Die Deutsche Malerei. Band 1

vom Ausgehenden Mittelalter bis zum Ende der Renaissance
Autor: Burger, Fritz Dr. (1877-1916) Kunsthistoriker und Künstler. Professor an der Universität und Kgl. Akademie der bildenden Künste in München, Erscheinungsjahr: 1913
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Deutsche Malerei, Kunstgeschichte, Handbuch der Kunstgeschichte, Mittelalter, Renaissance, Volkstum, Kunstwissenschaft
In jedem Kleide werd' ich wohl die Pein
Des engen Erdenlebens fühlen.
Faust, I.

Seit Janitscheks Vorgang ist eine Geschichte der deutschen Malerei nicht wieder geschrieben worden. Fast 25 Jahre sind seither verflossen und die Forschung hat inzwischen eine staunenswerte Arbeit geleistet, die ebensoviel gewichtiges Material als interessante Aufschlüsse über historische Tatsachen geliefert hat. Aber die Geschichte der deutschen Kunst gleicht einer lernaeischen Hydra: denn jede Klärung historischer Fragen stellte die Forschung vor neue Probleme, so dass bis heute noch die Geschichte der deutschen Malerei zu den verworrensten Gebieten der Kunsthistorie gehört.

Das Buch konnte sich nicht die Aufgabe stellen, die gordischen Knoten, die sich an so vielen Stellen in der Geschichte der deutschen Malerei gebildet haben, alle zu lösen und in alle Ecken und Winkel zu leuchten, in die das Licht der Forschung noch nicht hinzudringen vermochte. Zudem, von der Unmöglichkeit abgesehen, dies Ziel heute schon zu erreichen, muss das Buch auch mit dem Leser rechnen, nicht nur mit der Wissenschaft. Es ist deshalb in erster Linie eine systematische Gliederung des historischen wie künstlerischen Materials erstrebt worden.

Der Verfasser ist sich hierbei wohl bewusst, dass jede solche Gliederung nur eine Formel von durchaus subjektivem Charakter ist und ihr Wert nur so weit reicht, als ihre praktische Hilfe zur Erkenntnis. Gewiss ist auch hier das ideale Ziel wie bei jeder wissenschaftlichen Arbeit „Objektivität“ gewesen; aber der künstlerische Bestand ist doch nur insoweit herangezogen worden, als er zu einer eindringenden Erkenntnis und der Gewinnung eines klaren Überblicks brauchbar erschien. Die wissenschaftliche Sichtung eines künstlerischen Materials wird um so nutzbringender sein, je mehr das Ziel einer praktischen Übermittlung der gewonnenen Erkenntnisse im Auge behalten wird. Deshalb ist der übliche Aufbau der kunstgeschichtlichen Handbücher hier nicht beibehalten worden.
Der Leser soll nicht erst sich durch den ganzen Gang der Ereignisse hindurchwinden und von einer Persönlichkeit zur andern wandern müssen, um langsam Interesse und Liebe auf diesem Dornenweg für die Sache zu gewinnen, sondern er soll mit beiden Füßen zugleich in diese hier zu behandelnde Welt treten, mit ihr denken, hassen und lieben lernen, ihre Wesenheit als Ganzes schauen, bevor er den ganzen Reichtum ihrer, in der geschichtlichen Folge sich darbietenden Einzelzüge kennen lernt.

Deshalb ist erst vom dritten Kapitel des Buches an die historische Folge bei Besprechung der Entstehung und Entwicklung der Lokalschulen eingehalten worden. Hierbei wurde eben so sehr an eine übersichtliche Gliederung des kunsthistorischen Materials als an die eine allgemeine Erkenntnis vermittelnde Beschreibung der Kunstwerke gedacht. Die beiden ersten Abschnitte sollen daher erst einen bestimmten Bestand an künstlerischen Erkenntnissen vermitteln, auf die dann, ohne den Gedankengang der einzelnen Kapitel zu unterbrechen, verwiesen werden kann. Auch sollte klar werden, was die deutsche Malerei der Welt und unserer Generation zu sagen hat, wo der Lebensnerv steckt, der unser Dasein und unser Schauen mit dem unserer Vorfahren und der Eigenart ihres Volkstums verbindet.

Die neuere Zeit hat unseren Augen neue Erkenntnisse vermittelt, die uns auch eine andere Seite des Wesens der geschichtlichen Vergangenheit enthüllen. Die deutsche Kunst der Renaissance hat hierdurch vielleicht am meisten neben der des Mittelalters gewonnen. Es sind Anzeichen vorhanden, dass wir zu einer andersartigen Einschätzung ihres Wertes gegenüber der italienischen Renaissance kommen, wenn wir uns abgewöhnen, nach sogenannten Stilidealen jenseits aller nationalen Grenzen zu urteilen und die Fähigkeit errungen haben, innerhalb der besonderen künstlerischen Gestaltungsweise zu denken und die Sprache der Vergangenheit wie die unsrige zu sprechen. Die landläufigen Stilbegriffe waren deswegen hier — wo es ging — vermieden worden, um ohne diese aus den künstlerischen Erkenntnisformen selbst den Stilbegriff zu gewinnen als das, was er ist oder sein soll : eine wechselnde Anschauungsform, d. h. Theorie über die Einheit eines sinnlichen Vorstellungskomplexes von der Natur.

Die Kunstgeschichte braucht hier nur die Erkenntnisse der modernen Kunst sich zu eigen machen, die in den sogenannten historischen Stilformen nur das variable Material der stets gleichbleibenden Grundformen des künstlerischen Denkens sieht und in dem Stil mithin nicht das Dogma seiner klassischen Formulierung als vielmehr in all seinen Gestalten die wechselnden Theorien über den künstlerischen Einheits- und Schönheitsbegriff zu erkennen sucht. Man wendet so gerne den aus der „tonangebenden“ Baukunst gewonnenen Stilbegriff der Gotik oder Spätgotik auch für die charakteristischen Eigenarten der übrigen gleichzeitigen Erscheinungen der Plastik oder Malerei an. Auf diese Weise findet man natürlich genau das, was man sucht, und die Stileinheit der Zeit wird sich so leicht erweisen lassen. Das Problem wurde hier anders gefaßt und die Erkenntnis jener Stileinheit auf anderem Wege zu gewinnen getrachtet ohne Rücksicht auf die „Künste“, sondern allein im Hinblick auf die Kunst. Es sollte ohne jene Stilvorurteile in dem einzelnen Objekt der besondere Akt der sinnlichen Vorstellungsweise erfasst und im Zusammenhang mit den übrigen Zeugnissen auch eine Charakteristik des allgemeinen Wesens bestimmter, zeitlich und national umgrenzbarer Abschnitte der Kunst versucht werden.

Ein zu weit gefasster Stilbegriff büßt seine Berechtigung durch den Verlust des Vorzuges seiner wörtlichen Prägnanz ein, und ein zu eng gefasster vernichtet die Individualität und den lebendigen Reichtum des Kunstwerkes, indem er an seine Stelle ein ästhetisches Abstraktum setzt. Das gilt für den Begriff der Gotik ebenso wie für den der Renaissance. — Kunstgeschichte ist deshalb hier vorwiegend als eine Geschichte der menschlichen Erkenntnis ohne einseitige Anwendung des Begriffes von „Aufstieg und Verfall“ für bestimmte Zeitabschnitte betrachtet worden, in der Gewissheit, dass durch eine solche Gliederung des Stoffes subjektiv ethische Werte zwischen den forschenden Betrachter und die objektive Erkenntnis sich schieben. Wir vergessen zu leicht, dass alle Forderungen des Lebens nur durch einen. Tribut an den Tod bezahlt werden.

Es gibt keine sogenannte Blütezeit einer Kunst, die diese Blüte nicht auch durch die Aufgabe köstlicher Erkenntnisse der vorangegangenen Zeit erreicht hätte, keine „Verfallzeit“, die nicht mit positiv neuen Erkenntnissen auf dem Schauplatze der Historie erschien, von der willkürlichen Abgrenzung derartiger zeitlicher Komplexe abgesehen. Für die auf objektive Erkenntnis dringende Kunstwissenschaft darf der Stilbegriff nicht den der Manier im Gefolge haben. Man lobt und tadelt auf Grund eines subjektiven Erkenntnisideals, nicht aber systematischer Grundsätze, die die objektive Erkenntnis der künstlerischen Idee zum Ziele haben.

Deshalb ist auch die Renaissance gegenüber dem Mittelalter hier nicht unter dem Gesichtswinkel des allgemeinen „Fortschrittes“ betrachtet worden, sondern nur als eine langsam sich neubildende Erkenntnis- und Gestaltungsweise, die auch viel verlor über dem, was sie Neues schuf. Unter der Einseitigkeit und dogmatischen Subjektivität der heutigen Historie hat gerade das Verständnis der Kunst des Mittelalters und damit im Zusammenhang auch die deutsche Kunst zu leiden. Denn der Kunsthistoriker hat sich gewöhnt nach der gegenständlichen Richtigkeit (Perspektive und Anatomie) oder nach den ihm bis heute geläufigen ästhetischen Gestaltungsgesetzen zu urteilen und ergeht sich unter Einfluss der Assoziationspsychologie in einer physischen oder psychischen Umdeutung der Formenwelt, bevor diese Form rein als das erkannt ist, was sie ist : ein organisierter sinnlicher Vorstellungskomplex, begriffen als Akt unseres sinnlichen Bewusstseins. Man hört so oft in künstlerischen Dingen das Zeugnis der Geschichte anrufen. Aber jede pragmatische Kunstgeschichte, die über den historischen Materialismus hinausgeht, ist doch im wesentlichen das Resultat unserer heutigen Erkenntnisfähigkeit, geleitet von unserm heutigen persönlichen Interesse. Als ob Geschichte der Kunst, die mehr als Namen und Zahlen geben will, nicht selber wieder eine Theorie als Mittel zum Begreifen und Ordnen der Leistungen der Vergangenheit wäre.

Als Historiker müssen wir gelernt haben, hier durch das Eingeständnis unserer Subjektivität auch als Kunstrichter bescheiden zu sein und als Erkennende die enge Grenze nicht übersehen, die unserem suchenden Auge besonders auf dem Gebiete der Sinnenwelt gezogen ist. Welche Wandlungen hat die Kunstgeschichte in der kaum hundertjährigen Zeit ihres Bestehens durchgemacht, und wie wird die Generation in hundert Jahren über uns denken, die wir uns stolz im Besitze der Wahrheit dünken. Gestehen wir offen ein, dass wir unsere Aufgabe so erfüllen, wie sie uns die Zeitumstände von heute gebieten und der Historiker darf sich glücklich schätzen, als Erforscher des Wesens der Vergangenheit einst zu den Lebenserscheinungen der Gegenwart gezählt zu werden. Ihr zu nützen ist die Aufgabe des Buches.

München, im Januar 1913.

Fritz Burger

000. König Wenzel. Miniatur aus der K. K. Hofbibliothek, Wien

000. König Wenzel. Miniatur aus der K. K. Hofbibliothek, Wien

000 Dürer, Landschaft

000 Dürer, Landschaft

000 Francke, Anbetung der Könige

000 Francke, Anbetung der Könige

000 Grünewald, Anbetung, Hamburg Kunsthalle

000 Grünewald, Anbetung, Hamburg Kunsthalle

000 Madonna mit Kind, Prag

000 Madonna mit Kind, Prag