Walhalla und Hela.

Die arischen oder indo-germanischen Volker, welche in alten Zeiten Europa bewohnten, verehrten neben vielen anderen besonderen Göttern alle einen gemeinsamen obersten Gott, dessen Namen wir, wenn auch leise verändert, überall finden. Die Kelten nannten ihn Teot, die Griechen Zeus, die Deutschen, je nach der Stammesmundart, Tiu, Ziu, Tuit, Tuisk, Teut. Ihm war bei den Deutschen der Tiusdag, Tuesday, Dingsdag, Dienstag geheiligt.

In den deutschen Landen finden wir jedoch schon frühe den Wuotan, Wotan, Waden, Odin als den Vater aller Götter, Menschen und Dinge. Er thront in Walhalla, dem himmlischen Göttersitze, eine herrliche Gestalt, aber einäugig. Als er im Anfange der Dinge aus dem Brunnen der Weisheit trinken wollte, mußte er vorher den dort die Wache haltenden Riesen das andere Auge als Pfand geben. Oft kam Wodan, von zwei Raben und zwei Wölfen begleitet, zu den Menschen auf die Erde hernieder. Er ist vor allem der Lenker der Schlachten, ohne sich jedoch persönlich am Kampfe zu beteiligen. Ihm war der Wodansdag, Wunsdag, Wednesday, geweiht.


Wodans Gemahlin war Freya oder Frigg, die ebenso mächtige wie liebreiche Königin der Götter und Göttinnen. Sie beschirmte insbesondere die guten und fleißigen Frauen und wurde deshalb auch Holda, Hulda, Frau Holle genannt. Ihr war der Freydag, Friday, Freitag geweiht.

Nerthus oder Hertha war die Göttin der Erde, die diese oft besuchte und in ihrem Gefolge den Ländern Fruchtbarkeit und Erntesegen zu Zeiten jedoch auch Plagen und Missernten brachte.

Wodans mächtigster Sohn war Thor oder Donar, dem zu Ehren ein Wochentag der Thorsdag, Thursday, Donderdag, Donnerstag genannt wurde. Er war überaus stark und beteiligte sich an den Schlachten der Menschen mit einem großen Hammer, der nach jedem Wurfe in die Hand des mächtigen Gottes zurückkehrte. Dann rollte Donner durch die Lüfte, fuhr der Blitz aus den Wolken; aber auch befruchtender Regen träufelte hernieder.

Ostara war Wodans liebliche Tochter. Ihr Fest fiel in die Zeit des Lenzes, den man an vielen Orten in ihr verehrte. In unserem „Ostern“ ist der Name dieser Göttin fortgepflanzt.

Besonders bei den norddeutschen Stämmen galt Baldur oder Balder, Wodans jüngster Sohn, als die Verkörperung des Frühlings. Er war der Liebling aller Götter und Menschen, und eine herrliche Sage, die die Vertreibung der schönen Jahreszeit durch den bösen Winter darstellend, ist von ihm überliefert. Einst träumte Balder, daß seinem Leben Gefahr drohe. Da ließ seine Mutter Freya sich von allen Göttern und Geschöpfen schwören, ihres Sohnes auf immer zu schonen. Nur die unscheinbare Distelpflanze wurde dabei vergessen. Da ging Loki, einer der bösen Götter, hin und schnitzte aus dem Zweige der Mistel einen spitzen Pfeil. Als nun die Götter in Walhalla nach ihrer Gewohnheit mit Balder allerlei Kurzweil trieben, wobei alle auf diesen geschleuderten Speere und Pfeile vor ihm niederfielen ohne ihn zu verletzen, gab Loki dem blinden Gotte Höder einen Bogen und den Mistelpfeil in die Hände und richtete selbst das Geschoss auf Balder. Der Blinde, nichts ahnend, drückt ab und Balder fällt tot zur Erde. Tiefer Schmerz ergriff die Götter. Hermut, Balders Bruder, ritt in das Totenreich, das am äußersten Ende der Welt lag. Er brachte aber nur diesen Ausspruch von Hela, der Beherrscherin der Unterwelt, zurück: „Wenn alle Götter und Menschen um Balder weinen, so darf er ins Leben zurückkehren.“ Alsbald sandte Wodan diese Kunde überallhin aus. Da weinten alle Götter und alle geschaffenen Wesen und Dinge. Loki aber, der Mörder, hatte sich in ein Riesenweib verwandelt, das saß am Wege und sprach: „Verhasst ist mir Balders Sonne; ich weine nicht!“ Darum blieb Balder im Hause der Hela.

Hela ist, im Gegensatze zu Walhalla, die Unterwelt, das Reich der nicht in der Schlacht gefallenen Toten. Da herrscht ewige Dämmerung. Die im Leben gut waren, wohnen in Sälen mit goldenen Tischen und Bänken, schmausend und fröhlich vergangener Zeiten gedenkend. Die Bösen dagegen sind ins Reich der Finsternis verstoßen, wo sie mit Schrecken und Pein die Missetaten ihres Lebens büßen.

Die im Kampfe gefallenen Helden wurden von den Walkyrien oder Schlachtenjungfrauen, Wodans Botinnen, vom Felde der Ehre hinaus nach Walhalla gebracht, in die mit Gold gedeckte Götterburg. Da wohnen sie mit Wodan in großer Herrlichkeit und Freude, feiern vor feinen Augen Kampfspiele und sitzen mit ihm beim Göttermahle.

So bevölkerte der Glaube der alten Deutschen die ganze Natur mit Göttern und Halbgöttern, Elfen, Nixen und Feen — die guten Asen, die bösen Thursen genannt. In der Luft, in Wäldern, in Flüssen und Seen wohnten sie; Riesen gab es auf den Bergen, Zwerge in ihrem Innern, bald den Menschen feindlich, bald ihnen hilfreich und beistehend.

Außer in den Wochentagen finden wir deutsche Götternamen, Feste und Sagen jetzt noch mit christlichen Gebräuchen verschmolzen, so Ostern, Weihnacht, Neujahr, Maifest u. s. w. und viele unserer schönsten größeren und kleineren Dichterwerke, vor allem auch unsere Volkslieder erinnern uns an die urdeutschen Gottmenschen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Deutschen