Heinrich von Diessenhoven

Indem wir uns nun zu der berühmtesten Persönlichkeit unter den Historiographen Schwabens wenden, sehen wir uns der bestehenden Überlieferung von der Bedeutung des Mannes als Schriftsteller gegenüber in eine eigentümliche Verlegenheit gesetzt, denn nur die Unkenntnifs seiner Leistungen hat eine Ueberschätzung derselben möglich gemacht; dennoch aber könnte kaum durch ein anderes Werk die Geschichtschreibung der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts passender in diesen Gebieten abgeschlossen werden, als durch das des Constanzer tDanonicus und Doctor decretorum Heinricus dapifer de Diessenhoven*). In einer eigentümlichen Stellung befindet sich dieses Geschichtsbuch zu der Kirchengeschichte des Ptolemäus de Fiadonibus aus Lucca Prediger-Ordens, der ein Schüler des Thomas von Aquino gewesen und angeblich schon 1236 geboren sein soll, aber erst 1327 c. starb. Die libri XXIV ecclesiasticae liistoriae novae waren in Italien verbreitet, eine Handschrift davon ist in die Hände des Heinrich von Diessenhoven gelangt und er hat allerlei Zusätze dazu gemacht, die sich in den Ausgaben des Ptolemäus finden ohne dass die Autorschaft ausdrücklich angegeben wäre**). In dem Codex aber, welchen Heinrich selbst angelegt zu haben scheint, und wo er dann ein 25. Buch beigefügt hat, sind mit großer Genauigkeit alle von ihm gemachten Zusätze zum Ptolemäus als solche bezeichnet. Eigentlich ist es nun aber das 25. Buch, welches Heinrich von Diessenhoven als sein geistiges Eigentum vorzugsweise in Anspruch nimmt, und welches mit der Regierung des Papstes Johann XXII. beginnt. Auch diese zusammenhängenden Aufzeichnungen erheben sich nur in der ersten Hälfte über den Charakter von Notaten; und wenn unser Autor offenbar ein großes Gewicht darauf legte, dass seine Fortsetzung des Ptolemäus in der äufseren Form schon sich durch die Numerirung von Buch und Capitel als solche zu erkennen gebe, so kann man nicht zweifelhaft sein, dass seine im strengeren Sinne redigierte Arbeit mit dem Jahre 1343 schließt, das spätere aber unter einem anderen Gesichtspunkte aufgefasst werden muss. Denn mit diesem Jahre schließt die Capitelbezeichnung (Cap. 15) ab. Sodann folgt eine Beilage, bestehend aus der Abschrift von zwei Briefen an Papst Clemens V. und hierauf eine lange Reihe von Notaten über alle Jahre bis 1361. Während sich auf diese Weise schon äußerlich das 25. Buch als ein zusammenhängend abgefasstes Werk darstellt, zeigt auch der Inhalt desselben einen anderen Charakter, als die späteren Aufzeichnungen, denn das vorletzte Capitel (14) wurde frühestens im Sommer 1345 geschrieben, die später folgenden Notaten tragen aber den Charakter gleichzeitiger Aufschreibung. Und auch in den Schriftzügen tritt nun eine Änderung ein, denn mit den Jahren 1345, 1350 und 1355 setzen drei verschiedene Hände die Niederschrift fort.

*) Ausgaben: Höfler, Chronik des Heinrich Truchsefs von Diessenhoven, 1342—1362, in Beiträge zur Geschichte Böhmens, Abth. I. Quellensammlung, II. Bd. Die Krönung K. Karls IV. nach Johannes dictus Porta de Avonniaco, Prag 1864. Dann Böhmer, fontes IV, 16 — 126, mit Vorrede S. XI. Benutzt wurde er schon früher von Stälin, wirt. Gesch. III, 5 und die einzige Handschrift beschrieben von Docen. Pertz, Archiv II, 26.


**) Es wäre zu wünschen gewesen, dass Huber die betreffenden Stellen aus Ptolemäus nach der Muratorischen Ausgabe aufgenommen hätte, doch hat er dieselben wenigstens in der Vorrede bezeichnet. Zur Ausgabe des Schriftstellers gehörte aber auch der Abdruck im Texte. Hier ist überhaupt ohne eine Vergleichung der Codices des Ptolemäus nicht fortzukommen, was noch aussteht.


Aus diesen Umständen scheint hervorzugehen, dass nur der erste Teil des vorliegenden Manuscripts mit Sicherheit als eine schriftstellerische Arbeit Heinrichs von Diessenhoven zu betrachten, die späteren Anmerkungen aber höchstens als Material anzusehen sind für ein 26. und vielleicht 27. Buch des Ptolemäus Lucensis, zu deren abgeschlossener Redaction es nicht gekommen ist. Erwägt man überdies, wie es gewiss kein Zufall sein dürfte, dass eben um die Zeit, wo der redigierte Teil des 25. Buches schließt, unser Heinrich eine veränderte Lebensstellung erhalten hat, indem er eben um das Jahr 1340 Canonicus in Constanz geworden ist, so mag man die Annahme für gerechtfertigt finden, dass der neue Canonicus eben nur noch Zeit gewann seine Notaten zwei bis drei Jahre fortzusetzen, um dann das Schicksal seiner italienischen Chronik anderen Händen anzuvertrauen. So weisen die inneren und äußeren Verhältnisse unserer Chronik mit großer Wahrscheinlichkeit darauf hin, dass Heinrich von Diessenhoven während der ersten zwei oder drei Jahre seines Constanzer Canonicats eine Fortsetzung des Ptolemäus Lucensis redigierte, diese Arbeit aber fallen ließ, und sich dann damit begnügte, die ihm bekannt gewordenen Ereignisse der Zeit annalistisch und ganz gelegentlich, wahrscheinlich unter seiner Aufsicht von mehreren anderen Personen verzeichnen zu lassen*). Dieses Sachverhältnis muss man sich gegenwärtig halten, nicht nur um das schriftstellerische Verdienst Heinrichs von Diessenhoven auf sein richtiges Maß zu beschränken, sondern auch weil die Genauigkeit der späteren Aufzeichnungen darnach zweifelhafter wird, und unser gelehrte Domherr nicht mehr so auschließlich für die Mitteilungen dessen, was unter seinem Namen geht, verantwortlich gemacht werden kann. Es sind denn auch manchmal sonderbare Behauptungen selbst über Hochzeiten und Verlobungen aufgestellt, wie etwa zum Jahre 1353, wo von einer Verlobung zwischen einer Tochter des Markgrafen Johann Heinrich (?) mit einer Tochter Herzog Albrechts von Österreich die Rede ist; der König Ludwig von Ungarn habe eine Tochter eines Herzogs von Ofen geheiratet und der Bruder des Königs Karl, Johann, wird zum Herzog von Luxemburg erhoben, u. dgl. m. Constanz war übrigens ein Ort, der sehr geeignet war, Nachrichten zu sammeln, weil dort Reisende aus den verschiedensten Gegenden zusammen trafen und Bischöfe wie Stadtbehörden Sorge trugen, Zeitungen**) aus nah und fern zu erhalten. Die älteren redigierten Teile der Chronik unterscheiden sich auch in Betreff der Unmittelbarkeit der gegebenen Berichte sehr wesentlich von den späteren. Die Dinge in Avignon hat Heinrich von Diessenhoven aus der Nähe angesehen und miterlebt, später beruht - mit wenigen Ausnahmen alles auf der Vermittlung dritter Personen. Man sieht überall, dass man es mit unvollendeten Collectaneen zu tun hat, die dann bloß durch Titelüberschriften einigermaßen das Aussehen eines geordneten Ganzen erhalten haben.

*) Seine fortwährende Beteiligung an den Aufzeichnungen erhellt aus der Bemerkung zum Jahre 1352, Böhmer S. 87. Verkehrt scheint es mir aber vorauszusetzen, dass der Verfasser stückweise geschrieben habe und dann im Alter sich seine eigenen Notaten habe kopieren lassen, besonders da ja hervorgehoben wird, der erste Teil bis 1341 habe noch die rundliche Schrift des Zeitalters Ludwigs, während Heinrich auch noch im Jahre 1361, wo die ganze annalistische Tätigkeit endigt, noch kein sehr alter Mann war.

**) Wovon ein Beispiel S. 99 über den Aufstand gegen den Kaiser in Pisa im Jahre 1355 angeführt ist, welcher Bericht des Comthurs Rudolf von Honburg auch noch anderen Quellen zu Grunde liegt.


Über die Lebensumstände Heinrichs von Diessenhoven, wie über die Familie, aus welcher er abstammte, ist von den Herausgebern ziemlich Genaues festgestellt worden. Die Truchsessen von Diessenhoven waren in älterer Zeit Ministerialen der Grafen von Kyburg, dann der von Habsburg, im Thurgau ansässig. Das Geschlecht ist sehr ausgedehnt, und eine ganze Anzahl von Mitgliedern desselben haben die neueren Forscher nachgewiesen*). Die Mutter des Geschichtschreibers — das ist zur Feststellung des Alters desselben wichtig — starb schon am 24. März 1303, während dieser erst am 22. Dezember 1376 starb, und daher seine Chronik in den mittleren Jahren seines Lebens zu schreiben begann. Seine erste Würde erhielt er an dem Stift Beromünster, ein Canonicat, welches ihm ein mütterlicher Verwandter verschaffte. Dann ging er an den päpstlichen Hof nach Avignon und muss zu Johann XXII., dessen Capellan er wurde, in nahe Beziehungen getreten sein, denn seine Fortsetzung des Ptolemäus ist im Beginne eine Glorifikation des Papstes Johann und vielleicht ursprünglich besonders hierauf abgesehen. Man darf deshalb auch nur insofern von Unparteilichkeit reden, als man nicht nachweisen könnte, dass er die Tatsachen absichtlich entstellt hat. Seine Urteile über Clemens VI. und Innocenz VI. sind unbefangen und würdig, wie er denn in der gesicherten Stellung, in welcher er sich seit 1341 zu Constanz befand, zu einigen von den Herausgebern als besonders rühmlich hervorgehobenen Anschauungen über Judenverfolgung und Heidenbekehrung sich emporhob. Über seine Tätigkeit als Constanzer Canonicus in den Angelegenheiten des Bistums während der schweren und mannigfach bedrängten Zeit, weiß man verhältnismäßig wenig. Im Jahre 1344 erscheint er selbst als Kandidat bei der Bischofswahl, der Papst ernannte aber weder ihn noch seinen Gegenkandidaten. Im übrigen scheint er auch im Stift von Beromünster bis an sein Ende die Stelle des Thesaurars beibehalten zu haben.

*) Was man zur Feststellung der persönlichen und Familienverhältnisse bedarf, findet sich in Neugart, Episc. Constant. II, 708 und im Index s. v.; ferner im Arch. für Schweiz. Gesch. 13. 239, Geschichtsfreund V, X, XVII, wozu Huber durch Vermittelung des Herrn Th. von Liebenau Berichtigungen und weitere Mitteilungen in Böhmers Fontes bringt.

Was sein Werk selbst anlangt, so könnte man nicht sagen, dass das trockene Material, welches uns die Chronik bietet, irgend einen Anhaltspunkt zu einer eigentlichen schriftstellerischen Beurteilung des Mannes gäbe. Als Geschichtschreiber erhebt sich Heinrich von Diessenhoven nirgends auf die Höhe eines Matthias von Neuburg oder des Colmarer Chronisten oder auch nur des Minoriten von Winterthur. Kaum dass man aus dem Werke einen Einblick in die allgemeine Lage erhielte und wenn Höfler eine Reihe von Betrachtungen über die Regierung Karls IV. an die Mitteilungen Heinrichs anknüpft, so wird man nicht finden können, dass die Belegstellen aus diesem selbst zu gewinnen wären*). Aber sowenig die schriftstellerischen Leistungen Heinrichs hoch anzuschlagen sein mögen, so dankenswert sind seine Angaben über einzelnes schon deshalb, weil sie in Bezug auf die Chronologie mit so großer regestenartiger Sorgfalt gemacht sind und meist neben der Jahresangabe, was so selten ist, auch die Tagesbestimmung enthalten. Wenn es daher sehr erfreulich ist aus dieser neuen unschätzbaren historischen Quelle, als solcher, mit Tatsachen bekannt zu werden, welche die Regierung und die Tendenzen Karls IV. in ein besseres Licht zu stellen und zu zeigen geeignet sind, dass dieser Kaiser vielfach ungerecht angegriffen worden sein mag, so ist doch keineswegs zu sagen, dass Heinrich von Diessenhoven selbst die Summe dieser Tatsachen zog und sich zu einer Gesammtanschauung der Dinge erhoben hätte, wie man es von seinem späteren historischen Gegner dem Westphalen Dietrich von Niem wol anerkennen muss. Das Buch Heinrichs von Diessenhoven stellt sich demnach als eine höchst wertvolle historische Materialiensammlung dar, deren endgiltige Redaktion er bis zum Jahre 1343 selbst besorgte, deren weitere Sammlung aber wenigstens unter seinen Augen und seiner unmittelbaren Leitung angelegt und bis zum Jahre 1362 fortgesetzt worden war. Ausfuhrlich benutzt wurden übrigens die Aufzeichnungen Heinrichs schon von Felix Fabri am Ende des 15. Jahrhunderts **).

*) Höfler in der Vorrede S. II will sogar auf seine neue Quelle den Beweis für die Politik Karls IV., die Bistümer im Reichsinteresse zu besetzen, das Kaisertum selbständig zu machen u. s. w. stützen. Das sind Dinge, die hier nicht untersucht werden wollen, aber für die richtige Charakterisierung des Geschichtswerkes Heinrichs leicht irreleitend sein könnten.

**) Historia Suevorum bei Goldast, SS. rer. suevicarum, ed. Ulm 1723, p. 51 ff.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter