Tafel 9 Knossos, Pfeilersaal, östlicher und westlicher Teil
Man denke sich die Wände eines Raumes auf zwei oder gar drei Seiten ersetzt durch Pfeilerstellungen, deren Durchgänge durch zweiflügelige Türen, teils auch nur durch Teppiche verschließbar waren, und vorgelagert eine Säulenhalle, die ihn und auch die hohen hölzernen Türen vor Sonnenbrand und Wetterunbill schützten. Wir sehen über dem Bodenpflaster noch die Reihen der länglichen, an den Enden verbreiterten Steinbasen für solche hölzernen Pfeiler und davor, in weiterem Abstände, die Rundbasen für die Säulen der Vorhalle. Dieser so recht für den heißen Süden geschaffene Raum ist mit dem vielräumigen Palastganzen eng und unlösbar verstrickt. Mit der Vorhalle seiner entgegengesetzten Seite (b) schiebt er sich ins Innere des Palastes hinein und hier leistet ihm diese Vorhalle einen neuen Dienst. Denn der Raum, auf den sie sich öffnet, ist wiederum ein Lichthof, der durch alle Stockwerke des Hauses geht. Als unbedeckten Raum kennzeichnet ihn die solide, wetterbeständige Konstruktion seiner Wände aus sorgsam gefügtem Quaderwerk, — die übrigen Innenwände im Palaste waren Bruchsteinmauern, die man verputzte. Die dichte Häufung der Gemächer und die ausgedehnte Verwendung des Stockwerkbaues mußte in diesen Palastkomplexen zahlreiche Räume entstehen lassen, für die eine unmittelbare Belichtung nicht mehr möglich war. Der Lichtschacht wurde zur Notwendigkeit. Und geschickt wurde er nun so gelegt, daß er einer Mehrzahl von Räumen diente, durch verschiedene Etagen und meist auch nach mehreren Seiten wirkte. In dem Beispiel unseres Bildes ist das Zusammensinken der rechten Seitenwand erklärt durch eine ursprüngliche breite Fensteröffnung, die von diesem Lichthof aus einen Hauptkorridor zu belichten hatte. — So sehen wir überall mit Staunen komplizierte, durch außerordentliche Raumansprüche bedingte, konstruktive Aufgaben mit hochentwickeltem technischen Geschick bewältigt. Raumansprüche, die uns erst ganz verständlich werden aus dem prunkvollen Leben, das sich in diesen Palästen einst abgespielt hat, und von dem die Reste farbenreicher Wandgemälde und die Geräte eines feinen Luxus noch erzählen. Dieselben charakteristischen Raumformen hatten schon ein halbes Jahrtausend früher, um 2000—1800 v. Chr., ältere Paläste, die unter den hier besprochenen liegen. So sind z. B. vor dem Portal von Phaistos (Tafel 4, b) die Sockelwände und die Reste einer kleinen Palastkapelle sichtbar, die unter der Hofterrasse der jüngeren Zeit verschwunden waren. Die entscheidenden Grundhnien mit dem stets oblongen zentralen Hof wurzeln gar, so möchte man heute glauben, schon in der ovalen Hausanlage früherer Zeit, wo sich eine solche Innenteilung in konsequenter Anlehnung an die Struktur des Daches vollzog. — Es wäre gewiss undenkbar, aus dieser Entwicklung die Einflüsse der überlegenen Kulturen des Orients, vor allem Ägyptens auszuschalten. Aber wo sie sich auch nachweisen lassen, haben sie doch dem hochbegabten Volke Kretas nur immer wieder zur souveränen Entwicklung der eigenen schöpferischen Gestaltungskraft gedient. Es kommt um die Mitte des zweiten Jahrtausends zu einer Machtentfaltung kretischer Kultur, wie sie die Gestade des ägäischen Meeres bis dahin nicht erlebt hatten: als die Seeherrschaft des Minos, der zu Knossos residierte, hat sie in der frühesten geschichtlichen Erinnerung der Griechen fort gelebt. Nun erst erfährt diese Kultur ihre intensivste Ausbreitung auch auf dem griechischen Festland: was den Glanz und fürstlichen Prunk in den Palästen von Tiryns und Mykenä ausmacht, ist das kretische Element; ihre dekorative Ausstattung, die ganze Kleinkunst ist die Kunst der jüngeren kretischen Paläste. Nur kretische Baukunst suchen wir dort vergebens. Das Bild der festländischen Herrensitze ist schon nach außen hin ein anderes: es waren uneinnehmbare Burgen!
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Baukunst des Altertums