauses fertigen zu lassen, wäre als eine maßlose Verschwendung in der ganzen Stadt oder im ganzen Dorf und als wichtigstes Staatsereignis von Männern und Frauen besprochen und verurteilt worden, selbst wenn zehnmal die Mittel dazu vorhanden waren. Wenn solche Zustände vielleicht heute noch annähernd hier und da existieren, so sind sie Ausnahmen, mehr als neunzig Prozent der Frauen fällt es gar nicht mehr ein die meisten dieser Verrichtungen zu vollziehen, und selbst wenn sie wollten, sie könnten es nicht. Einmal werden viele dieser Verrichtungen viel besser, praktischer und billiger besorgt, als die Hausfrau unter den heutigen Verhältnissen es vermöchte und andrerseits würde, wenigstens in den Städten, jede häusliche Einrichtung dazu fehlen. So hat sich also in wenigen Jahrzehnten innerhalb unseres Familienlebens eine große Revolution vollzogen, der wir nur so wenig Beachtung schenken weil wir sie für selbstverständlich halten. Neuen Tatsachen gegenüber fügt sich der Mensch, beachtet sie oft nicht einmal, wenn sie nicht zu plötzlich vor ihn treten, aber gegen neue Meinungen, die ihn aus dem gewohnten Schlendrian zu reißen drohen, gegen die wird er grimmig und eigensinnig.



Und diese in unserm häuslichen Leben sich vollzogen habende Revolution, die übrigens lange noch nicht zu Ende ist, hat auch nach anderer Richtung die Stellung unserer Frauen in der Familie wesentlich verändert. Die Stellung der Frau ist freier und unabhängiger geworden. Wo haben unsere Großmütter daran gedacht und denken dürfen Arbeiter und Lehrburschen außer Hause und vom Tische fern zu halten, öffentliche Lokale mit der Familie zu besuchen, ins Theater, ins Konzert und in die Vergnügungslokale zu gehen und das alles — es ist schrecklich zu sagen — häufig gar an einem Wochentag. Und welche von jenen guten alten Frauen hätte daran gedacht und gewagt daran zu denken, sich um öffentliche Angelegenheiten, wenn auch nur um nicht politische, zu bekümmern, wie es doch jetzt tatsächlich von Vielen bereits geschieht. Sie gründen Vereine für die verschiedensten Zwecke, unterhalten Zeitungen, berufen Kongresse; als Arbeiterinnen treten sie in Gewerkschaften zusammen, kommen in die Versammlungen und Vereine der Männer und besitzen sogar bereits hier und da das Recht zu Arbeiterschiedsgerichten wählen zu dürfen, ohne dass dadurch die Suppe des Gemahls in Gefahr gekommen ist.

Welcher Zopf wollte alle diese Veränderungen beseitigen, obgleich sich auch hier nicht bestreiten lässt, dass neben den Lichtseiten auch Schattenseiten und zwar starke vorhanden sind, die eben mit unsern gärenden und faulenden Zuständen zusammenhängen, aber die Lichtseiten nicht überwiegen. Eine Abstimmung unter den Frauen, so konservativ sie bis jetzt im Ganzen sind, dürfte ergeben, dass es eine ganz winzige Minorität ist, die Neigung besäße, in die alten engen patriarchalischen Verhältnisse vor fünfzig Jahren zurückzukehren.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Frau und der Sozialismus.