Über die Struktur des Deutschen Geistes

Das geistige, künstlerische und religiöse Gebiet findet sein Spiegelbild auch in der politischen Geschichte. Deutschland war in der vollen Entfaltung seiner Kräfte gegenüber den anderen großen Nationen im Nachteil trotz seiner beherrschenden Weltmachtstellung. Der Glanz der deutschen Kaiserkrone brachte dem Lande ebensoviel Unglück als Ehre und, geblendet von der Machtfülle des römisch-deutschen Imperiums, jagten die berufenen Führer der Nation politischen Phantomen nach, denen gegenüber die Forderungen des praktischen Lebens, die Organisation des engeren Staatswesens auf der Grundlage der besonderen wirtschaftlichen Bedürfnisse zu kurz kam. Während in Italien auf freiem Boden sich in den Städten ein nur den eigenen Lebensbedingungen entsprechend organisiertes Staatengebilde entwickelte und in Frankreich sich die wirtschaftliche und politische Zentralisation aller Kräfte vollzog, verfolgte man in Deutschland eine weltumfassende Expansionspolitik, bevor der innerpolitische Ausbau des eigenen Staatskörpers vollzogen war.

So ist die Größe des Erbes, die große Idee des Weltreiches, zum tragischen Ruin der Nation geworden. Denn durch die Verfolgung der universalen Ideen des römischen Reiches sah sich Deutschland schließlich zwei feindlichen Mächten gegenüber, die durch die glänzende Organisation ihrer Kräfte mit dem Willen auch die Macht hatten, jenes von den Deutschen erträumte Weltreich wirklich aufzurichten, der römischen Kirche und Frankreich. Mit einem politisch, wirtschaftlich und geistig zerfleischten Organismus ist Deutschland schließlich im 16. und 17. Jahrhundert gezwungen worden, um seine Existenz zu kämpfen. Es war eine merkwürdige Fügung des Schicksals, dass dieselbe Macht, die einst ihre geheiligten Herrscherrechte über ganz Europa auszuüben sich anmaßte, schließlich an dem von ihr selbst heraufbeschworenen Kampfe für die geistige und politische Freiheit der europäischen Menschheit zugrunde ging! Kampf schien ja von Anfang an Deutschlands Geschick zu sein. Nirgends ist das Ringen um die völkische Eigenart mit der durch die Kirche ins Land gebrachten Kultur stärker und härter gewesen als hier.


Die mangelnde Bindung ihrer heterogenen Elemente hat den Boden für eine auch durch die zentrale Lage des Landes begünstigte Zufuhr des Fremden besonders empfänglich gemacht, so dass in vielgestaltigen Trieben Altes und Neues, Heimisches und Fremdes am nationalen Stamme sich entfaltete und mehr die Teile als den alles überragenden Wunderbau des Ganzen, wie in Italien, in Erscheinung treten ließ. Der Sieg des deutschen Geistes im Norden war nur dadurch möglich, dass man in einem Kampfzentrum wie Nürnberg, langsam und mit Widerstreben der neuen humanistischen Bewegung sich anschloss. Wer den Doktorhut erlangt hatte, war dort von der Patrizierverwaltung der alten Kaufmannsgeschlechter ausgeschlossen. Vielleicht besteht die Größe der deutschen Renaissance eben darin, dass sie mit ihren „reaktionären“ Tendenzen am Mittelalter festhaltend, dem modernen Geist eben so sehr, ja im Sinne der jüngsten Zeit vielleicht noch mehr als der Süden, die Wege geebnet hat. Gewiss hatte im 14. Jahrhundert Deutschland die Führung an Frankreich und die Niederlande abgeben müssen. Das scheint teilweise an der Rasseeigenart der Franzosen und den ihr entgegenkommenden Zeitverhältnissen gelegen zu haben.

Der ausgesprochene Sinn des Franzosen für das klare logische Zusammenfassen und Ordnen der Erscheinung, die Leichtigkeit und Bestimmtheit im Denken und Schaffen, ließen ihn im Augenblick der ersten starken Aufnahme der ihm in vielem wahlverwandten italienischen Antike im Norden gegenüber den Deutschen scheinbar ins Vordertreffen geraten. Das lebendige Ideal seiner aufs Transzendente gerichteten Vernunft, seine helle Freude an der heiteren Grazie der veredelten Erscheinung, die in ihrer individuellen Form so vorsichtig hinter der überlegenen und überlegten Allgemeinheit sich verbirgt und von dem rationalistisch kühl berechnenden Geist stets in die Schranken des praktisch Notwendigen zurückgewiesen wird, ließen ihn spielend über die Abgründe des klaffenden Dualismus der spätmittelalterlichen Weltanschauung hinweggleiten, indes in Deutschland schon die ersten Zeichen starken inneren Zwiespalts sich bemerkbar machten. Auf einer düsteren Folie erscheinen in großen Umrissen die ersten kämpfenden Heldengestalten deutscher Kunst.

Doch als man später im 16. Jahrhundert das Dasein um seiner Vielfältigkeit wegen zu lieben begann und der Franzose eben durch sein eminentes Geschick, über die Individualität hinweg sich seine konventionelle Einheit zu konstruieren, oberflächlich und äußerlich zu werden anfing, konnte mit dem Vorstellungsreichtum der deutschen Kunst außer Italien die Kunst keiner anderen Nation sich messen. Aber der dann folgende Sieg des deutschen Geistes im 16. Jahrhundert war so wenig wie auf religiösem so auch auf künstlerischem Gebiete ein nachhaltiger oder gar endgültiger. Frankreich und Italien standen mit Byzanz schon an der Wiege der deutschen Renaissancekunst. Sie war im 15. und im 16. Jahrhundert noch stark genug, um das Fremde in sich zu verarbeiten, dem sie doch zum Teil auch ihre Blüte verdankter Dem Ansturm des romanischen Geistes des späten 16. und 17. Jahrhunderts ist die deutsche Kunst schließlich ebenso erlegen, wie der Staat der politischen und teilweise geistig-religiösen Invasion der romanischen Welt. Aber das Feuer glühte auch unter der Asche noch weiter und als die napoleonischen Adler über Deutschland siegend hinwegzogen, waren der Nation in Kant und Goethe die Heroen entstanden, die ihren Geist vom Individuellen aufs neue zum Universellen führten und ein Weltreich des Geistes gründeten, in dem seither alle Nationen ihre Heimat gefunden haben.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Deutsche Malerei. Band 1