Ein heiliger Hain.

Die alten Deutschen besaßen keine dem Gottesdienste geweihte oder für die Geschäfte der Gemeinde- und Gau-Verwaltung bestimmte besondere Gebäude. Jeder Gau hatte seine gemeinsame Opfer- und Gerichtsstätte, die Malstatt. Dieselbe lag gewöhnlich inmitten des Gaues an hervorragender Stelle, mit einem umhegten großen Baume oder einem aus Steinen errichteten Altare in der Mitte. Meistens standen diese zwischen schonen Baumgruppen im Walde und wurden als „heilige Haine“ bezeichnet.

War die Gemeinde zum Opfer — das war die einzige Form gemeinschaftlichen Dienstes — versammelt, so wurde das Feuer auf dem Opfersteine angezündet, das Opfertier oder auch wohl der Kriegsgefangene geschlachtet, ein Teil des Tierfleisches verzehrt und der Rest verbrannt. Die ganze Nacht wurde so im Dienste der Götter und beim Schmause zugebracht. Dabei erschallten raue, aber eindrucksvolle Gesänge, in welche die Gemeinde einstimmte. Diese Zusammenkünfte fanden in der Regel zur Zeit des Voll- und Neumondes statt.


Im übrigen befolgte jeder Hausvater die den Göttern geweihten Verrichtungen seiner Familie selbst, er war Priester und Richter innerhalb seines Gehöftes. Wenn seine Kunde nicht ausreichte, rief er eine „weise Frau“ oder einen Runenleser und Deuter der Zukunft zu Hilfe. Runen, d. i. auf Holzstäbchen oder Baumrinde eingeritzte Schriftzeichen, konnten nur jene entziffern und daraus die Ratschlüsse und den Willen der Götter entnehmen. - Auch aus dem Fluge der Vögel, dem Wiehern der Pferde, dem Rauschen der Baumkronen und der Beschaffenheit der Eingeweide geschlachteter Opfertiere wussten sie Lehren für die Gegenwart und Weissagungen für die Zukunft zu deuten. So einfach und bequem war dieser Glaube, daß es über tausend Jahre dauerte, ehe an seiner Statt die christliche Religion sich allgemein in ganz Deutschland Eingang verschaffen konnte.

Auch die Gerichtssitzungen und Volksversammlungen wurden in den heiligen Hainen, oder wo sonst die Malstatt errichtet war, abgehalten. Aus der Zahl der anwesenden Edelinge wurde der Vorsitzer oder der oberste Richter erwählt. Er „hegte und bannte“, d. i. eröffnete die Sitzung und wahrte den ,,Thing- (Versammlung)-Frieden“, die Ordnung und Form. Geschriebene Gesetze, gelehrte Richter und Anwälte, Andachtschriften und Geistliche gab es nicht. Es wurde nach Herkommen, Zeugenaussage, Schwur und Gewohnheit gerichtet, und die Rechtssprüche pflanzten sich von Geschlecht zu Geschlecht mündlich fort.

In den Volksversammlungen wurde über Krieg und Frieden entschieden über Bündnisse und Auswanderungen, über die Verteilung der Kriegsbeute und der Äcker, über die Ausstoßung von Feiglingen und Verrätern, über die Ernennung von Kriegsführern und Heerkönigen. In allen Fällen galt die Stimmenmehrheit. Auch die Wehrbarmachung der Jünglinge fand in solchen Versammlungen statt, deren Macht und Einfluss sich auf Jahrhunderte lang im Volke erhielt und später nicht selten bei Kaiserwahlen sich geltend machte.

Es gibt in Deutschland noch viele Stellen, und auch Gebräuche, die an die heiligen Haine und Malstätten erinnern. In ihrer Nähe werden häufig alte Grabmäler — „Hünengräber“ — gefunden.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Deutschen