Erkenntnistheoretischer Skeptizismus

Es führt ein Weg von dem Mystiker Eckhart zu Kant und zu Hegel und einer von den frühen Nürnbergern über Dürer, Holbein und Grünewald zu Hodler. Schon in der Mystik tritt der transzendentale Idealismus der deutschen Geisteswelt dem antiken transzendentalen Realismus gegenüber und auch in der sinnlichen Welt war der Deutsche damals weniger auf die Verwirklichung von formalen Idealen als vielmehr die Gestaltung der aus der Vorstellung gewonnenen transzendentalen Idee der Erscheinung bedacht. Daher kamen auch die Romanen im Aufklärungszeitalter zur Verneinung der geistig seelischen, zur rücksichtslosen Bejahung der selbständigen sinnlich realen Welt, während Kant in seinem transzendentalen Idealismus in den Formalien unseres vorstellenden Bewusstseins — wie einst die deutschen Künstler — naiv die Form erkennt, durch die wir gestaltend die Einheit der Natur erfassen.

Aber auch hier lebt noch in Kants kategorischem Imperativ das immanente Willen und Wesen bestimmende Gesetz in seiner harten Zwiespältigkeit weiter und wie in Hegel der Aristotelische Realismus nach Kants Lehre aufs neue aus der deutschen Ideenwelt sich entwickelt, so auch nach Dürer die Kunstlehren der italienischen Renaissance. Man könnte sagen, in diesem Entwicklungsgang äußere sich die Tragik des mystischen Bewusstseins, das ja für die deutsche Kunst von fast ausschlaggebender Bedeutung gewesen war. Denn in der kindlichen, starken Hingabe an das Wunder der religiösen Idee findet der Deutsche doch stets als verlorenen Rest im Weltenraume wiederum seine Persönlichkeit. Das ist in Dürers Melancholie am tiefsinnigsten zum Ausdruck gelangt (Abb. 24). Wie verworfenes Spielzeug liegen die Symbole menschlicher Geistesarbeit um die müden Glieder der Riesin und, ihre Schwingen vergessend, sucht sie, schwermütig und sehnsüchtig, über der engen Fülle des unmittelbaren Daseins die schweigende Weite des Meeres, wo im nächtigen Dunkel ein visionäres Licht aufblitzt, leidenschaftlich stark und doch ein Licht nur, nicht die aufgehende Sonne, die den Sieg des Tages über die Nacht verkündet, das Ganze ein Symbol des menschlichen Geistes und seines Schicksals. In Rafaels Schule von Athen, eine imponierende festliche Versammlung disputierender Fürsten, umschlossen von stolzen Tempelhallen, in ihrem Handeln Symbole der Geistesgeschichte der Menschheit und in ihrer Erscheinung, im feinen Ovale der Gruppe, die Verkörperung von Schönheit und Harmonie.


Das Weib in Dürers Melancholie mit seinen groben Gliedmaßen steht jenseits von allem Zeitlichen und Sinnlichen. Aus der Engigkeit seines Daseins bauen sich die Glieder in die schillernde Ferne der Ewigkeit. Die sentimentalen Sehnsuchtsgedanken der Romantiker des 19. Jahrhunderts haben in ihrem Gewande weicher Schönheit nichts mit diesen Ideen zu tun. Bei Dürer stößt sich das Auge an den Kanten und Ecken dieser bedrückenden Fülle wie in einem Irrgarten, und wo die Romantiker von der schmerzlichen Sehnsucht nach dem fernen, wunschlosen Sein, von Schönheit und Frieden erzählen, schildert Dürer die Resignation in dem unbefriedigten Drange nach dem Lichte der Erkenntnis und seiner wundersamen Zaubermacht. Es ist nicht ein ästhetischer Gedanke, dem Dürer nachgeht, auch gibt er sicherlich mehr bloß die gemütvolle Schilderung einer „Stimmung“. Man kann die Idee nur mit der vergleichen, die Michelangelo in seinen Sklaven vom Juliusgrabdenkmal zum Ausdruck bringt: die sinnliche körperliche Welt wird zur beengenden Fessel des Geistes. Bei Michelangelo das Pathos der Riesenkräfte, die mit ihrem Sklavengeschick ringen, die Macht der Gottheit im Geschöpfe, bei Dürer der Ernst der Feierstunde, in der der Geist der Schöpfung Zwiesprache hält mit dem des Geschöpfes und die Natur menschlicher Geistigkeit sich ferne sieht dem gesuchten Geist der Natur. Bei dieser starken Versenkung in die traditionelle mittelalterliche Idee des melancholischen Temperaments sind Dürer unbewusst wohl Faustische Gedanken nahe gekommen. Wie eine Faustische Anklage der Bücher und Instrumente des menschlichen Geistes erscheint die Melancholie:

„Ich stand am Tor, ihr solltet Schlüssel sein,
Zwar euer Bart ist kraus, doch hebt ihr nicht den Riegel,
Lässt sich Natur des Schleiers nicht berauben,
Und was sie deinem Geist nicht offenbaren mag,
Das zwingst du ihr nicht ab mit Hebeln und mit
Geheimnisvoll am lichten Tag Schrauben.“


Abb. 024. A. Dürer, Melancholie. Kupferstich. B. 74.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Deutsche Malerei. Band 1
Abb. 024. A. Dürer, Melancholie. Kupferstich. B. 74

Abb. 024. A. Dürer, Melancholie. Kupferstich. B. 74

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