Spiritualismus und Ästhetizismus der Deutschen Renaissancekunst

Ein Hinweis auf Dürers scheinbar ähnliche Gestaltungsgrundsätze würde übersehen, dass in dem Dresdner Bilde Gruppe und Kreuz zwei verschiedene, sich gegenübertretende Motive sind. In der hiermit zu vergleichenden Komposition Dürers dagegen (Abb. 16), erscheint ein einheitliches, aus dem Boden sich entwickelndes Gruppenmotiv, das in Spiralenform um das Kreuz herum sich aufwärts windet und in dem Arm des jammernden Johannes, der einzigen auffallenden Geste, mündet, um von hier wieder mit dem Blicke Christi und dem Körper der hinstürzenden Madonna in die Tiefe zu versinken. Die ganze Gruppe wird so zur Geste, auch in den Farben: Grelles, motivisch sich oft scharf isolierendes Licht mit teilweise wieder sanften Übergängen nach dem nebligen Grau des Hintergrundes, dessen schlichte Kurvaturen mit dem Baummotiv die dramatischen Kadenzen der Gruppe in die schweigende Ferne leiten. Später hat man sich von dieser historischen Szenerie und den traditionellen handelnden Persönlichkeiten ganz frei zu machen versucht, um die Idee rein als solche wirken zu lassen.

In der Kreuzigung des Nicolaus von Riedt (Abb. 17) der Märchenzauber der heimatlichen Berge neben dem Pathos weltgeschichtlicher Begebenheit. Der Raum ist jedoch nicht Bühne für die Gestalt, so wenig wie die Gestalt die Handlung darstellt. Sie ist verkörpertes Schicksal, das in jedem Teil des Bildes erscheinen soll. Deshalb sitzt der Stamm so wurzelfest wie gewachsen in der aufsteigenden Bodenwelle und schmiegt sich an die Kurve der Wade, formt das Schamtuch das Motiv der sich ausbreitenden Hände, bettelt das Auge Christi nicht um Mitleid des Beschauers, sondern sieht erwartungsvoll hinüber zu dem von unten aufleuchtenden, fernen Licht, dem Siegeszeichen seines Opfers, des neuen Lebens, das aus gewittrigen Tiefen kommend, über die steilen Höhen des Todes triumphierend emporsteigt. Das Ereignis ist nicht so sehr Drama als Erfüllung des Gesetzes, die hier durch das Bild illustriert werden soll; den inneren gesetzlichen Zusammenhang zwischen der handelnden Persönlichkeit und der unsichtbaren Schicksalsmacht zu schildern, ist hier freilich mehr Inhalt der Darstellung als Gegenstand der Bildgestaltung. Von dieser rein künstlerischen Seite her hat Grünewald das Problem aufgegriffen.


Abb. 016. A. Dürer, Christus am Kreuz (1508). P. 24
Abb. 017. N. Riedt, Kreuzigung (1586), Basel.
Abb. 018. Evangelist Matthäus, Evangeliar Ottos III. (11. Jahrh), München, Hof- und Staatsbibliothek.
Abb. 019. Grünewald, Auferstehung Christi, Colmar.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Deutsche Malerei. Band 1
Abb. 016. A. Dürer, Christus am Kreuz (1508). P. 24

Abb. 016. A. Dürer, Christus am Kreuz (1508). P. 24

Abb. 017. N. Riedt, Kreuzigung (1586), Basel.

Abb. 017. N. Riedt, Kreuzigung (1586), Basel.

Abb. 018. Evangelist Matthäus, Evangeliar Ottos III. (11. Jahrh), München, Hof- und Staatsbibliothek.

Abb. 018. Evangelist Matthäus, Evangeliar Ottos III. (11. Jahrh), München, Hof- und Staatsbibliothek.

Abb. 019. Grünewald, Auferstehung Christi, Colmar.

Abb. 019. Grünewald, Auferstehung Christi, Colmar.

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