Kapitel 33 - Squire Dayton beschließt, mit seinem Weibe aus Helena zu fliehen.

33. Squire Dayton beschließt, mit seinem Weibe aus Helena zu fliehen.

Squire Dayton war, während sich das übrige Volk zerstreute, mit Porrel und einem Theil seiner Verbündeten zurückgeblieben, und stand, die Arme fest verschlungen, mitten auf dem breiten Platze, der Mrs. Breidelford's Haus von dem Gefängniß trennte. Er wußte recht gut, daß sich jetzt – vielleicht heute noch – nicht allein sein Schicksal, sondern auch das aller Uebrigen entscheiden mußte, und tollkühne Pläne waren es, die für den Augenblick sein Hirn durchkreuzten. Sollte er hier der Gefahr ausgesetzt bleiben, verrathen und vielleicht einmal überrascht und gefangen zu werden? Sein Blick schweifte wild über die wogenden Menschenmassen hin –, oder sollte er sich – der Macht, die er jetzt um sich versammelt sah, vertrauend – im letzten entscheidenden Streich den Feinden entgegen werfen? Noch war ihm Zeit gegeben, das, was er an Schätzen angehäuft, in Sicherheit zu bringen, der nächste Augenblick vernichtete vielleicht schon alle Hoffnungen und Pläne. – Porrel, der eben erst von Sinkville eingetroffene Verbündete, mochte ahnen, was in seiner Seele vorging, er schritt auf ihn zu, blieb wenige Secunden neben ihm stehen, und flüsterte dann, indem er leise seine Schulter berührte:


„Nun, Sir – beschließt rasch, was Ihr thun wollt, unsere Augenblicke sind gezählt.“

„Wißt Ihr?“ frug Dayton und schaute fragend zu ihm auf.

„Ich weiß Alles,“ entgegnete mürrisch der Fremde, – „Sander, der Euch oben im ›grauen Bären‹ sehnsüchtig erwartete, hat mir wenigstens das Wichtigste mitgetheilt.“

„Wo ist Simrow?“ frug der Squire rasch, – „habt Ihr nichts von ihm gesehen?“

„Die Pest über den Burschen,“ rief der Advocat, „ich habe ihm nie getraut!“

Dayton sah ihm überrascht und mißtrauisch in's Auge.

„Wahrscheinlich spielte er ein falsches Spiel,“ fuhr Porrel, ohne den Blick zu beachten, fort, „so viel ist gewiß, er hatte sich, als der alte Benwick kaum begraben war, bedeutender Capitalien ganz gegen seinen Auftrag bemächtigt und wollte damit fliehen. Ein paar Georgier setzten ihm nach, holten ihn ein und – schossen ihn glücklicher Weise gleich nieder.“

„Und das Testament?“ frug Dayton mit fest zusammengebissenen Zähnen.

„Man soll allerlei darüber munkeln,“ grollte der Sinkviller, „ich glaube, es wird das Beste sein, wenn wir uns nicht weiter um die Sache bemühen.“

„Sind denn alle Teufel heut auf einmal losgelassen?“ rief der Richter, mit dem Fuße stampfend. „Mord und Tod! Es ist ja fast, als ob uns das Schicksal selbst zum letzten entscheidenden Schritt treiben wollte.“

„Verzögert den wenigstens so lange als möglich,“ warnte Porrel, „denn wenn der mißlingt, sind wir natürlich verloren, weil es eben der letzte war.“

„Seid außer Sorge,“ entgegnete finster der Richter, „wir haben bisher zu trefflich gebaut, um uns jetzt, Wahnsinnigen gleich, das Sparrwerk selber über den Häuptern zusammen zu reißen. Ich habe einen Plan entworfen, der uns nicht allein Freiheit, sondern auch Rache sichert. Vor allen Dingen müssen wir aber die Unseren, die sich noch oben im ›grauen Bären‹ aufhalten, in Sicherheit bringen.“ – Wohl ahn' ich, wer der Rasende war, der am Tage der Entscheidung durch einen solchen Mord uns Alle der „größten Gefahr aussetzte, doch dürfen wir die Kameraden nicht verderben lassen, und dorthin wird sich die bis jetzt nur mühsam gedämmte Rache des Volkes am ersten Bahn brechen. Eilt also schnell hinauf und schickt mir Alle, die man hier in Helena nicht kennt, augenblicklich herunter, Sander aber mit Thorby und – noch einigen Anderen, die ich dort vermuthe, mögen gleich den oberhalb liegenden und für sie bestimmten kleinen Chickenthief1) benutzen und so rasch als möglich mit der Strömung unterhalb Helena antreiben.“

„Was aber zum Donnerwetter habt Ihr vor?“ sagte Porrel ärgerlich; „thut doch nicht so verdammt geheimnißvoll und schießt einmal los. Wie kann ich denn sonst wissen, wie ich zu handeln habe?“

„Die Sache soll für Euch Alle gar kein Geheimniß mehr sein,“ entgegnete der Führer. „Wollten wir jetzt, in offenem Ansturm, das Dampfboot, das gerade an der Landung liegt, nehmen, so würde uns natürlich die ganze Bevölkerung von Helena nicht daran hindern können, ich selbst verstehe ein Dampfboot zu führen, und der Van Buren ist auch schnell genug, um jeder Verfolgung zu spotten.“

„Weshalb greifen wir denn da nicht zu?“ sagte Porrel – „wo böte sich eine bessere Gelegenheit?“

„Wir selbst wären vielleicht im Stande, uns zu retten,“ fuhr Dayton, den Einwurf nicht beachtend, fort, „dürften es aber gar nicht wagen, an der Insel zu halten. Das Land wäre augenblicklich in Aufruhr, und Ihr wißt recht gut, daß bei dem jetzigen Wasserstand fast keine Stunde vergeht, in der nicht Dampfboote hier vorbeikommen, die wir dann augenblicklich auf den Fersen hätten. Nicht allein unsere ganze, mühsam aufgespeicherte Beute wäre in dem Fall verloren, nein, auch unser Leben fast mehr als gefährdet, wir müssen daher sicher gehen.“

„Aber wie das?“ frug Porrel gespannt.

„Einfach genug,“ sagte der Richter. „Die Existenz der Insel ist den Farmern verrathen; wie ein Lauffeuer fliegt jetzt die ihnen fast noch fabelhaft scheinende Mähr von Mund zu Mund. Leugnen können wir es nicht mehr und eben so wenig den Sturm aufhalten, der sich noch heute dort hinunter wälzen wird. Ein einziges Mittel giebt es nur, den Todesstreich, der unserem Haupte droht, nicht allein abzuwenden, sondern auch auf Stirn des Feindes zurückzuführen. In wenigen Stunden werden wir Hunderte von berittenen Waldleuten hier in der Stadt sehen, dieser Cotton hat das ganze Land gegen uns in Aufruhr gebracht, und offenen Kampf in Helena dürfen wir nur als letzte Rettung wagen. Sie werden jetzt ungesäumt gegen die Insel aufbrechen wollen; bleiben wir zurück, so erregen wir nicht allein Verdacht, sondern theilen auch zugleich unsere Kräfte, also müssen wir vereint mit den Feinden sie scheinbar begleiten und unterstützen. – Einen Boten habe ich vor etwa einer Viertelstunde schon abgeschickt, der setzt die Insulaner von unserem Plane in Kenntniß. Wir selbst aber, mit allen kampfesfähigen Männern des Countys, ziehen mit dem United States-Paketboot gegen die Insel. In etwa zwei Stunden landet ews hier auf seiner Fahrt von Memphis nach Napoleon, und muß mir als Richter zu diesem Zweck, wo es die Sicherheit des ganzen Staates gilt, zu Diensten stehen. Meine wackeren Backwoodsmen würden auch gar nicht anstehen, den Capitain zu zwingen, sollte der wirklich genewigt sein, Schwierigkeiten zu machen.“

Porrel nickte lächelnd mit dem Kopfe.

„So dampfen wir rasch zur Insel hinunter,“ fuhr Dayton, schon in der Begeisterung des Kampfes, freudig fort. „Dort ordne ich die Schaaren; die Unseren unter die Farmer gemischt und in ihrem Rücken, bis wir das Fort in Sicht haben, hinter dem die Freunde lauernd des Zeichens harren. Langes Zögern dulden die Hinterwälder nicht, in ihrem tollen Muth werden sie blind darauf losstürmen wollen. Dann aber brechen die Insulaner von allen Seiten hervor, wir fallen den überraschten Gegnern in die Flanke, und in dem dichten Unterholz unserer Verhaue, von Denen selbst angegriffen, die sie bis dahin als die Ihrigen betrachtet, erschreckt – zerstreut – werden sie nicht einmal mehr wissen, gegen wen sie sich vertheidigen, wen sie bekämpfen sollen. Haben wir dann gesiegt – und der Sieg muß unter diesen Umständen ein ganz leichter sein –, dann schaffen wir unsere Schätze auf das dort liegende – auf unser Dampfboot, und fort mit wehender Flagge durch den Atchafalaya fliegen wir in den Golf von Mexico.“

„Der Plan ist vortrefflich!“ rief Porrel – „die hitzköpfigen Hinterwälder gehen unbedingt in die Falle – aber – weshalb haltet Ihr da noch Cook und den andern Bootsmann gefangen? Das wird böses Blut machen.“

„Sie hätten mir durch ihre Hitze den ganzen Plan verdorben,“ sagte Dayton – „eilt nur jetzt hinauf zum ›grauen Bären‹, daß wir die Unseren früh genug zurückziehen, und nachher bleibt uns immer Zeit, die Gefangenen zu befreien – wenn das überhaupt nötig ist. Vielleicht sind wir sogar im Stande aufzubrechen, ehe sie Allle hier eintreffen, desto leichtere Arbeit haben wir dann. Auf jeden Fall müssen wir suchen, Einen von ihnen, den jungen James Lively, hierher zu bekommen, ehe er uns die ganze wilde Schaar auf den Hals hetzt und – auch mehr vielleicht sieht, als gerade nöthig ist. – Er liegt in dem kleinen, dem ›grauen Bären‹ fast gegenüber befindlichen Kieferndickicht versteckt, um von dort aus das ihm verdächtige Haus zu beobachten. Bringt ihn wo möglich in Gutem mit her, geht aber das nicht – ei, dann auch mit Gewalt. – Es ist derselbe, dessen Messer in dem Hause der Ermordeten gefunden wurde.“

„Gut!“ sagte Porrel und rieb sich freudig die Hände, „vortrefflich, da giebt's doch endlich einmal ein ordentliches Dreinschlagen, wo man nicht mehr süß und freundlich zu sein braucht. Tod und Teufel, das Leben hatt' ich satt – nun weiß man doch, woran man ist, und braucht nicht mehr in steter Angst und Noth zu leben. Also Good bye – meinen Auftrag richt' ich aus, sorgt Ihr nur auch dafür, daß wir, wenn das Memphis-Paketboot kommt, die Unseren alle beisammen haben.“

Und rasch eilte er die Straße hinab, wo er bald ein paar seiner Freunde an sich rief und mit ihnen um die Ecke der seitabführenden Gasse verschwand.

Der Squire schritt indessen langsam und sinnend der eigenen Wohnung zu.



„Wer war der Knabe, der da eben das Haus verließ?“ frug Squire Dayton, als er in die Thür trat und, auf der Schwelle stehend, nach einem jungen Burschen zurücksah, der jetzt flüchtigen Laufes die Straße hinabeilte. „Was wollte er, und von woher kommt er?“

„Gott weiß es, Massa,“ sagte Nancy, die ihrem Herrn zugleich einen eben für ihn eingetroffenen Brief überreichte – „noch gar nicht so lange ist's, da kam er herein – ging zu Missus hinauf, blieb ein paar Augenblicke oben, und wäre dann beinahe die Treppe wieder heruntergefallen. Unten setzte er sich auf die Stufen da hin und weinte, als ob ihm das Herz brechen wollte. Weil ich mich vor ihm fürchtete, schickte ich den neuen Nigger zu ihm, den Massa gestern mitgebracht hat. Von dem wollte er aber gar nichts wissen, steckte den Kopf fest unter die Arme – er schämte sich wahrscheinlich, weil er weinte – und rührte und regte sich nicht. Erst als Bolivar wieder fort war, stand er auf, drückte sich den Hut fast bis in die Augen hinein und verließ rasch das Haus – keine zwei Minuten, ehe Massa kam.“

„Sind die Damen oben?“ frug der Squire jetzt, ohne des fremden Burschen weiter zu gedenken.

„Miß Adele ist nach Mr. Smarts gegangen,“ erwiderte Nancy – „Missus ist aber oben, soll ich –“

„Laß nur,“ sagte der Squire und stieg langsam die Stufen hinauf – „käme Jemand und früge nach mir, so mag er hier im Zimmer warten. – Ich bin gleich wieder unten.“

Der Friedensrichter Helenas – der blutige Piratenhäuptling des Mississippi – betrat das Gemach seines braven, unschuldigen Weibes, das keine Ahnung hatte, welche Verbrechen die Brust barg, die ihr Liebe gelogen und ihr reines Herz an sich zu fesseln gewußt hatte.

Das Zimmer war leer – Hedwig saß während Adelens Abwesenheit oben am Bett der armen Marie. Dayton aber blieb an der Thür stehen und ließ die Augen sinnend in dem kleinen friedlichen Raum umherschweifen, wo er Alles, Alles besaß, was ihn zum Glücklichsten der Menschen hätte machen können, Alles, was das Herz eines braven, rechtlichen Mannes mit Stolz erfüllen mußte. Aber der Ehrgeiz hatte die scharfen, giftigen Krallen in seine von wilden Leidenschaften durchwühlte Brust gehauen, – kalte Berechnung allein leitete seine Handlungen, und das Heiligste opferte er rücksichtslos dem eigenen Ich. Wohl giebt es Tausende, wie er war – Menschen mit eisernem Herzen, die eben so kalt und entsetzlich in das Leben hineingreifen und alles Andere rücksichtslos unter die Füße treten, wenn sie nur für sich jede Lust, jede Befriedigung ihrer Wünsche erlangen können; aber der kecke, tollkühne Muth fehlt ihnen, den der Piratenhäuptling in so entsetzlichem Maße besaß – sie strecken die spitzigen, behandschuhten Finger vorsichtig aus, daß sie nirgends anstoßen, und nur dann, wenn sie sich vollkommen unbeachtet wissen, zeigen sie sich in ihrer wahren Gestalt. – Und die Welt ehrt sie – das Gesetz schützt sie, denn „es ist ihm gegen sie ja nichts bekannt geworden,“ aber dennoch fluchen ihnen zahllose Unglückliche, die sie elend gemacht, die Verwünschungen der Wittwen und Waisen heften sich an ihre Sohlen, und Schätze und Reichthümer, in verzweiflungsvoller Stunde an fromme Stiftungen hinausgeschleudert, können nicht die feige Angst der letzten Augenblicke betäuben.

Anders war es mit dem Führer jener gesetzlosen Schaar – seine Rechnung mit dieser Welt hatte er abgeschlossen und ruhig und fest sein Facit gezogen. Er scheute weder den Tod, noch achtete er das Leben, deshalb aber war er gerade so entsetzlich, so fürchterlich geworden, denn die Gesetze der Menschen konnten ihn nicht mehr schrecken, Glaube und Schwur an das Heiligste ihn nicht mehr binden. Fest und bestimmt ging er seine verbrecherische Bahn, und wie auf dem Brett die Schachfiguren, so stellte und benutzte er die Menschen zu seinen Zwecken und Plänen – nur dann besorgt um sie, wenn ihr Verlust ihm selber schaden konnte.

Und jetzt, als er so dastand und wilde Scenen des Bluts und Entsetzens vor seinem innern Auge vorüberglitten, schweiften seine Blicke, im Anfang fast bewußtlos, über den kleinen, freundlichen Raum hin, der ihn umschlossen hielt. Mehr und mehr aber hafteten sie an den einzelnen Gegenständen, die Gegenwart erzwang sich den Eintritt in sein Herz, und zum ersten Mal vielleicht seit langer Zeit durchzuckte ihn ein Gedanke an das, was er sein könnte, an das, was er war. – Hier – hier wohnte Liebe und Treue – hier schlug ein Herz für ihn, das ihm mit freudigem Lächeln in Noth und Elend gefolgt wäre – hier athmete ein Wesen, das nur in ihm seine Seligkeit kannte, – und er –?

Die Sonne schien warm und freundlich in das trauliche Gemach, die finsteren Nebelschatten hatte sie überwunden und spielte jetzt in funkelnder Luft mit den Staubkörnchen, die der Schritt des finstern Mannes aufgeregt hatte, legte sich über die bunten Farben des Teppichs hin, dem sie noch weit höhern Glanz verlieh, und drang wie ein neugieriges Kind in alle Winkel und Ecken. Dort aber, an dem einen Fenster, wo sich ihre Strahlen erst sanft und leise durch blühende Myrten- und Rosenstöcke stahlen, die Orangeblüthe küßten und die sanfte Vanille, und einen purpurnen Schein zogen um die blaurothen Glocken der prachtvollen Fuchsie, da ruhten sie auch um so friedlicher und lieber auf dem freundlichen Plätzchen der Herrin vom Hause: auf dem weichgepolsterten Stuhl und dem kleinen zierlichen Mahagoni-Nähtisch, auf den Strick- und Arbeitskörbchen und dem kleinen eingespannten Stickrahmen. Selbst nach der zierlichen Fußbank blinzelte ein etwas gar zu geschäftiger Strahl hinab, und von Blumen und grünem Laub umgeben, auf dem noch die klaren Perlen des Frühtrunks blitzten und funkelten, lag ein Zauber über dem Ganzen, der nicht beschrieben, nur gefühlt und empfunden werden konnte.

Und in diesem Kreise häuslicher Glückseligkeit und Ruhe stand die dunkle ernste Gestalt des Mannes, der ihn zum Paradies hätte schaffen können, wie der vernichtende starre Todesengel – die Faust schon zum letzten fürchterlichen Schlage erhoben. Sein Auge aber, das immer wilder und ängstlicher den Raum überflog, haftete endlich, fast unwillkürlich, an dem Bilde seines Weibes, das neben dem seinigen dort drüben hing. Das waren die sanften Engelszüge des holden Angesichts, die mit freundlichem Lächeln zu ihm herüberblickten, das war das treue dunkle Auge, das ihm damals Liebe – Liebe, wie sie nur das Weib gewähren kann, geschworen, und ihren Schwur nie – nicht einmal durch einen leisen Gedanken gebrochen hatte, – und er?

Starr und regungslos stand er dort, seine Hände hatten sich krampfhaft geballt und Alles um ihn her schien sich plötzlich im tollen, wirren Kreise mit ihm zu drehen. Da rang sich das Herz noch einmal frei, einmal noch tauchte es auf aus Sünde und Verbrechen, die Zeit kehrte vor sein inneres Auge zurück, wo er zuerst die holde züchtige Jungfrau gesehen und um sie geworben hatte. Was hatte er ihr damals gelobt, welche Schwüre hatte er der hold Erröthenden in das Ohr geflüstert, und jetzt – jetzt? War er nicht hierher gekommen, um diesen Raum auf immer zu meiden? War er nicht hierher gekommen, um Die zu verlassen, die kein Glück weiter kannte als das, welches sie an seiner Seite, in seiner Liebe fand? Wollte er nicht jetzt mit roher Hand das Band zerreißen, das in dem Herzen seiner Gattin die festen, unzerreißbaren Wurzeln geschlagen? Der Gedanke an Alles, Alles, was sie ihm bisher gewesen, so lange und gewaltsam zurückgehalten, stürmte da mit ganzer vernichtender Kraft auf ihn ein. –

„Hedwig – Hedwig!“ stöhnte er und barg das bleiche, starre Antlitz verzweifelnd in den Händen.

Da vernahm er auf der Treppe leichte Schritte, – sie war es selbst, und kräftig zwang er den Schmerz hinein in sein altes Bett. – Die Züge nahmen wieder ihren starren Ernst an, nur die Augen lagen noch hohl und glanzlos in ihren Höhlen, und seine Wangen waren bleich und gefurcht.

„Georg!“ rief die junge schöne Frau, als sie in die Thür trat und freudig erstaunt den fern geglaubten Gatten erkannte – „Georg – Gott sei gedankt, daß Du wieder bei mir bist. Ach, Georg, ich kann Dir gar nicht sagen, wie beengt mir das Herz war, als Du heute von mir gingst.“

„Närrisches Kind,“ sagte der Squire, und ein mattes Lächeln zuckte um seine Lippen, „mußt Dir nicht unnöthige Sorge um mich machen; es giebt Leid genug in der Welt – wir sollten es nicht bei den Haaren herbeiziehen.“

„Thu' ich denn das?“ flüsterte Hedwig bittend – „sieh nur einmal, Georg, sieh nur, wie bleich und angegriffen Du aussiehst – habe ich da nicht Ursache, besorgt zu sein?“

Sie zog ihn mit leiser Hand vor den breiten Spiegel, der zwischen den beiden Fenstern befestigt war, und Dayton's Blick fiel auf das Glas; rasch aber wandte er sich ab – sein eigenes Antlitz neben dem ihren – der Gegensatz war zu fürchterlich. Da wurden rasche Hufschläge auf der Straße gehört. – Mrs. Dayton wandte sich unwillkürlich dorthin, und Beide riefen im gleichen Moment, gleich überrascht aus:

„Adele!“

Und wohl hatten sie Ursache, erstaunt sein, denn auf schnaubendem Rappen, das Köpfchen gegen den scharfen Luftzug niedergebogen, das Sonnenbonnet mit der Linken haltend, indeß sie mit der Rechten die Zügel des feurigen Thieres regierte, flog Adele in sausendem Galopp vorbei, und kaum war der Ruf ihren Lippen entflohen, so verschwand auch schon die wilde Reiterin um die nächste, dem obern Theil des Flußufers zuführende Ecke.

„Nun seh' Einer das tolle Mädchen an,“ sagte endlich Mrs. Dayton, während der Squire im ersten Augenblick einen raschen, fast unwillkürlichen Schritt nach der Thür gethan hatte, als ob er sie zurückhalten wollte, jetzt aber wieder langsam zum Fenster trat – „kein Pferd ist ihr zu wild und unbändig, sie muß es besteigen; was sie nur wieder vorhaben mag? Sie wird es so lange treiben, bis sie einmal wirklich Schaden nimmt.“

Der Richter stützte die Hand auf das Fensterbrett und blickte sinnend der Richtung nach, welche die Reiterin genommen. – Was wollte Adele dort? Weshalb trieb sie ihr Pferd zu so wilder, entsetzlicher Eile an? War etwas vorgefallen, was ihn selbst bedrohte?

„Dayton!“ rief seine Frau, die sich jetzt gegen ihn umwandte – „Du siehst todtenbleich aus, fehlt Dir etwas?“

„Mir?“ sagte der Squire und bog sich mit einem krankhaft gezwungenen Lächeln zu ihr nieder, „mir? Was soll mir fehlen, Du wunderliches Kind? Nur den Kopf hab' ich voll von all' dem Lärm und Treiben dieser guten Stadt. – Mir wird dieses wilde, ruhelose Leben nachgerade verhaßt.“

„Ach, Georg!“ flüsterte die junge Frau und schmiegte sich leise an den Gatten an, „wie oft ist es – lange, lange Nächte hindurch, die Du fern von mir weilen mußtest – mein heißer, inniger Wunsch gewesen, daß Du dieses Leben wirklich verlassen möchtest. Sieh, Du bist hier geachtet und geehrt, bist der Erste in dieser Stadt, und ich kann begreifen, daß der Ehrgeiz einen Theil an dem Herzen des Mannes haben muß, wie es dem des Weibes fremd sein sollte; aber Deine Gesundheit leidet, Deine Kräfte reiben sich auf; Aerger und mühevolle Arbeiten und Pflichten rauben Dir jede Ruhe, halten Nächte lang den Schlaf von Deinen Augen. Ach, wenn Du Dich losreißen könntest von all' diesem Schaffen und Treiben, wenn Dir das Herz Deines Weibes genügte, das nur durch Dich, nur in Dir seine ganze Seligkeit findet –“

Sie barg das Haupt an seiner Brust, und viele Secunden lang hielt er sie fest, fest umschlungen; aber ein anderes, wunderbares Gefühl überkam ihn. – Seine Züge verloren das Finstere und Starre – seine Blicke hafteten sinnend mit einem neuen belebenden Glanz auf dem liebend an ihn geschmiegten Haupt seines Weibes, seine Hand zitterte, die ihre schlanke Gestalt umschloß, unterstützte, und bunte, freudige Bilder waren es, die plötzlich an seiner innern Seele vorüberglitten. Dort in weiter Ferne, auf einsam gelegener, meerumtoster Insel, unter Palmen und Blüthenhainen erstand eine Hütte – milde Lüfte fächelten seine Wangen, an seiner Seite ruhte sein treues Weib, und der Ocean wälzte sich zwischen ihm und seinen Verbrechen; die mächtige Fluth wusch und tilgte an der Vergangenheit – und die Gegenwart? – Ein Eden erstand ihm in jedem neuen sonnigen Tag. Noch war es Zeit – noch war der letzte entscheidende Schritt nicht geschehen – noch hatte ihn das Verderben nicht ganz in die ehernen Arme geschlossen.

Er bog sich nieder zu ihr – seine Lippen preßten sich fest und innig an ihre reine Stirn, und dort – ha! war das eine Thräne, die dem Auge des finstern Mannes einen so herrlichen Glanz verlieh? War es eine Thräne der Reue, die ihn noch durch den Kuß der Peri mit dem Himmel verband?

„Hedwig!“ flüsterte er, und sein Arm zog sie fester und inniger an sich.

Da läutete draußen die erste Glocke des Van Buren – das Boot rüstete sich zur Abfahrt – in kaum einer Viertelstunde verließ es den Landungsplatz. In wenigen Tagen konnte er in Louisville sein, und floh er von dort aus unter fremdem Namen nach irgend einem der östlichen Hafenplätze, so war es unmöglich, ihn zu verfolgen. – Der nächste Monat schon sah ihn frei, auf offenem Meere, Tod und Verderben lag hinter ihm – er war gerettet!

„Hedwig,“ flüsterte er, und die Erregung dieser neuen mächtigen Gefühle drohte fast ihn zu ersticken, seine Lippen zitterten, als sie die flüsternden Worte sprachen – „Hedwig, ich bin Deiner unwerth, ein Sünder bin ich, den Du reiner Engel zu Dir emporziehen sollst – aber ich muß fort – fort von hier, oder ich bin verloren – für immer und ewig verloren. – Doch jetzt, jetzt ist es noch Zeit – noch ist Rettung möglich. – Hörst Du den Laut jener Glocke? Nur Minuten noch, und das stolze Boot, das sie trägt, braust in gewaltiger Kraft dem Norden zu. Jetzt – jetzt ist es mir noch möglich, mich loszureißen von Allem, was mich bindet – in der nächsten Stunde wäre es vielleicht zu spät. – Willst Du mich retten, Hedwig – retten vor mir selbst, und aus diesem Gewirr, das mich zu er drücken droht?“

„Du willst fort, Georg?“ rief sein Weib und blickte erstaunt zu ihm empor, „wir sollen Alles verlassen? Ohne Abschied hier von Allen scheiden, die uns lieben?“

„Alles – Alles mußt Du verlassen, wenn Du mich liebst, wenn Du mich retten willst,“ drängte ihr Gatte, „an Deinen Lippen hängt jetzt mein Geschick – Tod oder Leben bindet sich an ihren Spruch – Hedwig, Du ahnst nicht, wie glücklich – wie elend Du mich mit wenigen Worten machen kannst.“

„Und Adele?“ frug Mrs. Dayton schon halb besiegt.

„Bleibt hier – ihr mag das Haus gehören und Alles, was wir zurücklassen – ich habe genug für uns und führe Dich dem Ueberfluß entgegen.“

„Aber jetzt, Georg? Wie soll ich Alles packen und besorgen, was nur – Du lieber Gott, es ist ja gar nicht möglich; ich brauchte wenigstens acht Tage, ehe ich daran denken könnte.“

„Hedwig, willst Du mir folgen?“ rief der Mann, und seine Stimme, sein ganzer Körper zitterte vor wilder, innerer Bewegung, „noch kannst Du mich der Liebe, dem Leben erhalten – ja, Hedwig, mein Leben vielleicht hängt an dem Ausspruch Deines Mundes – meine und Deine Seligkeit. Willst Du mir folgen, oder – mich allein in die kalte Welt, mit dem Verderben im Herzen, hinausstoßen?“

„Georg!“ rief Mrs. Dayton erschreckt, und ihr Blick haftete angstvoll an dem des Geliebten – „Georg, um Gottes willen, was redest Du da für Worte? Dich allein hinausstoßen? Heiliger Gott, wenn Du mich lieb hast, sprich – was ist geschehen?“

„Ich muß fort,“ flüsterte der Richter, und sein Blick wandte sich erschüttert von ihr ab – „die fürchterlichste Gefahr schwebt über meinem Haupte – Du, Du allein kannst mich jetzt noch retten – willst Du mir folgen – Hedwig?“

„In den Tod, Georg – wohin Du mich führst,“ – rief sie aus und warf sich an seine Brust – „in Mangel und Elend, nur nicht – nur nicht getrennt von Dir!“

Lange Minuten hielten sie sich so fest umschlungen, dann richtete sich der Squire langsam auf und flüsterte, ihre Stirn noch leise mit einem Kuß berührend:

„Dank, Geliebte, Dank, innigen Dank – aber jetzt eile Dich auch, mein süßes Kind; das Wenige, was Du mitnehmen mußt, kann bald geordnet sein. Ich selbst schicke indessen Bolivar voraus und lasse den Capitain des Van Buren bitten, noch wenige Minuten auf uns zu warten. Cäsar und Nancy mögen unter der Zeit hinabtragen, was Du ihnen giebst, und die nächste Stunde finde uns fern von hier, neuem Leben, neuer Freiheit entgegen eilend.“

Er trat jetzt rasch an seinen Secretär, aus dem er mehrere fest versiegelte Briefe und Pakete nahm und in den nicht weit entfernten Kamin warf. – „So,“ sagte er, „diese Papiere mag die Gluth zerstören, und hiermit reiße ich mich von der Vergangenheit los; diese Brieftasche bewahre Du mir, sie enthält, was ich an eigenem Vermögen mein nennen kann. Jetzt muß ich Dich für wenige Minuten verlassen – noch bleiben Anordnungen zu treffen, die ich nicht versäumen darf – Du aber, mein süßes Lieb, rüste Dich schnell, und bald – bald kehr' ich zu Dir zurück, mich nie wieder von Dir zu trennen.“

Noch einen Kuß drückte er auf ihre Lippen, schob sie dann leise von sich und verließ rasch das Zimmer, während Hedwig, die sich kaum überreden konnte, sie wache, und das Ganze sei nicht ein wilder, wirrer Traum gewesen, die wenigen Gegenstände, die sie auf einer nur etwas ausgedehnten Reise bedurfte, in einen kleinen Koffer packte und dann, aber mit thränenverdunkelten Augen, den kurzen Abschiedsgruß an die Freundin schrieb. Mit ängstlich klopfendem Herzen harrte sie jetzt der Rückkehr des Gatten, um Helena und Alles, was ihr sonst noch hier durch einen längeren Aufenthalt lieb geworden war, für immer zu verlassen.

Der fremde Neger verließ indessen, ein kleines wohlverschlossenes Mahagonikästchen unter dem Arm tragend, das Haus und schritt dem Dampfboot zu, während auf diesem die zweite Glocke das Signal zur baldigen Abfahrt läutete.

Fußnoten

1 Chickenthief oder Hühnerdieb ist, besonders an der Louisianaküste, auf dem Mississippi der Name kleiner scharfgebauter Segelboote, die, ihrer Leichtigkeit und Schnelle vertrauend, wohl früher manchmal die Hühnerhöfe der Pflanzer geplündert haben mögen und davon ihren Namen bekamen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Flusspiraten des Mississippi