Tafel 10 u. 11 Torturm von Tiryns. Löwentor von Mykenä

Gewaltige, aus kaum behauenen Blöcken geschichtete Mauern, die den späteren Griechen selbst schon als staunenswerte Werke ihrer Vorzeit erschienen, sicherten den Rand des Hügels oder Felsens, der die Wohnung der Fürsten trug. So stieg man in Tiryns auf breiter Rampe empor zu dem ersten Eingang, der, von einem über die Mauern überhöhten Turm flankiert, noch in seinen Trümmern imponiert. — Monumentaler erscheint der Zugang zur Burg von Mykenä. Da bildet eine aus wuchtigem Quaderwerk geschichtete Bastion, weit aus der Ringmauer vortretend, die Gasse zu dem Tor, über dem allezeit sichtbar die Reliefplatte stand mit der mächtigen Wappengruppe der den Feind zurückschreckenden Löwen. — In der Erhaltung ihrer Grundlinien übertrifft aber die Herrenwohnung der räumlich beschränkten Tirynther Burg (Abb. 2) alle anderen Reste. Zwei Höfe, jeder durch einen eigenen Torbau (H, K) zu betreten, sind dem Hauptgebäude vorgelagert. In jedem Torbau liegt eine zweisäulige Halle nach außen und nach innen vor der eintürigen Wand. Säulenhallen umziehen den inneren Hof an drei Seiten; die Mitte der vierten Seite nimmt das Herrenhaus mit seiner zweisäuligen Fronthalle ein. Die gleiche Planform wiederholt der kleinere Bau (O), der daneben an eigenem Hofe liegt, und auch unter den Nebenräumen zur Seite ist sie zu erkennen. In Kreta dagegen wäre kein Saal und kein Torbau zu eigener Sonderexistenz aus dem Ganzen zu lösen, ohne daß angrenzende Zimmer aufgebrochen und die gemeinsamen Wände durchschnitten würden. In Griechenland liegen die Haupträume in strengster Isolierung. Man weicht einer bequemen, möglichst unmittelbaren Kommunikation von Raum zu Raum absichtlich aus und legt lange, oft umständlich geführte Gänge an, die die einzelnnen Räume erst recht wie eine isolierende Zone umgeben. Die Eingänge sind nicht einfache, zwischen andere Räume eingebettete Passagen, sondern selbständige Torgebäude, Propyläen. Überall herrscht lose, lockere Addition. Selbst das einzige konstruktive Element, das man neben aller dekorativen Kunst aus Kreta übernahm, die Säule, findet zunächst nur in den Palästen der Argolis, und eigentlich nur in Tiryns umfassendere Verwendung, also gerade dort, wo allein auch in die Vorhalle des Hauptsaals, diese halbierend, sich ein Stückchen kretischer Pfeilerstellung eingeschlichen hat. Aber keine kretischen Säle und Lichthöfe sind ihr gefolgt, dem Propylon hat sie nicht die zweigeteilte kretische Front gebracht. Dieses seltsame Verhalten erklärt sich aus der geschiehtlichen Entwicklung. Die geschlossene Hauptgruppe Propylon — Hof — Saalbau stammt in gerader Linie von einer älteren, loseren Gruppenanlage, wie sie z. B.im Zentrum der uralten zweiten Schicht in Troja sich erhalten hat (Abb. 3). Da steht der kleine Torbau, die Urform aller Propyläen, selbständig inmitten der Umfassungsmauer des Hofes, und in seiner Achse schiebt sich gegenüber das Megaron, das Großgemach, mit säulenloser, quadrater Vorhalle in den Hof vor. Die Nebenräume liegen links und rechts als eigene, gesonderte Häuser, alle Gebäude nur betretbar durch ihre tiefe Vorhalle, im übrigen hermethisch nach außen abgeschlossen. Vergleichen wir nun damit die Planbildung in Tiryns, so läßt sich nicht verkennen, daß es das Einzelhaus einer solchen uralten Anlage ist, das auch in den um Jahrhunderte jüngeren vielräumigen Herrenhäusern sein Sonderdasein festzuhalten weiß. Der Kontinuität der baugeschichtlichen Entwicklung auf Kreta steht also eine gleiche in der frühen Baukunst des Festlandes gegenüber. Und es ist klar, daß nur aus ihren Schöpfungen, nicht aber aus kretischer Raumtradition die große Leitform der klassischen griechischen Baukunst hervorgehen konnte: im griechischen Tempelhause hat der uralte Einzelbau, das Megaron, den Triumph seiner Überlegenheit gefeiert. Freilich nicht ganz ohne kretische Zutat: es war doch ein Akt, der in der Baugeschichte Epoche machte, als in die Front des Megaron und der Torhalle die kretische Säule trat. Aber schon ihre Zweizahl richtete sich wieder nach der Türanlage des alten Einzelhauses. — Zur Übereinstimmung der Raumgestalt tritt die der Technik. Nur in weniger entwickelter Form als die altgriechischen Paläste hat schon Troja II auf niederem Steinsockel die dicke, von Holzfachwerk durchzogene Lehmwand, die hölzerne Verschalung an Tür und Anten; nur die Säule fehlt hier noch. Erst die Megara in Tiryns und Mykenä mit ihrer zweisäuligen Front bieten die vollständige Vorstufe zum Aufbau der Heraioncella. Die hölzernen Säulen der Paläste sind vergangen, nur die steinernen Basen sind geblieben. Aber andere Denkmäler haben uns das Bild ihrer eigentümlichen Gestalt bewahrt.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Baukunst des Altertums
Abb. 10. Torturm, Tiryns

Abb. 10. Torturm, Tiryns

Abb. 11. Löwentor, Mykenä

Abb. 11. Löwentor, Mykenä

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