Auffassung der Persönlichkeit

In dem auferstehenden Christus des Isenheimer Altars zu Colmar (Abb. 19) hat Grünewald nicht wie der Künstler des Leonardo zugeschriebenen Bildes der Berliner Galerie die richtige physiologische Beschreibung des Emporschwebens studiert, das Endziel der Darstellung ist auch nicht die bloße Glorifikation der Persönlichkeit Gottes, sondern der sichtbare Übergang seiner körperlichen Endlichkeit in die körperlose Unendlichkeit des Lichtes, die Metamorphose seiner Menschlichkeit zur Gottheit. In der priesterlichen Feierlichkeit des Gestus offenbart das Ereignis nicht bloß die Erfüllung des göttlichen Gebotes, sondern die Erscheinung gewordene Wundermacht des Weltengesetzes, das jenseits alles persönlichen Fühlens und Wollens, dem Tun die Vergänglichkeit des Augenblicks nimmt und es hineinzwingt in das ewige Sein, in die heilige Größe der Weltenordnung 5). In dem Evangeliar Ottos III. (Abb. 18) findet sich Verwandtes 6).

Nur wird hier die Majestas des Gesetzes in seiner unerbittlichen Organik, nicht die mystische Verwandlung des Diesseits ins Jenseits gestaltet. Die mittelalterliche Welt mit ihrer großen Sehnsucht nach der Erkenntnis des Absoluten und ihren pantheistischen Anschauungen, die das Göttliche nicht in einer Person, sondern als determinierende Macht im Handeln wie im Sein suchten, lebt auch dort noch weiter, wo ein Ereignis nicht unmittelbar zu solchen Ideen leitet, im Porträt. Die hieratische Strenge des Mittelalters kommt in der schlichten Feierlichkeit des Dürerschen Selbstporträts in München zum Ausdruck (Abb.21) und trotz der hingebenden Liebe für alle Einzelheiten, der Koketterie des reichen Haargelocks, der samtenen Weichheit des Pelzes, dem heimlichen Leben der Hand, bleibt doch die überindividuelle, überpersönliche Idee die wirkende Macht im Bild. Das Leben der Gestalt besteht weder im freien, selbstbewussten Tun noch in der träumerischen Hingabe an die göttliche Idee, sondern in der Größe dieses willen- und wunschlosen Daseins. Die Wissenschaft von der Perspektive und den Proportionen hatte für Dürer viel mehr einen mystischen Reiz als wirklich praktischen Wert 7).


Er sah in der Regel mehr das Geheimnis des Lebens als ein Hilfsmittel der praktischen Vernunft. Schönheit war ihm nicht die selbstverständliche Begleiterin des Daseins, sondern das in ihm, auch dem Kleinsten, vergrabene Wunder seines großen Lebensgesetzes. Dürer unterscheidet daher zweierlei Arten von Schönheit: Diejenige, die durch die Gestaltung der Naturnotwendigkeit der Erscheinungsindividualität zum Ausdruck gelangt, in der der innere Charakter als „Ursach“ der Form (Abb. 20) sich darstellt, und diejenige, in der auch das Persönliche zum Unpersönlichen, zum absoluten Ideal wird. Deshalb fehlt dort, wo die Metaphysik der Konstruktion mitgewirkt hat, jede Angabe einer Charakteristik oder Handlung (Abb. 21). Er sucht das Ideal nicht wie der Italiener im interessanten Typus der Persönlichkeit, sondern in dem unpersönlichen, absoluten Einheitsideal. Dürer „idealisiert“ daher nicht seine Persönlichkeit (Abb. 21), sondern unter Verzicht auf jede Geistigkeit untersucht er die Frage, mit welchen Mitteln die Individualität seiner Erscheinung in die Majestas des Überpersönlichen erhoben werden könne. Das rhetorische Siegerpathos des Italieners, seine lässige Aristokratengeste oder den bezwingenden Adel seiner Erscheinung wird man bei dem Deutschen selten finden, desto mehr die treuherzige Offenheit und Lauterkeit der Gesinnung oder den harten Heldentypus eines derbknochigen Geschlechts in einer urweltlichen Lebensenergie mit einem leichten Anflug kindlicher Furchtsamkeit gegen über der lauernden Ungewissheit des Daseins. Von einer eisernen Disziplin 8) beherrscht, steigt eine trotzige Energie in dem Gesicht (Abb. 20) aus rätselhaften Tiefen empor, verwandt jenem mittelalterlichen apokalyptischen Geist, in den die fanatische Glaubensstärke und die seherische Kraft einer heiligen Überzeugung in die strenge Gesetzlichkeit des Aufbaues gebannt ist. Wo die sanfteren Saiten des Lebens erklingen (Abb. 22) wie in Holbeins Porträt, scheinen die Augen stille zu stehen wie die des Kindes, das auf ein Märchen lauscht, und um die Lippen des stolzen Herrn spielt so gern die Resignation des Weisen, der die enge Grenze des Daseins belächelt und bescheiden sich nur als Gast des Weltalls fühlt.

Bei Cranach (Abb. 23) die dumpfe Enge des Daseins selber, der latente Widerstand der trägen Materie und in ihr die mephistophelische Laune des heimlichen Lebens, das in harten Kurven sich seine Bahn erzwingt; jeder Teil des Gesichts trägt seine besondere Lebensgeschichte zur Schau und fügt sich doch einem wohldurchdachten Gesamtorganismus ein, so dass hinter der stumpfen Lethargie der Persönlichkeit das in der formalen Erscheinung rein sich äußernde Leben fast allein zu Wort kommt mit jenem letzten Rest von Eleganz der Silhouetten wie sie dem ausgehenden Mittelalter zu eigen war. Cranach steht in manchem seiner Porträts dem Mittelalter ebenso nahe wie der modernsten Zeit und lässt am besten erkennen, wie diese deutsche Renaissance dem Geist der jungen Generation des 20. Jahrhunderts verwandter ist als die florentinisch-römische 9).

Abb. 020. A. Dürer, Bildnis des O. Krell (1499), Alte Pinakothek, München.
Abb. 021. A. Dürer, Selbstbildnis, Alte Pinakothek, München.
Abb. 022. Holbein, Porträt des Tuck in London (Privatbesitz).
Abb. 023. L. Cranach, Porträt der Katharina von Bora, Dresden.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Deutsche Malerei. Band 1
Abb. 020. A. Dürer, Bildnis des O. Krell (1499), Alte Pinakothek, München.

Abb. 020. A. Dürer, Bildnis des O. Krell (1499), Alte Pinakothek, München.

Abb. 021. A. Dürer, Selbstbildnis, Alte Pinakothek, München.

Abb. 021. A. Dürer, Selbstbildnis, Alte Pinakothek, München.

Abb. 022. Holbein, Porträt des Tuck in London (Privatbesitz).

Abb. 022. Holbein, Porträt des Tuck in London (Privatbesitz).

Abb. 023. L. Cranach, Porträt der Katharina von Bora, Dresden.

Abb. 023. L. Cranach, Porträt der Katharina von Bora, Dresden.

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