Die Mystik und die künstlerische Erkenntnis

Und wie im Faust diese Erkenntnis zur ewigen Klage der Menschheit wird, die vergeblich nach den freien Himmelsweiten des Geistes ringt:

„In jedem Kleide werd' ich wohl die Pein
Des engen Erdenlebens fühlen ...“


so glaubt auch im 14. Jahrhundert schon der Dichter der Tochter von Sion, dass die wahre „Sapientia“ die Gottesminne sei, die nur durch die Überwindung der Grenzen des Ichs möglich ist:

„Gip Urlaub allen, daz der ist,
Verlangen daz du selber pist
Fleuge über dich selben hoch empor.“


Hier klingt der weltverneinende Grundton der mittelalterlichen Ideenwelt ebenso wie bei Dürer durch. Der ewige Kampf von Persönlichkeit und All lebt hier im Anschluss an das Mittelalter noch fort 10). Nur ist in dieser sibyllenhaften, zeit- und namenlosen Gestalt etwas von jener Riesenkraft des Jeremias Michelangelos mit der gewitterigen Stille nordischer Natur verbunden. Deshalb ist die Zeit nicht in eine sentimentale Romantik verfallen. Gerade den Deutschen, der seiner Natur nach so gern als Künstler auch Philosoph ist, fasste damals die ganze animalische Stärke und Brutalität des Lebens an, und, wo die Weisheit resigniert vor dem verschlossenen Tore der letzten Fragen zusammenbrach, erging sich die alte germanische Phantasie im Reich des Wunders und ließ in der urweltlichen Kraft und kindlichem Frohsinn der höllischen Lustbarkeit freien Lauf. Auch hier erscheinen faustische Verse wie eine dichterische Gestaltung der Zeichnung Baidung Griens (Abb. 25):

,,Das drängt und stößt, das rutscht und klappert!
Das zischt und quirlt, das zieht und plappert!
Das keucht, sprüht und stinkt und brennt!
Ein wahres Hexenelement.“


Rubensscher Geist steht hier der deutschen Kunst näher als irgendeinem seiner engeren Volksgenossen. Die Mystik verbündet sich mit der wilden Sinnlichkeit. Das Erlebnis wird zum Zauber und der Zauber zum Leben. Aber man muss sich hüten, diese Dinge mit dem Hinweis auf das Gemüt oder die Phantasie des Deutschen abzutun. Sie greifen seinem Leben und Denken doch tiefer ans Herz.

Das Problematische ist aus der Weltanschauung des Deutschen nie recht verschwunden, denn das Geistige, das Individuelle blieb immer das ins Rätselhafte hinüberspielende prius der Gestaltung. Es ist dem Deutschen von damals so wenig wie dem von heute geglückt, eine originale einheitliche gesellschaftliche Kultur sich zu erschaffen und sich ein Lebensideal zu prägen, das alle Gebiete seines Denkens und Handelns umfasst. In Dürers Marienbildern ist die ganze Sippschaft mit ausgerückt, die sich, wie die Dorfhonoratioren um die Bürgermeisterin, mit gewichtiger Miene und dem schuldigen Respekt gruppiert, während die Italiener in ihren Madonnenbildern gern das „tableau vivant“ einer Madonnenapotheose vor Augen führen, in der die einzelnen Statisten mehr auf die Eleganz der Pose und das Publikum als auf den Ausdruck der religiösen Idee und auf die Himmelskönigin achten. Es ist die ritterliche Devotion, die der Mann dem schwächeren Geschlecht auf Grund von Konventionen darbringt, bei dem Deutschen kindliche Äußerung einer heiligen persönlichen Überzeugung.

Das Wort „Persönlichkeit“ hat für ihn einen andern Sinn wie für den Südländer, der in ihr das isolierte Kultobjekt seines Geistes sah. Der Deutsche schildert das Individuum nicht in überirdischer Herrlichkeit, in der sich seine menschliche Eitelkeit selbstgefällig bespiegelt, sondern trotz des derben Eigenwillens mit allen Fasern seines Wesens verbunden mit der Notdurft des kleinen irdischen Daseins und mit dem still wirkenden Wunder der unsichtbaren göttlichen Macht. Unter Persönlichkeit versteht er etwas Individuelles, das im engsten und weitesten Sinn in einem gesetzlichen Zusammenhang mit einem alles Einzelne determinierenden Wesen steht. Deshalb will bei den religiösen Szenen Dürers nie das Gefühl der satten Behaglichkeit aufkommen, jener beglückende Frieden des dolce far niente des Südens, es ist immer und überall Gewitterstimmung nicht nur in sondern auch über den Gestalten, als lausche man auf eine ferne Stimme, von der man nicht weiß, woher sie kommt. Sie äußert sich in jeder anders und ist doch desselben Geistes. Die Menschen nehmen das wunderliche Wesen ihrer engen Stuben mit hinaus in die freie Natur und finden hier nur die gleichgesinnte und gleichgestimmte Natur ihres eigenen Daseins. Deshalb scheint der Gegensatz der landschaftlichen Natur und Menschengestalt dem Deutschen so selten Kopfzerbrechen zu machen. Während der Italiener in der Regel des Gestaltungsprinzips sich die überindividuelle Einheit zu erringen versucht, findet sie der Deutsche eben in dem persönlichen Schauen und Formen und der dadurch bedingten Wesensähnlichkeit der Teile von selbst. Er durchlebt und durchdenkt so gern die Sonderexistenz jedes Individuums und findet naiv das Überpersönliche in der Einheit seines gestaltenden Bewusstseins. Der starke Individualismus seines Wesens hat es verhindert, dass über die bloße Werkstatttradition hinaus man wie in Italien zu einer allgemeineren Verständigung in den wichtigsten Formeln der künstlerischen Gestaltung gelangte, die das Niveau der Mittelmäßigkeit hob und den Großen die Wege ihrer Entwicklung ebnete. Daher kam es, dass Deutschland, das so unendlich viel für die Kultur der Menschheit geleistet hat, zum mindesten auf künstlerischem Gebiete nie eine weltgebietende Macht wie Italien geworden ist, weil ihm jene unwiderstehliche Stoßkraft fehlte, die nur von einer ganz streng auf ein großes, klares Gesamtziel zustrebenden Kultur auszugehen vermag, und weil das Problemhafte seines Denkens und Gestaltens äußerlich den Eindruck der Unfertigkeit und Ungelenkigkeit macht, der den inneren Wert so leicht übersehen lässt. Während der Italiener so siegesfroh es verstanden hat, auch im ausgetretenen Geleise eine gute Figur zu machen und in dem faltenreichen Prachtmantel einer rauschenden Phraseologie so gut sein Schwächen zu verstecken, sieht man hier offen in alle Winkel und Mühsal des Schaffens. Dafür merkt man aber auch, wie der Deutsche mit dem zähen, gediegenen Ernst die schwierigsten Probleme wie einen Feind aufsucht, um sie, wenn auch nicht zu überwältigen, so doch zu bekämpfen. Elegante Umgehungsversuche, schlaue Winkelzüge liegen ihm ferne. Die Ehrlichkeit ist allen seinen Werken aufs Gesicht geschrieben und er versteht es selten, mehr aus sich zu machen als er kann. Seine Abneigung gegen das Phraseologische und Konventionelle einer gesellschaftlichen Kultur wie gegen die starre, unerreichbare Einheitlichkeit der romanisierten kirchlichen Ideenwelt ist durch diese individualistischen Neigungen nur verständlich. Deshalb mußte allein der Deutsche bei diesem starken Bedürfnis der persönlichen Hingabe zu einem übersinnlichen Gott, zu einer nationalen Individualisierung der christlichen Religion durch die Reformationszeit gelangen, in der der wissenschaftlich kritische Geist des transzendentalen Idealismus gegenüber den romanischen Kirchenlehren eben in Anlehnung an den reinen, frühmittelalterlichen Gottesglauben und seine Lehre von der Gotteskindschaft wie dem allgemeinen Priestertum sein naheliegendes biblisches Analogon fand. Aber auch in der großen Reformationszeit ist über der Hingabe an die religiöse Idee das praktisch Notwendige übersehen worden. Luther hat sich mit Zwingli nicht über eine einigende Formel verständigen und zu einem Defensivbündnis gegenüber der besser organisierten romanischen Kirche entschließen können und so ist Deutschland der Reaktion anheim gefallen, die es um die Früchte seiner Taten beinahe ganz gebracht hat.

Abb. 025. Baldung Grien, Hexensabbath (Holzschnitt).
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Deutsche Malerei. Band 1
Abb. 025. Baldung Grien, Hexensabbath (Holzschnitt).

Abb. 025. Baldung Grien, Hexensabbath (Holzschnitt).

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