Kapitel 35 - Die Flucht der Männer des „Grauen Bären“. – Smart erzürnt.

35. Die Flucht der Männer des „Grauen Bären“. – Smart erzürnt.

Waren Mr. und Mrs. Dayton schon über den wilden Ritt Adelens erstaunt gewesen, so beobachteten die gegenwärtigen Insassen des „grauen Bären“ mit kaum geringerem Interesse die sich in ihrer unmittelbaren Nähe ereignenden Vorgänge. Galt diese scheinbare Verfolgung des Einen, den sie durch die Büsche nicht erkennen konnten, ihrer Sache, oder hatte die Begegnung so vieler Menschen auf der Countystraße nur zufällig stattgefunden? Ihr böses Gewissen machte sie zittern, und von Allen stand Sander, als er unter den Männern Adele erkannte, mit bleichem Antlitz und ängstlich pochendem Herzen oben an dem kleinen, im zweiten Stock befindlichen Fenster, um von da aus sowohl die Vorgänge auf der Straße zu übersehen, als auch, im Fall ihm wirklich Gefahr drohe, augenblicklich zu wissen, nach welcher Richtung hin er sich am besten retten könne.


Was hatte Adele Dunmore hier so allein zwischen die fremden Männer geführt? Und wer war es, der dort in tollen Sätzen durch den wildverwachsenen Wald davonsprengte? Einzelne dichtbelaubte Hickories verstatteten ihm nicht, den ganzen Schauplatz zu übersehen, aber nur um so mehr fühlte er sich beunruhigt, da ihm das Wenige, was er erkennen konnte, so räthselhaft schien.

Da wurde seine Aufmerksamkeit plötzlich von der Straße abgezogen, denn einer der Fremden kam rasch auf das Haus zu. Sander war noch in Zweifel, wer es sein könne, denn die Männer trugen fast sämmtlich Strohhüte, und von oben herunter entzog ihm der breite Rand das Gesicht. Da öffnete sich die Hausthür und ließ den Klopfenden ein; er gehörte also auf jeden Fall zu den Freunden, Thorby hätte ihm sonst nimmer den Eintritt verstattet, und rasch sprang der junge Verbrecher die Stufen hinab, um zu hören, was jener bringe.

Es war Porrel selbst, der hierher kam, den Auftrag ihres Führers auszurichten und den Kameraden in der Kürze zu melden, was in Helena geschehen, welcher Gefahr sie ausgesetzt gewesen, welche Vorkehrungen dagegen getroffen wären, und welchen Plan vor allen Dingen Kelly entworfen habe, nicht allein ihre Flucht zu sichern, sondern auch zugleich Rache an den Feinden zu nehmen.

„Aber, beim Teufel,“ rief da Sander ärgerlich aus, „weshalb kommt der Capitain nicht einmal selber hierherauf; er weiß, was er mir versprochen hat und weshalb ich mich jetzt in der Stadt nicht gut sehen lassen darf. Wenn die ganze Sache, was mit jedem Augenblicke geschehen kann, wirklich auseinanderbricht, dann sitzen wir nachher fest auf dem Sande, während er sehr behaglich im Trüben fischt und angelt, oder doch auf jeden Fall seine eigene werthgeschätzte Person in Sicherheit bringt.“

„Habt keine Angst,“ beruhigte ihn lachend Porrel, oder Toby, wie er gewöhnlich von den Kameraden genannt wurde, „glaubt ja nicht, daß Ihr, wenn es wirklich an den Kragen ginge, beim letzten Tanze fehlen sollt. Ihr, die Ihr Euch jetzt noch versteckt halten müßt, bleibt in dem Chickenthief, mit dem Ihr nun so schnell als möglich unter die Helenalandung hinabfahrt, ruhig liegen. Gelingt unser Plan und gehen wir mit den Bewaffneten von Helena wirklich gemeinschaftlich auf das Dampfboot, dann setzt Ihr Eure Segel, und mit diesem und etwas Rudern könnt Ihr, wenn auch nicht mehr zum Kampf, doch auf jeden Fall noch zur Einschiffung kommen. Gelingt er aber nicht, müssen wir, was ich uns übrigens nicht wünschen will, schon in Helena zuschlagen, so sind vier schnell hintereinander abgefeuerte Schüsse das Signal. Dann ist Alles entdeckt und nur Gewalt kann uns befreien; in dem Fall zögert aber auch nicht, wenn Ihr nicht abgeschnitten werden wollt. Die Maske haben wir nachher überhaupt abgeworfen, und Ihr braucht Euch nicht länger zu scheuen, an's Licht zu treten.“

„Ich für meinen Theil wollte fast, es wäre so weit,“ brummte Sander; „meines Bleibens ist hier nicht mehr, und ein Glück war's nur, daß sie in Helena den verwünschten Hosier verhafteten; der hätte mich sonst in eine böse Patsche bringen können. Was wolltet Ihr mit dem Burschen, der da so merkwürdig eilig durch den Wald sprengte?“

„Das war James Lively,“ erwiderte Porrel, „der hier im Kieferndickicht auf der Lauer gelegen und dieses Haus beobachtet haben muß.“

„Nun da habt Ihr's“ rief Sander erschreckt, – „das sind die Folgen dieses verdammten Zögerns, und wir, die wir unsere eigenen Physiognomien zum allgemeinen Besten haben müssen verdächtigen lassen, werden wohl noch zum guten Ende, während Ihr Anderen frei durchbrennt, in einer sauber gedrehten Hanfschlinge an's Licht gezogen werden. Tod und Verdammniß, so ganz in die Hände dieses Kelly gegeben zu sein!“

„Nun, das hat die längste Zeit gedauert,“ beruhigte ihn Porrel – „dort kommt auch das Boot schon, jetzt zu Schiffe, Ihr Herren, James Lively wird, wenn er so schnell zurückkehrt, als er gegangen ist, die Hinterwäldler bald genug hier versammelt haben, dann laßt sie das leere Nest finden, und wir ziehen indessen in Helena unsere Mannen zusammen. Sind Eure Sachen gestern Abend noch hinunter auf die Insel geschafft, Thorby?“

„Nein, gestern Abend nicht, wer Teufel sollte denn bei dem Nebel fahren?“ erwiderte der Gefragte; „aber heute Morgen hab' ich sie abgeschickt, auf jeden Fall treffen wir sie dort, bis wir selbst hinunterkommen.“

„Sollen wir denn aber so offen auf's Boot gehen?“ frug Sander – „wenn nun noch irgend ein Halunke hier versteckt läge und nachher in Helena unsern Schlupfwinkel verriethe?“

„Da, hängt die Decken über,“ sagte Thorby – „sie mögen Euch für Indianer halten, und nun rasch, mir ist's immer, als ob ich schon Hufschläge hörte.“

Die Männer stiegen ohne weiteres Zögern in das dicht am Flatboot liegende kleine Segelboot hinunter, und Porrel eilte, von noch Mehreren der Leute aus dem „grauen Bären“ begleitet, schnellen Schrittes nach Helena zurück.



Indessen hatte sich Jonathan Smart, der von dem Virginier die näheren Umstände über Cook's Verhaftung rasch erfragte, ohne Zögern mit diesem auf den Weg gemacht, um den Richter selbst darüber zur Rede zu stellen. Der war aber nirgends zu finden, und der Constabler erklärte, die angebotene Bürgschaft ohne dessen Bewilligung auf keinen Fall annehmen zu können.

Dagegen ließ sich nicht wohl etwas einwenden, das wußte Smart gut genug, und obgleich sich der Virginier höchst entrüstet verschwor, er habe unmenschliche Lust, der ehrsamen Gerichtsbarkeit in Helena Arme und Beine zu zerschlagen, so hatte er doch an diesem Morgen selber gesehen, daß er sich mit denen, die gleichgesinnt waren, bedeutend in der Minorität befinde, und machte deshalb für den Augenblick seinem gepreßten Herzen nur in einer unbestimmten Anzahl von Kernflüchen und Verwünschungen Luft.

Die beiden Männer waren unter der Zeit langsam die Straße hinab und dem Gefängniß zu gegangen, dem gegenüber, vor der seligen Mrs. Breidelford Hause, sich noch immer einzelne Bootsleute und Kinder aus der Nachbarschaft herumtrieben, wenn auch die festverschlossenen Thüren jeden ferneren Eintritt versagten. Da wurden sie plötzlich aus einem der oberen Jailfenster mit einem „Boot ahoi!“ begrüßt, und Smart, der im Anfang glaubte, es sei Cooks Stimme, erstaunte nicht wenig, hier auch seinen Freund von gestern, den jungen Indiana-Bootsmann zu treffen. Es war derselbe, der ihm das junge Mädchen gebracht, und den er schon lange, weil er sich gar nicht wieder hatte sehen lassen, stromab vermuthete.

„Hallo, Sir!“ rief er erstaunt aus, „was zum Henker macht denn Ihr hier hinter den Eisenstäben? Potz Zwiebelreihen und Holzuhren, was ist denn auf einmal in den Richter gefahren, der war doch sonst nicht so bei der Hand mit Leuteeinsperren.“

„Gott weiß, auf welches Schurken Anklage ich hier sitze,“ rief der junge Matrose – „der Halunke hat sich nicht wieder sehen lassen, und wie es scheint, bekümmert sich gar Niemand um uns hier. Ist denn das ein freies Land, wo man die Bürger ohne Weiteres in ein Loch, wie dieses hier, werfen darf und dann auch ruhig darin stecken läßt?“

„Aber weshalb sitzt Ihr denn?“ frug Smart erstaunt.

„Gentlemen,“ mischte sich da ein Fremder – Smart hatte ihn wenigstens früher noch nie in Helena gesehen – in das Gespräch, „derlei Unterhaltungen dürfen hier nicht stattfinden. Ein Freund von mir hat den Mann da verklagt und – der Constabler hat verboten, daß Jemand zu ihm gelassen werde.“

„Schlagt doch dem einmal Eins auf den Kopf, Smart!“ rief Tom von oben herunter – „ich bin Euch auch wieder einmal gefällig.“

„Mein lieber Sir,“ sagte der Yankee ruhig, ohne jedoch dem Gefangenen diesen kleinen Dienst zu erweisen, „es wäre für Sie gewiß höchst vortheilhaft, glaub' ich, wenn Sie sich um Ihre eigenen Geschäfte bekümmern wollten. Ich meines Theils wenigstens bin keineswegs –“

„Das sind aber meine Geschäfte, Sir,“ fiel ihm der Andere trotzig in's Wort, und von der entgegengesetzten Straßenreihe zogen sich nach und nach einzelne Männer herüber – „ich bin ganz besonders hierher gestellt, derlei Unterhaltungen zu hindern, und verbiete sie hier ein für alle Mal.“

– „geneigt, mir von irgend einem Fremden Vorschriften machen zu lassen,“ fuhr Smart fort. Der Virginier aber, dem die Galle schon gleich von der ersten Anrede gekocht hatte, trat ohne weitere Worte vor, warf seine Jacke ab, streifte die Aermel auf und bat Smart, das Gespräch nur ruhig fortzusetzen, denn er wolle verdammt sein, wenn er dem „Breitmaul“, wie er sagte, nicht den Rachen stopfe, sobald er seinen Bug nur noch ein einziges Mal hier einschiebe.

„Ruhe hier, Gentlemen, da drüben liegt eine Leiche!“ riefen jetzt Andere, die hinzutraten, „pfui, wer wird sich schlagen und raufen vor dem Todtenhause.“

„Ich, wenn Ihr's wissen wollt,“ rief trotzig der Virginier – „ich, sobald ich die Ursache dazu bekomme, und vor der da drüben brauch' ich noch lange keine Ehrfurcht zu haben. – Verdient hat sie, was ihr geworden ist, und das hundertfach – mich hat sie zum Beispiel betrogen, daß mir die Augen übergegangen sind.“

„Ei, so dreht doch dem lügnerischen Schuft den Hals um!“ rief da ein Anderer aus der sich jetzt mehr und mehr sammelnden Volksmenge heraus, und als sich der Virginier rasch nach ihm umwandte, begegnete er lauter kampffertigen Gesichtern, unter denen er seinen Angreifer nicht im Stande war zu erkennen.

„Heilige Dreifaltigkeit – wenn ich doch jetzt unten wäre!“ wünschte sich Tom aus dem Fenster hinaus; aber Smart, über solche Feigheit einer Mehrzahl gegen den Einzelnen auf's Tiefste empört, wandte sich gegen die Menge und rief, den langen Arm mit der keineswegs unbeträchtlichen Faust gegen sie ausstreckend:

„Fellows – denn Gentlemen kann man Euch Lumpengesindel nicht mehr nennen – feiges, erbärmliches Pack, das sich nicht schämt, in Masse gegen Einen aufzustehen – Amerikaner wollt Ihr sein? – Niederträchtiges Halbbrutzeug seid Ihr, das man in Neu-England bei den –“

„Hurrah für Smart!“ tobte jubelnd der Haufe, der durch diesen derben Ausfall des sonst so ruhigen und gleichmüthigen Wirthes mehr ergötzt als gereizt wurde – „Hurrah für den Yankee – bringt einen Stuhl – einen Tisch herbei – Smart soll auf den Tisch – eine Rede halten – Smart soll reden – Hurrah für Smartchen!“

– „Beinen aufhängen würde,“ überschrie Smart, jetzt wirklich in Wuth gebracht, den Haufen – „Bande, verdammte – flußwassersaufendes Piratenvolk – das Ihr seid – Einer und Alle! – Eure Väter haben ihr Blut für die Unabhängigkeit ihres Vaterlandes vergossen und Ihr, Schandbuben, wegelagert jetzt dasselbe Land und bringt Schimpf und Schmach auf die Gräber Eurer Eltern, auf Euer Vaterland. Aber Ihr habt gar kein Vaterland – Ihr seid vogelfrei – Wasserratten seid Ihr, die man mit Gift ausrotten sollte, daß die Erde von solcher Brut befreit würde.“

„Bravo, Smart, bravo!“ jubelte es ihm von allen Seiten entgegen, und der Virginier stand mit halb erhobenen Fäusten und schien sich jetzt wirklich nur ein Gesicht auszusuchen, in das er seinen Arm zuerst hineinstoßen konnte.

Es wäre am Ende doch noch zu Thätlichkeiten gekommen, und wer weiß, wie weit nachher der Uebermuth des Pöbels diesen geführt hätte, wenn nicht jetzt der Constabler zwischen die Männer und ernstlich und nachdrücklich Ruhe geboten hätte. Smart mußte aber noch keine Lust haben, dem Rufe Folge zu leisten, denn es sah aus, als ob er eben wieder mit frisch gesammelten Kräften gegen die ihn umgebenden feixenden Gesichter einen neuen Anlauf nehmen wollte. Da besann er sich wahrscheinlich eines Bessern, warf noch einen verächtlichen Blick über die rohe Schaar, schob plötzlich beide Arme fast bis an die Ellbogen in seine tiefen Beinkleidertaschen hinein und schritt pfeifend die Straße hinab. Dabei gaben ihm übrigens Alle willig Raum, denn sie hatten den Yankee schon früher als einen entschlossenen und, wenn gereizt, auch gefährlichen Mann kennen gelernt, mit dem wenigstens kein Einzelner Streit auf eigene Faust zu beginnen gedachte.

Der Constabler, der indessen mit ernsten, aber zugleich freundlichen Worten die wilde Schaar zu beruhigen suchte, theilte dabei dem Virginier mit, er habe schon mit einem hiesigen Kaufmann gesprochen, der sowohl für Cook als auch für James Lively Bürgschaft leisten wolle, und Mills verschwor sich hoch und theuer, das sei der einzige vernünftige Mensch in ganz Helena, und er wolle verdammt sein, wenn er von jetzt an bei irgend jemand Anderem als bei ihm seinen Tabak kaufe.

Als Porrel die Stadt wieder betrat, fand er den Richter, der ihn schon ungeduldig an der Dampfbootlandung erwartet zu haben schien.

„Alles besorgt!“ rief ihm der Sinkviller entgegen und deutete auf den Strom hinaus, über dessen Fläche eben mit geblähten schneeweißen Segeln, den scharfen Ostwind in die straff gespannten Arme fassend, das kleine schlankgebaute Fahrzeug heranglitt und seine Bahn gerade dem Platze zu zu nehmen schien, aus dem sie standen. „Der Kahn dort birgt unsere Musterexemplare, für die wohl Arkansas einen ganz hübschen Eintrittspreis geben würde, um sie nur sehen zu dürfen. – Wir können jetzt alle Augenblicke losschlagen.“

„Ja,“ sagte der Richter und schaute finster vor sich nieder, „und uns hier, und was wir in unserer Nähe haben, bringen wir in Sicherheit – Andere aber, die wir zurücklassen, sind verloren – wir können nicht fort.“

„Alle Teufel!“ rief Porrel erschreckt, „das wäre ein schöner Spaß – der junge Lively ist, durch Eure Verwandte gewarnt, entflohen, und wir werden die ganze Waldbande in noch nicht einer Stunde auf dem Halse haben – längerer Aufschub ist bei Gott nicht mehr zu erhalten – wer fehlt denn jetzt noch?“

„Eben bekam ich einen Brief von Memphis,“ sagte der Richter – „ein reitender Bote hat ihn durch die Sümpfe gebracht – drei von unseren Kameraden befinden sich da oben in größter Gefahr, und nur mein Erscheinen dort kann sie retten.“

„Wegen der Drei darf doch nicht das Ganze zu Grunde gehen!“ rief Porrel unwillig.

„Nein,“ sagte der Squire, „aber unsere Pflicht ist es, für sie, so lange das noch in unseren Kräften steht, wenigstens einen Versuch zu machen.“

„Doch wie?“

„Porrel – Ihr kennt unsere Pläne und wißt, daß ihr Gelingen ganz in unsere Hände gegeben ist. Bin ich im Stande, mich auf Euch zu verlassen? Wollt Ihr die Unseren führen jetzt in den leichten Kampf und nachher der Freiheit entgegen? Wollt Ihr die Beute an Bord des Dampfbootes schaffen, die Gelder, die Euch Georgine bei Vorzeigung dieses Ringes übergeben wird, in Verwahrung nehmen, und bis dahin, wo ich Euch an dem verabredeten Orte in Texas treffe, halten, oder – wenn ich unterginge – vertheilen?“

„Was habt Ihr vor?“ frug Porrel erstaunt – „Ihr wollt nicht mit?“

„Ich allein kann Die, deren Sicherheit bisher meine Pflicht war, noch retten,“ fuhr Dayton, ohne die Frage direct zu beantworten, fort – „noch hat Niemand eine Ahnung, wer ich sei oder daß ich überhaupt in solcher Verbindung stand; dieses Dampfboot geht in wenigen Minuten stromauf – heut Abend schon bin ich in Memphis – morgen kann der Rest der Unseren auf dem Weg nach Texas sein.“

„Und was nützte das?“ erwiderte Porrel – „Hunderte sind noch oben in den verschiedenen Flüssen und Flußstädten vertheilt – die Alle müssen dann zurückbleiben, und haben sie nicht dasselbe Recht, als die in Memphis?“

„Sahet Ihr heute Morgen den alten Baum fällen, der hier am Ufer stand?“ frug ihn Dayton.

„Ja – was hat der mit meiner Frage zu thun?“

„Er ist allen stromabkommenden Booten das Wahrzeichen vom Bestehen der Insel,“ entgegnete ihm der Richter – „sehen sie den Stamm nicht mehr, so wissen sie, daß die Inselcolonie entweder untergegangen oder es für jetzt doch nicht möglich ist, dort zu landen, und fahren vorüber.“

„Hm – verdammt vorsichtig,“ brummte Porrel und blickte halb überzeugt, halb mißtrauisch den Gefährten an. Es war ein eigener Verdacht, der in ihm aufstieg – wollte der Capitain sie im entscheidenden Moment verlassen? Des Richters Aussehen bestätigte das Alles, und er sagte:

„Hört – Squire – soll ich das, was Ihr mir da eben mittheilt, den Leuten erzählen, wenn sie nach Euch fragen, und wollt Ihr mir offen sagen, was Ihr vorhabt, oder – ist die Geschichte für mich mit erdacht?“

Der Squire sah ihn einen Augenblick unschlüssig zögernd an, dann streckte er dem Freunde rasch die Hand entgegen.

„Nein,“ rief er – „nicht für Euch, Porrel – Euch werde die lautere Wahrheit. Ich will fort – will dies Leben, wie diese Schaar verlassen – Ihr, Porrel, mögt der Vollstrecker meines letzten Willens – mein Erbe sein!“

„Und Euer Weib nehmt Ihr mit?“ frug der Mann von Sinkville. Der Squire nickte schweigend mit dem Kopfe.

„Aber Georgine –“

„Lest den Brief!“ sagte dumpf der Richter. Porrel nahm das Schreiben und überflog es rasch.

„Eifersucht!“ sagte er lächelnd – „blinde Eifersucht! – an?“ – er drehte, um die Aufschrift zu lesen, das Papier herum – „ha, da sind Blutflecken – mit einem Tuche verwischt. Wer hat dies Schreiben so roth gesiegelt?“

„Der Träger,“ entgegnete Dayton finster – „doch wie dem auch sei, nie will ich sie wiedersehen, aber sie soll auch nicht darben – hier dies Paket und seinen Inhalt übergebt ihr von mir.“

„Also Ihr habt fest beschlossen –“

„Fest, Porrel – fest, und Euch – wenn Ihr meine Bitte treu erfüllt, die Leute in Sicherheit bringt und die Beute redlich unter sie theilt – sei mein Antheil bestimmt; genügt Euch das?“

„Der ganze Antheil?“ frug erstaunt der Advocat. – „Mann, wißt Ihr auch, welche Reichthümer wir besonders in letzter Zeit erübrigt haben?“

„Wohl weiß ich es,“ flüsterte mit abgewandtem Antlitz der Richter – „es ist das Eure. – Wer von den Unseren nach mir fragen sollte, dem sagt, zu welchem Zweck ich mit diesem Boot und wohin ich mit ihm gegangen. Doch jetzt beruhigt die Leute da oben, ich höre noch immer den wilden Lärm und Zank. Die Burschen sind doch unverbesserlich und nicht im Zaume zu halten, ob ihnen Tod und Henker auch schon vor Augen ständen. Good bye, Porrel – ich gehe jetzt hinauf, mein Weib zu holen – Glück zu – der beste Wunsch, den ich für Euch habe, ist: Texas und den Golf hinter Euch!“

Adele war indessen rasch die kurze Strecke zum Union-Hotel getrabt, um Mrs. Smart's Sattel zurückzubringen. Dort fand sie aber das ganze Haus wie ausgestorben; der einsame Barkeeper schaukelte sich in der Veranda auf den Hinterbeinen seines Stuhles, Madame war, wie Scipio sagte, zu Squire Daytons, Mr. Smart selbst mit dem Virginier fortgegangen und er, Scipio, wußte nun – wie er meinte – vor langer Weile nicht, ob er seine gewöhnliche Arbeit besorgen oder hinter den Anderen hergehen solle.

„Ist Mrs. Smart schon lange drüben?“ frug Adele, während der Neger den Sattel abnahm und den Zügel des Pferdes über das Reck warf.

„Nein, Missus,“ lautete die Antwort – „gar noch nicht lange – Golly Jesus – Missus hat ja das Pferd verwechselt – Nancy war hier – ist bei Jingo Mr. Lively's Pony – fremde Missus soll recht krank geworden sein.“

„Marie?“ rief Adele erschreckt – „armes, armes Kind – aber ich bin gleich bei Dir – ach, Scipio, weißt Du nicht, ob Squire Dayton zu Hause ist – ich muß ihn augenblicklich sprechen.“

„Steht unten am Wasser, Missus,“ sagte Scipio, „gleich unten, wenn Ihr hier die Straße hinuntergeht – Ihr könnt gar nicht fehlen, er müßte denn wieder weggegangen sein.“

„Scipio,“ sagte Adele, „willst Du mir die Liebe thun und einmal hinunterlaufen und ihn bitten, er möchte doch – oder nein – ich will lieber selber gehen – Scipio, nicht wahr, Du begleitest mich an den Fluß. Eine solche Menge fremder Bootsleute ist heute in der Stadt, ich fürchte mich fast, allein zu gehen.“

„Großer Golly,“ sagte Scipio und schüttelte bedenklich mit dem Wollkopf – „geht heute merkwürdig wild in Helena zu – dies Kind hier“ – Scipio, wenn er von sich selber sprach, nannte sich immer gern mit diesem allerdings für ihn etwas zu jugendlichen Beinamen – „dies Kind hier hat noch keine solche Wirthschaft gesehen. – Wundert mich, daß der Leichendoctor noch nicht da ist –“

„Willst Du mit mir gehen, Scipio?“

„Be sure – Miß, be sure – Scipio geht immer mit!“ – und der Afrikaner drückte sich seinen alten, abgegriffenen Strohhut noch fester in die Stirn, hob sich, nach Matrosenart, den Bund ein wenig, streckte erst das rechte, dann das linke Bein, und gab nun durch eine kurz abgeknickte Vorbeugung der jungen Dame zu verstehen, daß seine Toilette beendet und er vollkommen bereit sei, zu folgen, wohin sie ihn führen würde.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Flusspiraten des Mississippi