Herder

Herder

Am 3. Dezember 1913 wurde in Deutschland der Säkulartag von Herders Tod feierlich begangen. Die Aufforderung des Vorstandes des Vereins für jüdische Geschichte und Literatur in Berlin, bei dieser Feier das Wort zu ergreifen, nahm ich gern an, im Innern überzeugt, daß das eine würdige Pflicht des Vereins sei. Ich dachte mir die Aufgabe leichter, als sie wirklich war, weil ich das Material in einer Abhandlung von Perles und in einem Buch von Kohut zusammengestellt wähnte. Aber das letztere Buch war weder in der Königlichen, noch in einer jüdischen Bibliothek, weder vom Verfasser, noch in einer Buchhandlung zu bekommen, und so mußte ich selbst die Arbeit übernehmen, mir das Material zu beschaffen.


Zunächst mußte ich mir die Frage aufwerfen, hat denn der Verein für jüdische Geschichte und Literatur das Recht und die Pflicht, Herder zu feiern? Unter den jüdischen Schriftstellern ist Herder nur mit einem bekannter geworden, nämlich mit Moses Mendelssohn. Das erste, was ich daher tat, war, daß ich eine sehr bekannte und verbreitete, von einem Juden herrührende Biographie Mendelssohns durcharbeitete. Doch wie fand ich dort Herder dargestellt: „Der eitle Mann“, „der launenhafte eitle Mann“, „der mit einer freien Theologie sich brüstende Herder legte pfäffisch die Hand auf den Mund“, „er hatte giftigen Neid auf alles Gute“. Und nicht besser erging es mir, als ich das größte Werk, ein an historischem Sinne armes und an Fehlern überreiches Werk, zur Hand nahm. Die einzige, Herder behandelnde Stelle lautet wörtlich so: „Selbst Herder, obwohl erfüllt von Bewunderung für das israelitische Altertum und das Volk in seinem biblischen Glanze, der zuerst die heilige Literatur mit dichterisch sinnendem Ange betrachtete, empfand eine Abneigung gegen die Juden, die sich in seinem Verhältnis zu Mendelssohn kundgab. Es kostete ihn Überwindung, sich ihm freundschaftlich hinzugeben. Herder prophezeite zwar eine bessere Zeit, in welcher Christen und Juden in einmütiger Gesinnung am Bau der menschlichen Gesittung arbeiten würden, aber er glich dem alten Bileam, er verteilte die Segenssprüche für die Juden nicht mit frohem Herzen.“ Und nur in einer Anmerkung steht schüchtern: „Sein ,Geist der hebräischen Sprache war epochemachend“, ein recht häßlicher Fehler, denn Herders Werk heißt bekanntlich anders: „Geist der hebräischen Poesie“.

Ich würde solche Stellen, die mich entmutigen konnten, ja mußten, nicht erwähnen, wenn sich durch sie nicht ein Fehler offenbarte, der bei den jüdischen Historikern Deutschlands so oft zu beklagen ist: der geringe Respekt vor dem Deutschtum und die einseitige Betrachtungsweise, die immer daraus ausgeht, zu untersuchen, ob ein Andersgläubiger ein Judenfreund oder Judenfeind war, und nach dem Ausgang dieser Untersuchung das Urteil über den Betreffenden formuliert.

Im Gegensatz zu einer solchen Fragestellung und Beantwortung muß ich die Frage, ob die Juden das Recht und die Pflicht haben, Herder zu ehren, mit einem Ja beantworten. Aber eine andere allgemeinere Frage ist die: verdient Herder überhaupt eine Feier? Wie steht die deutsche Nation zu ihm, der nun seit 100 Jahren tot ist? Es gibt, soweit ich weiß, nur ein einziges Herder-Denkmal, in Weimar. Das Herder-Haus, d. h. das schlichte, ja dürftige Geburtshaus in Mohrungen, ist mit vieler mühe und mit recht knappen Mitteln nach Erlass eines allgemeinen Ausrufs vorm Untergang bewahrt und wiederhergestellt worden. Herders Werke, weit entfernt davon, so oft aufgelegt zu werden, wie die Schriften seiner großen Zeit- und Ortsgenossen, sind nur in einer einzigen großen, allerdings mustergültigen Ausgabe ediert; die meisten Sammlungen der Schriften unserer Klassiker begnügen sich damit, von diesen seinen Arbeiten eine verhältnismäßig kleine Auswahl zu geben. Auch eine vortreffliche Herder-Biographie existiert, aber trotz der ausgezeichneten Leistung gehört sie zu den Werken, die man anstaunt, ohne daß ihre Verbreitung auch nur im entferntesten der gleicht, die gar manchen Lebensbeschreibungen Schillers und vielen Goethes zuteil geworden ist. Man wird sagen müssen, unter den Genien allerersten Ranges des 18. Jahrhunderts hat er keinen Platz, diese sind Lessing, Kant, Goethe, Schiller, aber unter denen zweiten Ranges steht er gewiß an erster Stelle, so daß Wieland und Klopstock erst in gemessenem Abstand ihm folgen. Woran liegt das? Man könnte antworten, daß die Männer der ersten Reihe als durchaus selbständig, die der zweiten, Herder eingeschlossen, als unselbständig erscheinen. Denn in der Tat, er hat von Leibniz, dem großen Vorgänger des 17. Jahrhunderts, das Weltumfassende, die kühnen Anfänge und das stete Wiederzurückschrecken, er ist in seiner Kritik und in seiner ganzen theologischen Art ein Schüler und ein Nachahmer Lessings. Und noch ein anderer Hauptzug seines Wesens wird ihn in diese zweite Reihe verbannen und ihm den Übergang in die erste verwehren. Die großen Genien, die das deutsche Geistesleben und die Menschheitsentwicklung des 18. Jahrhunderts förderten, sind durch gewaltige vollendete Werke unsterblich und wirkungsvoll geworden; die Eigentümlichkeit Herders dagegen besteht darin, daß er immer aphoristisch, fragmentarisch ist und bleibt; seine größten Werke, „Die Humanitätsbriefe“, „Die Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“, auch die bereits kurz angeführte Schrift „Vom Geiste der hebräischen Poesie“ sind Fragmente geblieben. Ebenso wie das Geistige bei ihm nicht zur höchsten Vollendung gekommen, so erregt auch das Menschliche bei ihm Bedenken. Es ist in dem Manne eine merkwürdige Mischung voll Wärme und Kälte; sein bietet Züge dar, die man nur als allzu menschliche bezeichnen muß: sein Ankämpfen gegen die wirklich Großen wie Kant, seine Empfindlichkeit, seine starke Überhebung entfernen ihn aus der Zahl derer, bei denen menschliche Fehler und Schwächen möglichst zurücktreten. Goethe hat einmal von ihm gesagt: „Man kam nie zu ihm, ohne sich seiner Milde zu erfreuen, man ging nie von ihm, ohne verletzt zu sein.“ Gerade das ist der einzigste Ausdruck seines Wesens: der erste Eindruck ein ungeheuer günstiger, die allmähliche Erkenntnis mischte sich mit Unmut. Aber es darf ihm nie vergessen werden, daß er nicht etwa bloß für Goethe, sondern für die Literatur überhaupt der große Anreger war, der vermöge seiner ungeheuren Kenntnis und seiner fast nicht mehr erreichten Vielseitigkeit einen belebenden Eindruck auf die ganze Zeit übte. Wie Goethe bei seinem Zusammenleben in Straßburg auf das Volkslied und Ossian, auf Shakespeare und Homer durch Herder hingewiesen wurde, und durch solche Hinweise Anregungen empfing, die fast das ganze Leben fortwirkten, so hatte er durch seine Worte, Reden und Schriften eine Fülle von Beeinflussungen ausgeübt, wie vielleicht kein anderer Schriftsteller jener reichen Epoche. Herder hat in die verschiedensten Gebiete eingegriffen, Geschichte, Philosophie, Theologie, Ästhetik, Dichtkunst; auf keinem ist er ein Neuschöpfer und Begründer eines Riesenbaues, aber in allen hat er beeinflussend und befruchtend gewirkt.

Den mächtigen Einfluß, den Herder auf die Beschäftigung mit dem Judentum übte, muß man zunächst in seiner Betrachtung der Bibel finden. Man kann die Dienste, die er in dieser Beziehung leistete, kurz mit den Worten be-. zeichnen: die Rettung und Überführung der Bibel in eine neue Zeit als Palladium alles Glaubens. Was ihn zu einer solchen Tat befähigte, war außer seiner starken Gläubigkeit sein historischer Sinn und sein poetischer Geschmack. Er ist Kritiker und Apologet zugleich. Die Bibel ist ihm nicht Offenbarung, aber sie bleibt ihm Zeugnis und Nachricht über die Offenbarung. Sie ist ihm, wie er geistreich ausführt, nicht selbst Wort Gottes, aber sie unterrichtet von der Sprache, die Gott zu den Menschen gesprochen. Es sieht aus wie eine Herabsetzung, wenn er nicht müde wird, zu lehren, die Bibel menschlich zu begreifen, und doch ist es eine Erhöhung, weil sie als „Erkenntnisgrund der höchsten religiösen Erfahrung epochemachende Aufschlüsse und Enthüllungen des göttlichen Wesens dem Studium aller Zeiten übergibt“. Aber neben dieser Würdigung der Bibel besteht sein Verdienst besonders darin, daß er, wie ein neuerer Historiker es aussprach, „die Bibel aus den Händen der Theologen rettete in die des Philologen, Historikers, von dem Tische des Dogmatikers in das Herz des Dichters und Forschers“.

Was Winckelmann und Lessing in betreff des klassischen Altertums geleistet, das beabsichtigte Herder mit dem Alten Testament. Er will es auffassen, wie es wirklich war: „Die phantastische Theologie der Scholastiker, der alles belächelnde Modewitz, welche beide keine Ahnung von der Herrlichkeit der Denkmale ältester Gottesweisheit haben, sollen erfahren, daß das Rauschen des freien natürlichen Geistes aus der Kindheit unseres Geschlechts, das ist das Göttliche der Schrift und ihrer Schreiber, nicht von Grüblern und nicht in den Höhlen der Knechtesuntersuchungen vernommen werden kann. Man muß ihn, wie das Kommen eines Freundes oder einer Geliebten, mit innerer Empfänglichkeit belauschen.“

Die Erklärung der Bibel, die er vorschlägt, ist eine sehr merkwürdig dreigeteilte. Er will sie nach klimatischer Weise erklären, indem er darauf hinweist, daß sie ja aus dem Osten stamme, national, in Rücksicht daraus, daß sie von Juden stamme. (Er hat einmal geradezu den Satz ausgesprochen, „man muß sie als Jude lesen“.) Und lokal, im Hinblick darauf, daß Palästina Heimat und Ursprungsort des Buches ist. Er geht kritisch zu Werke. Von der Autorschaft Mosis in betreff der sog. fünf Bücher Mosis will er nichts wissen; in der Schöpfungsgeschichte sieht er weder mit den einen eine freie Dichtung, ein spätes Erzeugnis eines dichterischen Geistes, noch mit den andern die Verarbeitung eines alten Märchens durch Moses, sondern einen unentstellten Überrest aus der Väterzeit, eine echte Familien- und Stammestradition; er betrachtet sie als einen Talisman häuslicher Ordnung und des Gottesdienstes. Über die Einrichtung des Sabbat spricht er in überaus bemerkenswerter Weise: „Das Kunststück einer geordneten Haushaltung wird mit göttlicher Weihe dargestellt.— wie ein heiliges väterliches Testament, als eine unantastbare Sitte, wird die Heiligung des siebenten Tages überliefert; es wird der Grund zur Ordnung, zum Frohmut und zur Freiheit des Menschen gelegt, der sich zum Wirken, Schaffen und Herrschen bestimmt sieht. Zugleich aber lernt der Mensch, daß er kein Lastvieh, sein Tun kein Frondienst werden soll. In diesem Gedächtnisgesang der Arbeit und der Ruhe — welch' eine schöne Methode . Statt daß Gott befiehlt, wird in väterlichen Bildern erinnert, die Schöpfung selbst wird das Denkmal der Erinnerung an die Weisheit des Gottesboten, welcher die wohltätigste Lehre und Ordnung auf Erden stiftete. Gott selbst wird der erste Lehrer und Priester; nach seinem Bilde jeder Hausvater. Der Mensch fühlt sich als die Hieroglyphe der Schöpfung, das Abbild Himmels und der Erde mit den drei Hauptkräften: Gedanke, Herz und Seele. Alle Mannigfaltigkeit und Einheit, das ganze Universum der Bildung faßt sich in tiefsinnige Allegorie und Metapher zusammen.“

In ähnlicher Weise geht er bei der Erwähnung der übrigen Institutionen und Ereignisse vor. Die Erzählung vom Paradiese ist ihm eine Gartengeschichte, eine ausgeführte Allegorie, ein Bild von dem Menschen, der eine Pflanze in der Hand des Gärtners sei. So wird alles einzelne zu erklären und zu deuten versucht: die Geschichte vom Brudermord ist ihm eine Sage, die durch den Volkshass und den Kampf zwischen Beduinen und verwandten Stämmen entstanden sei; die Flutsage wird mythisch gedeutet, ebenso der Turmbau, der ihm als Ausdruck für die harte Notwendigkeit der Völkertrennung und als poetische Erklärung für die unterschiede der verschiedenen Sprachen erscheint.

Alles das mochte die Theologen befremden, den Gelehrten seltsam erscheinen. Für die große Menge der Gebildeten war das die einzige Möglichkeit der Rettung der alten Denkmäler, denn durch solche poetische Darlegungen schuf Herder eine neue Epoche für das Verständnis der Bibel.

Das wichtigste Monument in dieser Tätigkeit ist sein „Geist der hebräischen Poesie“, 1782. Gewiß kann man vom kritischen Standpunkte aus manches an dem Werke tadeln: die strenge Anordnung wird vermißt, die zahlreichen Einschiebungen stören ebenso, wie die Form des Gesprächs und die große Weitschweifigkeit der Behandlung. Aber der bedeutende Wert des Werkes liegt in der begeisterten Verkündigung des Dichtergeistes, in der Art, wie frei gelehrt wurde, daß eine Überfülle von Geist und Poesie in den alttestamentlichen Urkunden vorhanden sei, und in der außerordentlich schönen Übersetzung wichtiger Stücke, z. B. des ganzen Hohen Liedes. Herder weist in seiner Schrift nach, daß alle Gattungen der Poesie in den alttestamentlichen Denkmälern vertreten seien, zeigt die eigentümliche Art dieser Dichtung aus und erkennt an, daß es die älteste, einfachste, herzlichste der Erde sei. Er stellt sie dar als die naturwüchsige und volkstümliche Poesie eines Volkes, dessen ganzes Sein und Wesen von dem tiefsten und kräftigsten Gottesbewusstsein durchglüht und erfüllt war. „Poesie ist die Muttersprache der Menschheit,“ dieses Hamannsche Wort wiederholt er gern. Er sucht die Verbindung der Poesie mit der Prophetie und den geschichtlichen Büchern darzutun: die geschichtliche Überlieferung verrate die Einwirkung poetischer Ausfassung: „Poesie der Bibel“, sagt er einmal, „ist nicht zum Spaß, nicht zur entbehrlichen, müßigen Gemütsergötzung oder zu schändlichem Schlendrian erfunden, wie wir jetzt die Poesie anwenden: sie, die Art ihrer Vorstellung und Wirkung, war einst überall Natur, Erfordernis der Sprache und des Gemüts, Bedürfnis der Sache, der Zeit, der Umstände, kurz eine innere Notwendigkeit und nichts weniger als ein nach außen Berechnetes, nichts Erkünsteltes, nichts Trügerisches“.

Um nur einige Einzelheiten hervorzuheben, genüge es, aus den Abschnitt über die Psalmen hinzuweisen. Er weist für sie die Grundsätze nach:

1. Jedes Gedicht habe seine Situation, auf die es bezogen ist.
2. Die Psalmen seien Denkmäler nationaljüdischer und antiker Frömmigkeit.
3. Man darf kein modernes Regelmaß auf sie übertragen und sie nicht mit unserer Kunstpoesie vergleichen.

Auch den anderen poetischen Schriften weiht er eine eigenartige Betrachtung. Bei Hiob, für den er eine besondere Vorliebe empfindet, hebt er besonders das Dramatische hervor. Bei dem Hohen Lied will er nichts von der symbolischen Deutung wissen, die in der Geliebten die Kirche, im Bräutigam Christus, in den Füchsen im Weinberge die Ketzer und Irrlehrer sieht, sondern er erkennt das Ganze als ein Liebesbuch, vielleicht einen Überrest alter Hochzeitsgedichte. Verhältnismäßig wenig werden von ihm die prophetischen Bücher betrachtet. Nur den Klageliedern Jeremiä weiht er eine eingehende Schilderung als der schönsten Frucht der hebräischen Elegie und sagt über sie: „Wie eine Turteltaube hört man über dem Grab des Tempels und Landes die Elegie girren, wie eine edle und gefesselte Sklavin sehnt sie sich zurück in ihre Gegenden der Würde und Freiheit. Keine Nation hat schönere Stücke dieser Art. Aber keine Nation hat auch so viel verloren und empfunden als die hebräische, ohne dabei den kindlichen Trost der Zukunftshoffnung aufzugeben.“

Die Wirkung dieser merkwürdigen Schrift, die zum erstenmal in Deutschland eine ästhetische Würdigung der bisher nur einseitig theologisch aufgefassten Bibel durchführte, war eine mannigfache.

1. Das Vorurteil vieler Aufklärer, daß die Bibel das Zeugnis eines rohen und geschmacklosen Volkes sei, wurde zerstört.

2. Die Orthodoxen wurden zurückgewiesen;

deren beständige Reden von Offenbarung und mystisch geheimer Auffassung wichen der Forderung, „die Bibel soll menschlich gelesen werden“.

3. Eine große Anzahl von wirklich ernsten, gediegenen wissenschaftlichen Arbeiten lehnte sich an Herder an, Arbeiten, die nicht bloß kritische und grammatische Exegese trieben, sondern sich mit inniger Liebe zur Bibel wandten. Eichhorn und seine Nachfolger sind direkte Schüler Herders, die Bibelkritik und Erklärung steht durchaus in seinem Bann.

4. Endlich wurde eine große Wirkung auf die Dichtung geübt: nun erst wurde die Bibel wirkliches Vorbild für die Dichter, und malt darf ohne Übertreibung sagen, daß die außerordentlich große biblische Dichtung der späteren Zeit voll und ganz durch Herder beeinflusst ist.

Außer der Darstellung enthält Herders Buch eine große Anzahl Übersetzungen. Doch ist es unmöglich, eine einzelne Probe herauszugreifen, um den Wert dieser Übertragungen zu würdigen. Nur kurz mag indessen daraus hingewiesen werden, daß Herder nach biblischen Stoffen eine Anzahl Elegien dichtete, die er in den „Blättern der Vorzeit“ zusammenstellte. Sie sind weit bekannter als seine Übersetzungen, z. B. die „Alles zum Guten“, die Geschichte des Rabbi, der, nicht in die Stadt gelangt, im freien übernachten muß und am nächsten Morgen bemerkt, daß die meisten Städter von Räubern ausgeplündert sind, oder die Erzählung „Drei Freunde“, Geld, Verwandte, wohltätige Freunde. Nicht minder bekannt ist die „Geschichte vom Weinstock“, „Sammael“, „Abrahams Kindheit“. Die schönste vielleicht ist „Der Tod des Moses“. Gott hat seinem Getreuen das Ende bestimmt; statt der Engel geht Sammael zu dem für den Tod Auserlesenen, aber er wagt ihn nicht zu berühren. Da unternimmt Gott selbst eine Unterredung mit Moses Seele, und der Dichter schließt: „Da küsste der gnädige Gott seinen Knecht und nahm ihm im Kusse seine Seele. Moses starb am Munde Gottes, und Gott begrub ihn selber, und niemand weiß die Stätte seines Grabes.“

Auch dem lebenden Moses (Moses Mendelssohn) wußte Herder, der den Begründer der jüdischen Religion zu würdigen verstand, manches gute Wort zu gönnen. Aber freilich, die Verbindung beider Männer war nicht eine so vertraute und nicht so ungetrübte, wie man wünschen möchte. Freilich muß man bei den Zeugnissen, die vorhanden sind, bedenken, daß sie sich zusammensetzen aus Briefen an Nicolai, an Hamann, an Mendelssohn selbst, und daß der an zweiter Stelle Genannte ein arger Feind Mendelssohns war, dem zu Gefallen der Briefschreiber vielleicht manchmal etwas stark austrug, und ferner die Duplizität Herders selbst in Anschlag bringen, sein Schwanken zwischen feurigem Sichhingeben und kaltem Sichzurückziehen.

Herder hatte mit Interesse, ja, mit größter Teilnahme die Beiträge Mendelssohns zu den „Briefen, die neueste Literatur betreffend“ gelesen. „Es würde für mich Glückseligkeit des Lebens sein, von solchen Männern persönlich zu lernen und durch lebendigen Umgang mit dem Geist derselben gebildet und aufgemuntert zu werden.“ Dann erschien der „Phaedon“. Herder dachte daran, ein viertes Gespräch zu schreiben, in dem Sokrates, wieder zum Leben erweckt, reden sollte, gab diesen Plan aber auf, weil er in seinem Unsterblichkeitsglauben nicht viel weiter als bis zur Seelenwanderung gekommen sei. Er hielt, freilich in Briefen an Hamann, den Charakter des Sokrates von Mendelssohn als schielend dargestellt; Mendelssohn wisse, so urteilte er, keine rechte Vermittlung zwischen Plato und Xenophon herzustellen. Infolgedessen konnte er sich lange nicht entschließen, an Mendelssohn über dieses Buch zu schreiben, und als er schrieb, seine Zweifel ausdrückend, daß die Seele körperlos fortdaure, empfing er eine Antwort, in der Mendelssohn sich befremdet darüber aussprach, daß Herder nicht annehmen wolle, „daß die Ausbildung der Seelenfähigkeiten Bestimmung des Menschen auf Erden sei“. Seitdem blieben beide in gewissem Zusammenhang. Im Jahre 1774 fand ein Zusammentreffen in Pyrmont statt. Herder hatte manche Gründe, sich von Mendelssohn zurückzuziehen, zunächst seine damalige Verfeindung mit Nicolai, dem der jüdische Weltweise sehr nahe stand, sodann eine tiefe seelische Verstimmung, unter der er damals litt; Mendelssohns Schüchternheit und Empfindlichkeit darüber, daß der berühmte Fremde ihm nicht so entgegentrat, wie er erwarten zu dürfen glaubte, machte das Zusammentreffen zu einem recht peinlichem. Freilich äußerte Herder: „Ich habe Mendelssohn kennen lernen, den klarsten, heitersten Kopf, den ich beinahe auf einein menschlichen Rumpfe gesehen, stark ausgeprägt für sich; ich habe aber wenig oder gar keinen Punkt der Anhänglichkeit an ihn gefunden, halte ihn aber an sich für sehr glücklich, obgleich, wie mir scheint, kämpfend auf einein, ich weiß nicht wie, selbstgemachten Bollwerk.“

Erst 1779 kam es wieder zu einer Verbindung zwischen beiden. Herder übersandte sein Buch „Von der Zukunft des Herrn“ mit einem schönen Brief: „Verzeihen Sie, hochgeschätzter Herr, daß ich Sie mit diesem christlichen Buche beschwere. Es geschieht nicht, Sie zu bekehren, noch mir von Ihnen als Kunstrichter, wenn Sie noch einer sind, ein gnädiges Urteil zu erkaufen; ich übergebe es dem rechtschaffenen Israeliten, den ich von Herzen hochschätze, als Zeichen dieser Hochachtung und als ein Buch in seiner Sprache, in den Bildern seiner Propheten und Lehrer geschrieben. Sie können, mein Herr, der beste Richter sein, ob die Bilder, rein und klar, das bedeuten, was ich sie bedeuten lasse, und ob ich den Zusammenhang des Buchs, der eben auch aus den Ideen Ihrer Nation ist, getroffen. Was bei uns in diesem Fache kahle, leicht zu vermittelnde, weit hergeholte Gelehrsamkeit ist, ist bei Ihnen, wie mich dünkt, angenommene heilige Sprache.“ (10. Oktober 1779.)

Der Beschenkte antwortete erst neun Monate später mit Übersendung seiner Übersetzung der fünf Bücher Mosis. Das Begleitschreiben war recht kühl, und namentlich der Schluß bei aller Anerkennung etwas vornehm. Nun ist es Herder, der in einer wahrhaft rührenden Weise sich an Mendelssohn wendet und nach dem Tode Lessings förmlich um die Freundschaft des hinterlassenen Freundes sieht: „Ohne Zweifel, lieber, teurer Mendelssohn, wissen Sie, so gut wie ich, Lessings Tod; ich kann aber nicht umhin, da ich mich schon seit 2 Tagen damit trage und gegen niemand mein Herz darüber recht ausschütten und losmachen kann, an Sie, liebster Mendelssohn, zu schreiben— an Sie, dessen Freund er so sehr war. Und den ich mir in meinen ersten Jahren so gerne und oft mit ihm zusammen dachte .....

Lassen Sie sich, lieber Mendelssohn, erbitten, gewissermaßen seinen Platz in mir auszufüllen und mir etwas näher zu sein, als Sie es sind. Eine Reihe von Zufällen und Umständen, in denen ich zum Teil doch nicht ganz Schuld bin, hat Sie, wie ich lange wenigstens gedacht habe, entfernter gegen mich gemacht, als ich's wünsche. Der unglückliche Zeitpunkt, in dem wir uns zu Pyrmont sahen und so wenig genossen, mit dem, was durch Nicolai darauf folgte, hat dazu beigetragen; und es ist mir oft ein schmerzliches Andenken gewesen, daß sich das alles so schicken, so zusammenschicken mußte. Ich begehre nicht Ihre Freundschaft, die sich nicht antragen läßt, die ich auch meiner Gemütsart nach niemandem in der Welt je angetragen habe; aber Ihre Gutmütigkeit, Ihr unverhohlenes Wohlwollen in Sachen, wo wir doch einerlei Zweck im großen Ganzen, wenngleich in so verschiedenen Sphären, zu befördern haben, dies wünsche, dies erbitte ich mir, da ich Sie so innig und aufrichtig hochschätze und liebe, auch mit jedem Jahre des Lebens lieber gewinne.“


Und auch hier muß wieder konstatiert werden, daß Mendelssohn diesem Liebeswerben gegenüber sich recht kühl verhielt, von Nicolai und der verunglückten Begegnung in Pyrmont spricht, die ausgestreckte Hand zwar nicht zurückweist, aber sie nicht mit der Wärme ergreift, mit der sie geboten wurde. Man wird es Herder nicht verübeln, wenn er daraufhin schwieg.

Als Lessings Freund sich dann anschickte, über den Verstorbenen zu schreiben, da war er es, der sich nach Weimar wandte, aber die Phrase, mit der Mendelssohn gewiß nicht verletzen wollte, „Moses der Mensch schreibt Herder dem Menschen, nicht der Jude all den Superintendenten“, mag Herder eher verletzt als erfreut haben. Seine Antwort jedoch ist nicht bekannt. Sicher ist, daß er seinen schönen Aufsatz über Lessing nach Berlin schickte, und daß der Berliner Weltweise ihn zwar im einzelnen kritisierte, aber im ganzen bewunderte. Eine vierjährige Pause folgte dann. Erst am 4. Mai 1784 schickte Herder seine „Ideen“ und manches andere und braucht die schönen Worte: „An Jerusalem habe ich mit Geist und Herz viel Anteil genommen.“ Mendelssohn antwortete, indem er auch auf die Streitigkeiten zwischen Nicolai und Herder einging und mit den Worten schloß: „Leben Sie wohl und lieben Sie Ihren Moses Mendelssohn.“

Das sind die Hauptzeugnisse für den Verkehr zwischen den beiden so ungleichen Männern. Prüft man sie in gerechter Weise, so wird man gewiß nicht die Schuld der Lauheit auf Herder allein zurückführen können: zwei schwere Naturen, denen es nicht leicht wurde, sich unbefangen zu geben, traten hier einander ohne jede Vermittlung gegenüber. Der konfessionelle Gegensatz, die Überempfindlichkeit beider hinderte eine wirkliche Intimität, gewiß aber nicht Herders Stolz oder Hochmut, nicht etwa seine Abneigung gegen den Vertreter der jüdischen Gemeinschaft.

Eine wirkliche praktische Tätigkeit für Juden zu üben, hatte Herder kaum Gelegenheit. Die Zeit, in der er lebte, war gewiß die des geistigen und sittlichen Aufblühens der deutschen Judenheit, aber gerade in Weimar lebten Juden in so geringer Zahl, daß Herder kaum Veranlassung hatte, über sie zu sprechen. Run gibt es unter Herders Werken eines, „Briefe zur Beförderung der Humanität“, das man, wenn man es nicht kennt, als eine beredte Forderung auffasst, die auch den Juden Gleichstellung mit den anderen gewähren sollte. Aber das ist eine ganz falsche Auffassung der sogenannten Humanitäts-Briefe. Ihre ursprüngliche Absicht war, die Begründung des Staates in humanem Sinne zu lösen. Daneben wurde gezeigt, wie das Menschengeschlecht die Aufgabe habe, die gegenseitig zweckmäßigste Einwirkung des eitlen aus den andern zu veranlassen. Aber das Werk ist nicht ein rein theoretisches, es sind keineswegs bloß philosophische Erörterungen, sondern historische Darlegungen; über Franklin, Friedrich und Joseph II. wird ausführlich gehandelt, die Stellung zur französischen Revolution und zur französischen Literatur eingehend dargelegt, wobei das Deutschtum lebhaft befürwortet wird. Außer diesen geschichtlichen und allgemein philosophischen werden politische Fragen behandelt, z. B. der Despotismus und der Adel bekämpft, pädagogische Fragen erörtert, worunter gar manche Bemerkungen von großer Wichtigkeit sind, z. B. die, daß die griechische Kunst als Hauptschule der Humanität betrachtet werden sollte. Die besonders bewunderten Stellen der Humanitätsbriefe sind die geistreichen Erörterungen großer literarischer Epochen, wobei z. B. die Charakteristiken Petrarcas und Uriel Acostas, Comenius und St. Pierres, Lucrez und Diderots von besonderer Wichtigkeit sind. Eine Stelle aus diesen Briefen ist in diesem Zusammenhange von großer Bedeutung, der eine andere aus den „Ideen“ angeschlossen werden soll. Die eine, die bei Gelegenheit des Uriel Acosta über Religionsverfolgungen gesprochen wurde, die andere, die im Hinblick ans die Zukunft eine allgemeine Vorstellung von der Entfaltung der jüdischen Verhältnisse gibt. Die eine lautet: „Von Kindheit aus ist mir nichts abscheulicher gewesen, als Verfolgungen oder persönliche Beschimpfungen eines Menschen über seine Religion. Wen gehet diese als ihn selbst und Gott an? Ja, wer weiß nicht, was an dem Wort Religion, sobald es innere Überzeugung und Gefühl betrifft, für diese Skrupel und Schwierigkeiten haften? Dem ist dieses, einem andern das aufs innigste anstößig; zu diesem Ausdruck kann er sich nicht gewöhnen, von jener früh erfaßten Vorstellungsart auf keine Weise sondern. An ihr hangen seilte moralischen Begriffe, an ihr vielleicht seine vornehmste Triebfeder, ja, ein Ideal der Moralität selbst. Dieser findet Zweifel, wo keiner sie findet, die schwarze phantastische fliege verfolgt ihn, ohne daß ein anderer sie siehet. Wie grausam ist's also, wie unvernünftig, nutzlos und unmenschlich, wenn sich ein Mensch, ein Gericht, eine Synagoge das Verdammungs-, das Verfolgungs-Urteil über die Religion eines andern, wäre er auch ein Neger und Inder, anmaßt!“ Die andere hat folgenden Wortlaut: „Die Juden waren und sind das ausgezeichnetste Volk der Erde: in seinem Ursprunge und Fortleben bis auf den heutigen Tag, in seinem Glücke und Unglücke, in Vorzügen und Fehlern, in seiner Niedrigkeit und Hoheit, so einzig, so sonderbar, daß ich die Geschichte, die Art, die Existenz des Volkes für den ausgemachtesten Beweis der Wunder und Schriften halte, die wir von ihm wissen und haben. So etwas läßt sich nicht dichten, solche Geschichte mit allem, was daran hängt und davon abhängt, kurz, solch ein Volk läßt sich nicht erlügen. Seine noch unvollendete Führung ist das größte Poem der Zeiten und geht wahrscheinlich bis zur letzten Entwicklung des großen, noch unberührten Knotens aller Erdnationen hinaus, dieses sonderbarste Volk hat die sonderbarsten Bücher, ein Volk, dessen Religion und Geschichte ganz von Gott abhängt, hat auch Bücher der Art, des Geistes, jene Dinge sind aus diesen, diese aus jenen entstanden und alles ist im Grunde nur eins. Ein Gepräge, ein Charakter, eine Beurkundung der Zeiten, ihr Name ist das Volk Gottes.“

Noch ein großes Werk Herders ist zu betrachten, seine „Adrastea“. Es sollte das beste Werk Herders werden, eine Zeitschrift, die er am Anfang des Jahrhunderts allein schrieb, die dazu bestimmt war, eine Prüfung der Resultate der vergangenen Zeiten zu geben. In dieser Zeitschrift findet sich ein großer Abschnitt: „Die Bekehrung der Juden“. Er beginnt mit Kallenbergs Versuche einer Judenmission aus dem Jahre 1727, geht dann ans die vielfachen Bemühungen ein, die Lage der Juden zu verbessern, spricht u. a. von den Bemühungen eines britischen Philosophen Hartley, die Juden nach Palästina zurückzuführen, und erwähnt dabei eine Stelle Montesquieus des Inhalts, daß durch die Haltung der Europäer vieles an den Juden gesündigt worden sei. Er selbst macht folgende Vorschläge:

1. Den Juden die Quelle ehrlosen Gewinns und Betrugs zu verstopfen, wobei eine recht böse Stelle gegen die Juden vorkommt, die man bei allen Judenfeinden von Grattenauer an treulich zitiert findet.

2. Die Christen müssen den Juden mit gutem Beispiele vorangehen, schädliche Gesetze aufheben und das Gute in den Juden anerkennen. Hier kommt ein Hinweis auf Lessings Nathan, aus die jüdischen Briefe des Marquis D'Argens, auf Spinoza und auf edle Charakterzüge der Juden, ihre Wohltätigkeit, vor.

3. Die Juden selbst müßten sich eine bessere Erziehung in Moral und Kultur geben. Der Verfasser gibt zu verstehen, daß sie dazu bestimmt seien, nachdem sie bisher im wesentlichen Kaufleute gewesen und weder zu Bauern, noch zu Kriegs- und Seehelden besonders geeignet seien, aus geistigem Gebiete Hervorragendes zu leisten. Schon für seine eigene Zeit bemerkt er:

„Wer denkt bei Spinozas, Mendelssohns, Herz` philosophischen Schriften daran, daß sie von Juden geschrieben^ wurden, wenn die Töchter Zions dereinst ihre Vorfahren einer Mirjam und Deborah in den Künsten der Musen nacheifern: wen wird es befremden?“

Für die Zukunft aber entwirft er das folgende wunderbare Bild:

„Welche Aussicht wäre es, die Juden, ein scharfsinniges Volk, der Kultur der Wissenschaften, dem Wohl des Staates, der sie schützt, und anderen, der Menschheit allgemein nützlichen Zwecken treu ergeben, in ihren Befestigungen und in ihrer Denkart selbst rein humanisiert zu sehen! Abgelegt die alten, stolzen Nationalvorurteile; weggeworfen die Sitten, die für unsere Zeit und Verfassung, selbst für unser Klima nicht gehören, arbeiteten sie nicht als Sklaven in einem Coliseum, wohl aber als Mitwohner gebildeter Völker am größten und schönsten Coliseum, dem Bau der Wissenschaften, der Gesamtkultur der Menschheit. Nicht auf den nackten Bergen Palästinas, den engen verheerten Landes, allenthalben stünde da geistig ihr Tempel ans seinen Trümmern empor; alle Nationen verehrten mit ihnen, sie mit allen Nationen verehrten denselben Schöpfer, indem sie sein Bild, Vernunft und Weisheit, Großmut und Wohltätigkeit im Menschengeschlecht ausbildeten und erhüben. Nicht durch Einräumung neuer merkantilischen Vorteile führt man sie der Ehre und Sittlichkeit zu; sie heben sich selbst dahin durch rein menschliche, wissenschaftliche und bürgerliche Verdienste. Ihr Palästina ist sodann, wo sie leben und edel wirken allenthalben.“

Als Herder seinen Tod nahe fühlte, bestimmte er zu seiner Grabschrift die drei Worte: "Licht, Liebe, Leben". Was bedeuten sie für ihn, was sagen sie uns?

Licht, das bedeutete ihm nicht nur Verlangen nach Helligkeit und Daseinsverlängerung, sondern ein Schauen der Verklärtheit: aus den Stürmen des Lebens hatte er sich zu innerer Ruhe gerettet, in des Leibes Schwachheit meinte er das Licht der Ewigkeit zu schauen. Uns aber gab er das Wort: Halte fest an der Leuchte der Aufklärung; nur das Denken bringt Licht, nur nach dem Entfernen der Schlacken leuchtet das Gold.

Und die Liebe: er hatte die Menschheit in sein Herz geschlossen und sie doch oft von sich gestoßen, hatte mit den Seinen innig gelebt und sich ihnen häufig durch Rechthaberei und Kleinlichkeit entfremdet; nun auf dem Krankenlager sehnte er sich nach der allumfassenden Macht, war von dem Verlangen erfüllt, die ganze Menschheit all sich zu ziehen. Uns aber bedeutet das Wort nicht das Begehren und das Verlangen nach Luft, sondern die schöne Sehnsucht des einzelnen zur Gesamtheit, den Wunsch nach Verbrüderung mit allen zur Gestaltung einer herrlichen Weltharmonie.

Und endlich das Leben: der Kranke wünschte sich wohl, das Leiden zu überstehen, um seine Kräfte nützen zu können, denn er und wir mit ihm sehen im Leben etwas anderes, als ein leeres Verbringen der Tage. Leben heißt tun, nach dem Goetheschen Spruch:

„Noch ist es Tag, da rühre sich der Mann.
Es kommt die Nacht, da niemand wirken kann.“


Leben heißt vertrauen, daß das, was der einzelne leistet und schafft, nicht verloren geht, sondern für das Ganze nutzbar gemacht wird. Leben heißt hoffen, hoffen auf die Verwirklichung der Ideale, die der einzelne Mensch und die das einzelne Zeitalter nicht herbeiführen kann, aber die sich verwirklichen müssen, wenn und weil es eine Vervollkommnung der Menschheit gibt.

Licht, Liebe, Leben, die Bewährung dieser drei Worte, das sei der deutschen Juden Feier am Herdertage.






Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Deutsche Literatur und die Juden
Johann Gottfried Herder (1744-1803), deutscher Dichter, Übersetzer und Theologe

Johann Gottfried Herder (1744-1803), deutscher Dichter, Übersetzer und Theologe

Klopstock Friedrich Gottlieb (1724-1803), deutscher Dichter

Klopstock Friedrich Gottlieb (1724-1803), deutscher Dichter

Gottfried Wilhelm Leibnitz (1646-1716), deutscher Philosoph und Wissenschaftler

Gottfried Wilhelm Leibnitz (1646-1716), deutscher Philosoph und Wissenschaftler

Homer, erster Dichter der Antike

Homer, erster Dichter der Antike

Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781), wichtigster Dichter der deutschen Aufklärung

Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781), wichtigster Dichter der deutschen Aufklärung

William Skakespeare (1564-1616), englischer Schriftsteller und Dramatiker

William Skakespeare (1564-1616), englischer Schriftsteller und Dramatiker

Sokrates (469-399 v. Chr.), griechischer Philosoph

Sokrates (469-399 v. Chr.), griechischer Philosoph

alle Kapitel sehen