Anfänge schweizerischer Geschichtsschreibung

In Constanz war während der Stauferzeit die alte rüstige Tätigkeit in der Geschichtschreibung einigermaßen abhanden gekommen. Im Jahre 1293 wurde aber ein Mann von ausgezeichneter Gelehrsamkeit, nach dem Tode des Grafen Rudolf von Habsburg auf den bischöflichen Stuhl erhoben. Das war Heinrich von Klingenberg, der sich unter König Rudolf besonders in den letzten Jahren eines großen politischen Einflusses erfreute. Nachdem er unter König Adolf von dem königlichen Hofe und aus der königlichen Kanzlei durch die Gegenpartei verdrängt worden war, gelang es ihm doch zum Bischof von Constanz erwählt zu werden, in welcher Stellung er mehr Muße besaß, um sich literarischer Beschäftigung hinzugeben; doch ist leider von seinen historischen Büchern nichts wiederaufgefunden worden, und nur ungewissen Spuren gehen wir in dieser Beziehung nach. Die Bedeutung des Mannes als langjähriger Ratgeber und Protonotar König Rudolfs, seine sonst gerühmte umfassende Gelehrsamkeit und sein bewegtes Leben lassen die Annahme berechtigt erscheinen, dass wenn es gelingen würde die Schriften Heinrichs von Klingenberg zu entdecken, unsere Kenntnis jener Zeit nicht unerhebliche Berichtigungen erfahren würde. Zugleich ist uns Heinrich von Klingenberg dadurch von Interesse, dass er fast der einzige in jener Zeit war, der in hervorragender Lebensstellung mit Abfassung von Zeitgeschichten sich beschäftigte.

Das Schloss Klingenberg, wo Heinrich herstammt, befindet sich im Thurgau. Sein Geschlecht ist ein ritterliches, seine Mutter war eine Constanzer Patricierin; Heinrich studierte in Italien, wurde Magister des römischen und Kirchenrechts und wurde außerdem wegen seiner nigromantischen Künste angestaunt*). Hadloub rühmt ihn, weil er Wort und Weise kenne**). Für uns hat die übereinstimmende Meldung das größte Interesse, dass er ein Buch de principibus Habsburgensibus oder wie andere es nennen: historiam Habsburgensium comitum verfasst habe. Sehr verbreitet war es indessen wohl nicht, da Constanzer Chroniken des 15. Jahrhunderts davon keine Nachricht geben***). Erst die Forscher der spätern Jahrhunderte, hauptsächlich Manlius in Constanz, versichern das Buch gekannt und gelesen zu haben****). Bei so bestimmter Angabe des Titels lässt sich nicht zweifeln, dass der Inhalt demselben durchaus entsprochen haben muss und es wird daher nicht gestattet sein diese Schrift des


*) Episcopatus Constantiensis a P. Trudperte Neugart, tom. II, p. 478 ff. handelt ausführlich über Heinrich von Klingenberg. Die Zeugen für das verlorene Buch de principibus Habsburg, oder historia Habsburg, comitum sind in erster Linie Jacob Manlius im Chron. Constantiense; Pistorius, SS. 111,751: cuius chronicam de principibus Habsburgensibus apud me habeo in pretio. Voß, de hist. lat. II, 499 schöpft seine Kenntnis aus Eisengrinius, Catal. test. veritatis, auch angeführt bei Neugart. Vgl. Schweizer Museum 1790, p. 804, wo Schintz über die Poemata Heinrichs handelt.

**) Gervinus, Geschichte des deutschen Volks I, 304.

***) In der Constanzer Chronik, Mone, Quellensammlung I, 312, wird Heinrichs von Klingenberg mit Rücksicht auf seine Bauten gedacht, aber von seinem Geschichtsbuch ist keine Erwähnung gemacht, ebensowenig in der älteren in Wien handschriftlich liegenden Constanzer Chronik.

****) Böhmer, Regesten K. Rudolfs S. 56, hat die Vermutung ausgesprochen, Manlius möchte eine Verwechselung mit dem Buche des Heinrich von Gundelfingen, ebenfalls eines Constanzers, begangen haben, allein das ist doch schwer glaublich, da sich gleich die ersten Worte dieser in Wien handschriftlich liegenden Chronik an den Erzherzog Sigismund von Österreich und Tirol etc. richten, also ein so ungeheuerer Irrtum, da wo Manlius von der Geschichte des 13. Jahrhunderts redet, undenkbar ist; über Gundelfingen, jetzt Cod. Nr. 516, vgl. Chmel, Handschriften I, 565. 560, wo auch die nötigen Verweisungen auf Kollar und Lambec sind.


Bischofs Heinrich von Constanz mit jenen Aufzeichnungen zusammenzustellen, welche andere Forscher der neueren Zeit als die Klingenberger Chronik bezeichneten*), und welche nach der Meinung des neuesten Herausgebers neben den Aufzeichnungen späterer Klingenberge teilweise auch dem Protonotar und Bischof Heinrich zuzuschreiben wäre**). Es ist vielmehr sicher, dass das Zeitbuch, welches von einigen als Klingenberger Chronik bezeichnet worden ist, in seinem ältesten Teile wesentlich Zürcherschen Ursprungs und ein Produkt Zürcherscher Bürgergelehrsamkeit ist; es steht jedenfalls den Forschungen und Arbeiten des Zürcher Ratsherrn Eberhart Müllner näher, welcher in der Mitte des 14. Jahrhunderts eine so bedeutende Rolle spielte, als dem thurgauischen Rittergeschlecht, dessen Namen jetzt damit in Verbindung gebracht worden ist***).

*) Ganz richtig ist dass Tschudi, Stumpf und Guilliman den betreffenden Sammelcodex als eine Arbeit der Klingenberger zu bezeichnen pflegten, ohne dass der Grund hiervon eigentlich einzusehen ist. Jetzt ist die Klingenberger Chronik herausgegeben von Dr. Anton Henne von Sargans, Gotha 1861.

**) So muss man wenigstens glauben, dass die Ansicht Ilennes wäre, nach dem was S. IV der Vorrede gesagt ist, obwohl der Herausgeber ziemlich unbestimmt die Chronik fünf oder sechs Klingenbergern zuschreibt.

***) Vgl. die Analyse des Werkes von G. Waitz, Gotting, gel. Nachrichten 1862, Nr. 5, Febr. 19 und die handschriftlichen Forschungen von G. v. Wyfs, Über eine Züricher Chronik aus dem 15. Jahrhundert, Vortrag in der antiquarischen Gesellschaft in Zürich 1862. Einen Teil der Züricher Chroniken hat Ettmüller schon 1844 herausgegeben. Mitteil, der antiq. Gesellschaft II, 41 ff. Aber schon 1861 hat Prof. Scherer in einer vortrefflichen Abhandlung die Klingenberger Frage — man kann sagen — erledigt: Über das Zeitbuch der Klingenberge, Mitteilungen zur vaterl. Geschichte vom histor. Verein zu St. Gallen I, 65 ff. So sicher nun die Züricher Chroniken aus bloßer Laune zu dem Namen der Klingenberger gekommen sind, so wenig treffend ist jedoch, was gegen die Existenz eines Buches des Bischofs Heinrich S. 75 gesagt ist.


Eine ganz andere hiervon unabhängige Frage wäre die, ob bei den Beziehungen zwischen Constanz und Zürch nicht Fragmente der historia comitum Habsburgensium in die Zürcher Chroniken gekommen sein möchten. Und in der Tat weisen mancherlei Notizen in diesen Zürcherschen Chroniken auf Constanz; so wird von Bruder Berthold die Zeit angegeben, wann er in Constanz zum ersten mal predigte. Gerade über die Herkunft der Habsburger sind diese Zürcher Chroniken, sowol in der Form wie sie im sogenannten Klingenberg, wie auch in derjenigen, die man Eberhart Müllner zuschreibt, so ausführlich, dass man hier Benutzung eines ähnlichen Buches, wie die historia comitum Habsburgensium gewesen sein mag, voraussetzen darf, denn gerade in diesen Partien finden sich wieder eigentümliche Beziehungen zu Constanz, und von König Rudolfs Taten wird ausdrücklich gesagt, dass man ein eigenes Buch davon gemacht hätte*).

Eines stellt sich demnach als gewiss heraus, dass es ein Geschichtswerk des Bischofs Heinrich von Klingenberg gegeben habe, welches eine Geschichte der Grafen von Habsburg bis auf die Zeiten König Rudolfs und die Erzählung von dessen Taten enthielt, und es ist wenigstens nicht unwahrscheinlich, dass sich in den betreffenden Zürcher Chroniken Fragmente daraus erhalten haben. Dass Heinrich von Klingenberg ganz der geeignete Mann war, um ein wertvolles Geschichtsbuch dieser Art zu hinterlassen, unterliegt keinem Zweifel. Er mag dasselbe in den letzten Jahren seines Lebens teils aus seinen Erinnerungen, teils auf Grund von Sagen, wie die über den Namen von Habsburg, niedergeschrieben haben. Vielleicht dankt man ihm auch die Entstehung jener großen Anzahl von Anekdoten, die die Regierung seines königlichen Herrn in den späteren Büchern als eine so ungemein populäre erscheinen lassen und die seit dem 14. Jahrhunderte so üppig wuchernd überall erzählt werden.

In Zürch herrschten damals jedenfalls noch keine Antipathien gegen die Habsburger, wie in späterer Zeit. Am deutlichsten sieht man dies aus Konrad von Mures historischen Poesien, welche uns freilich auch dem größten Teile nach verloren sind. Er war Cantor der Propstei Zürich, schon etwa 1210, wie man glaubt, geboren, und decretorum Doctor. Sein wichtigstes Geschichtswerk bestand aus 1800 Versen de Victoria Rudolfi contra Odoacrum regem Bohemorum, doch ist ein anderes allgemeiner gehaltenes Lobgedicht auf König Rudolf wirklich erhalten, welches wenigstens in seinen letzteren Teilen von den allgemein rednerischen Phrasen zu einigen tatsächlichen, wenn auch allgemein bekannten Ereignissen der Geschichte König Rudolfs tibergeht. Die Commendatitia, wie dies Gedicht genannt wurde, bestehen aus sechs Abschnitten, von denen die meisten akrostichisch behandelt sind. Im dritten Abschnitt wird die Wahl und Krönung Rudolfs beschrieben, das Ganze ist eine Gratulationschrift eben aus Anlass dieser Ereignisse, und ist zwischen 1273 und 1276 (vor dem Tode Gregors X.) gedichtet**).

*) Vgl. in Hennes Ausgabe S. 10 Nr. 13, S. 18 Nr. 16, S. 22 Nr. 18 ff. und vor allem S. 30 die gewiss aus Constanz stammenden Verse. Ferner heißt es S. 31: Er tät soviel stryt und redlicher taten, dass man ain aigen buoch darvon gemacht hat. Dieselbe Stelle kommt denn auch im Königshofen vor, wozu eine Note der Schilterschen Ausgabe S. 119 auf des Bischofs Heinrich von Klingenberg historia comitum Habsburgensium verweist.

**) Abgedruckt in Kopp, Acta Murensia p. 309.


Bald darauf folgte das umfassendere Reimwerk Konrads über die Schlacht von Dürnkrut, welches unmittelbar nach dem Ereignis niedergeschrieben sein muss, da Konrad schon im Jahre 1281, am 29. März starb. Er hat auch eine vita Caroli Magniverfasst*), aber seine eigentliche literarische Bedeutung liegt in seinen philologischen und encyklopädischen Werken, welche für Schule und Unterricht nicht zu unterschätzen waren und neuerlich sehr eingehend gewürdigt worden sind**).

Ob in Zürch schon vor der Mitte des 14. Jahrhunderts eigentliche annalistische und chronikalische Tätigkeit herrschte, darüber lassen uns die handschriftlichen Ueberlieferungen der zahlreichen späteren Chroniken im Ungewissen***). Um so mehr bietet uns dagegen Einsiedeln dar, wo die älteren Klosterannalen bis zum Jahre 1298 fortgehen****).

*) Büdinger hat in sorgfältigster Weise die Quellen dieser Vita festgestellt in seiner Rectorsrede: Von den Anfängen des Schulzwangs, Zürich 1865, S. 29 ff, Note 22.

**) Vgl. P. Gall Morel, Conrad von Mure, Cantor der Propstei Zürich und dessen Schriften, Neues Schweiz. Museum, Zeitschrift für die humanistischen Studien und das Gymnasialwesen, herausgegeb. von Vischer, Schweitzer - Sidler und Kießling (nicht zu verwechseln mit dem N. Schweiz. Mus. von 1790 — 94 und mit dem von Hottinger und Wackernagel 1837 —39) V, 1865, S. 29 — 62. Aber auch Gerbert war neben dem älteren Hottinger, Schola Tigurinorum Carolina 1664, auf Conrad von Mure aufmerksam, wie man aus dem jetzt herausgegebenen Werke Episcopatus Constantiensis II, S. 490 ff. sehen kann.

***) In dem ältesten Teile der von Ettmüller herausgegebenen Jahrbücher findet sich zwar eine Notiz, welche auf einen Autor des letzten Viertels des 13. und der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts hinweist, dieselbe ist jedoch sehr unklar, wenn es a. a. O. heißt: Do ih dis matêri von Zürich an Kaiser Julien coronica las daz was von Gottes geburt 1286 Jar aber do ich dis coronica abschreib zu Rom das war 1339 Jar. Allerdings ein bedenklich langer Zwischenraum!

****) Annales Einsidlenses majores 814—1298, herausgegeben von P. Gall Morel im Geschichtsfreund I, 391 1843, aus einer Handschrift von Tschudis Hand. Der Codex enthält Nekrologien und Dotationes Einsidlenses und anderes und führt den Titel Liber Heremi. Andere Einsidlensia findet man auch in Documenta Archivii Einsidlensis abgedruckt (1670). Benutzt und teilweise wieder abgeschrieben wurden die alten Annalen von Hartmann, Annales Einsidlenses. Die sogenannten Annales minores sind als Annales Einsidlenses a 746—1569 in Mon. SS.HI, 145—149. In Luzern hat man das sehr merkwürdige alte Stadtbuch zu beachten, über welches mehrfach Mitteilung gemacht ist. Am besten in Kopp, Geschichtsbl., I. Bd., 5. Heft.


In diesem Jahre wurde Johannes von Schwanden Abt von Einsiedeln, dessen bewegte Regierung bis zum Jahre 1326 auch zu einem epischen versereichen Erguss Einsiedlischer Geschichtschreibung Anlass gegeben hat. Seit langer Zeit stand Schwiz mit dem Benedictiner - Kloster zu Einsiedeln im Streit um die Gemeinmarken, und die Entscheidungen des Reichs vermochten selbst in den Zeiten kaiserlicher Vollgewalt denselben nicht dauernd zu beheben*). So standen die Schwizer als sie anfingen ihre ewigen Bünde zu schließen noch immer in lebhafter Opposition gegen Einsiedeln, dessen Abt Johannes nicht der Mann war durch Nachgiebigkeit dieselben zu beschwichtigen. Da trat am 1. März 1314 das entscheidende Ereignis ein. Das Gotteshaus wurde in der Nacht gewaltsam überfallen, und mehrere Conventbrüder und der Scholasticus Rudolf von Radegg gefangen und nach Schwiz geführt. Der gelehrte Gefangene, dem es schlimm genug ergangen sein mag, und der wol nicht ganz unparteiisch in der Sache war, verewigte nachher die seinem Kloster angetane Schmach durch ein umfangreiches Gedicht, welches er unter dem Titel capella heremitarum zu Ehren seines Klosters und des Abtes Johannes von Schwanden abfasste. Es ist durchaus panegyrisch und mit vielen scholastischen Phrasen angefüllt; historischen Wert hat der zweite und vierte Teil des Gedichts, wo die Regierung des Abtes Johann erzählt und der erwähnte Überfall der Schwizer weitläufig geschildert wird. Der Dichter Magister Rudolf von Radegg stammte aus einer alten edlen Familie, deren Mitglieder zugleich Bürger von Schaffhausen waren. Rudolf wurde hier wahrscheinlich geboren, kam frühzeitig nach Rheinau, wo er erzogen wurde. Wann er in den Convent von Einsiedeln eintrat ist ungewiss, aber vor 1314 war er bereits der angesehene Rector der Schule daselbst**).

Eine der bedeutendsten historischen Erscheinungen der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts für Deutschland überhaupt trifft man in St. Gallen, wo die uralte geschichtliche Tradition fortlebte und immer zu neuen historischen Versuchen einlud. Bekanntlich haben die Casus monasterii St. Galli vom 9. bis zum 13. Jahrhundert hervorragende Darsteller in Ratpert, Ekkehart IV., Burchard und Conradus de Fabaria gefunden***). Diesen schließt sich im 14. Jahrhundert Christian Kuchemeister würdig und doch eigentümlich an****).

*) Vgl. Kopp, Eidgen. Bünde II, 311—322. Regesten der Benedictiner-Abtei Einsideln von Gall Morel bei Mohr, Schweiz. Reg. I, 15 ff.

**) Die einzige Handschrift ist vom Jahre 1444, herausgegeben und mit allen wünschenswerten Nachrichten versehen von P. Gall Morel im Geschichtsfreund X, 170 ff.

***) W. G. 178. 245. 475. Zu Ekkehard IV. vgl. Deutsche Forschungen VII, 2. Heft und Dümmler in Haupts Zeitschrift, XIV. Bd., 1—73.

****) Neue Casus monasterii Sancti Galli, herausgegeben zuerst von J. Breitinger in der Helvetischen Bibliothek, Stück V und neuerdings mit Vergleichung aller bekannten Handschriften von Prof. J. Hardegger in den Mitteilungen zur vaterl. Gesch. vom hist. Verein in St. Gallen I, 1 ff., 1862.


Bezeichnend ist vor allem, dass sich ein Werk in deutscher Sprache unmittelbar an die alten durch Jahrhunderte fortgeführten lateinischen Aufzeichnungen der Äbte von St. Gallen anschließt, und mit ausdrücklichem Hinweis auf die Vorgänger als Fortsetzung derselben ankündigt. Und nicht nur im Idiom, sondern auch in der Darstellungsweise tritt die auch anderwärts beobachtete Popularisierung der Geschichtserzählung hervor. Denn keineswegs deshalb, weil Kuchemeister ein Laie war, hat er sich der deutschen Sprache bedienen müssen; vielmehr scheint es keinem Zweifel zu unterliegen, dass er des Lateinischen mächtig war, da er das Archiv des Klosters benutzte und von mancherlei Urkunden Kenntnis hatte, die ihm schwerlich in Übersetzung vorlagen. Es ist auf diese Weise doch kein Grund vorhanden, die Meinung abzuweisen, dass er mit voller Absicht von dem Gebrauch der lateinischen Sprache für die Geschichtschreibung abgegangen ist, und so auch in einer Klostergeschichte ein frühzeitiges Beispiel für die erweiterten Bedürfnisse eines Leserkreises, der auch die Laien umfasste, aufstellen wollte. Er hat sein Buch im Jahre 1335 zu schreiben begonnen, da er fand, dass die alten Aufzeichnungen des Klosters schon mehr als hundert Jahre früher abbrachen. Er begann mit dem Abte Konrad von Bußnang der vom Jahre 1226—1239 regierte. Er schloss das Buch mit dem Tode des Abts Hyppolt von Wersteyn 1319—1328, worauf er nur kurz der Gegensätze gedenkt, die bei der nächsten Abtswahl folgten, so dass also seine Geschichte so ziemlich genau den Zeitraum eines vollen Jahrhunderts umfasste, in welcher Zeit neun Äbte regierten.

Keineswegs aber beschränkte Kuchemeister seine Darstellung auf die Ereignisse im Kloster oder in dessen nächster Umgebung. Er nimmt von den eingreifenden Beziehungen St. Gallens zu dem Reiche und den Kaisern und Königen überall Gelegenheit sehr schätzbare Nachrichten von den letzteren zu geben. Er war überhaupt ein erfahrener und gewandter Mann, der über die Dinge der Welt sich keine mönchischen Illusionen machte; in die sehr weltliche Richtung der Äbte von St. Gallen in diesem Jahrhundert hat er einen deutlichen Einblick und strebt nicht das Mindeste daran zu bemänteln. So erzählt er mit größter Unbefangenheit von dem Aufwand, welchen Abt Berchtold von Falkenstein zu machen liebte, und er ist nicht in Unkenntnis über die hohen Forderungen, welche Wilhelm von Montfort für seine Dienste dem Könige Adolf gestellt hatte*). Beispiele dieser Art beweisen aber zugleich, dass Kuche meister die Quellen des Klosters so vollkommen benutzen durfte, wie man dies nur von einem Mitgliede oder von einem Beamten desselben voraussetzen kann. Aus der genauen Kenntnis, welche der Verfasser von den Lehnsverhältnissen St. Gallens und von der Verwaltung des Stiftes zeigt, hat man wirklich auch geschlossen, dass er ein Beamter des Klosters war. Keineswegs aber bekleidete er ein Amt, welches sein Name zu bezeichnen schien. Vielmehr ist sicher gestellt, dass die Kuchemeister eine St. Gallische Bürgerfamilie waren, und dass der Verfasser der Neuen Casus derselben angehörte**). Darüber hinaus lässt sich aus dem Buche nichts Bestimmteres über das Leben und die Schicksale seines Verfassers angeben. Auch sonstige Nachrichten über ihn mangeln uns. Er muss aber, wenn wir eine Stelle über den Abt Heinrich von Ramstein ins Auge fassen, in jungen Jahren sein Buch geschrieben haben, da er diesen, der 1319 gestorben ist, nicht mehr persönlich gekannt zu haben scheint***). Freilich bleibt dann wieder unerklärt, warum das Werk so früh abbricht.

Aus derselben Zeit gibt es noch eine andere in deutscher Sprache geschriebene Chronik, welche im obern Schwaben abgefasst wurde, von deren Verfasser wir aber noch weniger wissen als von Kuchemeister. Sie ist unter dem Namen einer oberrheinischen Chronik herausgegeben****) und gleichfalls wie Kuchemeisters Werk im Jahre 1335 abgefasst. Dann aber hat sie noch Zusätze bis zum Jahre 1349 erhalten. Es ist eine Weltchronik, welche durchaus auf Martins von Troppau bekanntem Lehrbuch beruht. Unser Verfasser hatte eine Handschrift vor sich, in welcher die interpolierte Stelle von der Päpstin Johanna noch nicht enthalten war. Im Übrigen beschränkt sich die weltgeschichtliche Übersicht, welche das Buch gibt, auf die allerdürftigsten Auszüge aus dem bekannten Compendium und nur die Reihe der Kaiser ist mit einigen Nachrichten ausgestattet, welche auf die Verbreitung gewisser Sagen aus dem Karolinger Kreise schließen, und Benutzung der Legenda aurea erkennen lassen.

*) Ebend. S. 16. Also lebt unser Abt allweg mit großer kost. Vgl. über Wilhelm von Montfort, dessen Geschichte überhaupt der wichtigste und reichste Teil des Kuchemeisterschen Werkes ist, besonders S. 46, wozu Böhmer, Reg. K. Adolfs, Nr. 397.

**) Darüber ist die Einleitung des Herausgebers erschöpfend, S. V ff.

***) Die sayten die yn bekannten, daz er elter war denn 90 yar, S. 57 ebendaselbst.

****) Oberrheinische Chronik, älteste bis jetzt bekannte, in deutscher Prosa aus einer gleichzeitigen Handschrift herausgegeben von Franz Karl Grieshaber, Rastatt 1850.


Eine darstellende Form erhält die Chronik erst mit Eine darstellende Form erhält die Chronik erst mit König Rudolf von Habsburg, dessen Geschichte sowie die seiner Nachfolger auch mit Hinzuziehung der entfernteren Ereignisse am Niederrhein und in Österreich erzählt wird. Um eigentlich bedeutenderes Selbständiges zu geben, dazu ist die Aufzeichnung schon äußerlich vermöge ihrer Kürze nicht angetan, doch sind die Nachrichten über Ludwig von Bayern, Friedrich von Österreich und seinen Bruder Leopold — also über die Zeitgenossen des Verfassers — nicht ohne selbständiges Urteil und eigentümliche Charakteristik. Es sind bloß sprachliche und lokalgeschichtliche Gründe, welche in dem Verfasser einen Mann aus dem Aargau oder aus Zürch oder der Umgegend vermuten lassen. Er selbst hat sich in keiner Weise zu erkennen gegeben*). In den Zusätzen ist mancherlei vom Hochmeister des deutschen Ordens erzählt, und werden mit vorwiegendem Interesse die Kriege des Ordens gegen die Letten erwähnt. Deshalb aber auf einen Deutschordensbruder als Verfasser zu schließen, wäre gewiss übereilt.

In diesen Anfängen der schweizerischen Geschichtschreibung treten übrigens die Fragen, an welche sich das Aufkommen der neuen Eidgenossenschaften knüpft, sämtlich nur erst sehr leise hervor. Bedeutenderes in dieser Richtung ist erst seit den letzten Decennien des 14. Jahrhunderts geleistet worden und dieses selbst steht mit der großen chronistischen Tätigkeit des 15. Jahrhunderts dann wieder in so innigem Zusammenhange, dass es davon nicht getrennt werden kann. Schon in Justingers Berner Chronik treten die Gesichtspunkte der späteren Geschichtschreibung viel bestimmter hervor**). Die Constanzer Chroniken***) und die erst vor Kurzem veröffentlichte des Nicolaus Stulmann vom Jahre 1407****), und noch andere dem 15. Jahrhunderte angehörige, werden aber schon vom Anfange des 14. Jahrhunderts ab sehr wichtig und ausführlich, wenn sie auch historisch betrachtet nur geringe Probehältigkeit zeigen.

*) Grieshaber S. XV hebt noch eine Stelle hervor, um wahrscheinlich zu machen, dass der Verfasser an einer dem heiligen Bartholomäus geweihten Kirche des Oberrheins bestallt gewesen sein möchte.

**) Vgl. Studer im Archiv des hist. Vereins von Bern 1861, V, 548 ff. Vgl. Huber, die Waldstädte etc., S. 91. Beachtenswert als ältere Berner Aufzeichnungen sind die Annales Bernenses, M. SS. XVII, 271—274; als Cronica de Berno Böhmer (Huber), fontes IV, 1 — 6.

***) Mone, Quellensammlung I, 309 — 349. Ungleich älter dagegen ist die von Pfeiffer bezeichnete in der Wiener Hof bibl. S. meine Abhandlung über die Sempacher Schlachtlieder, Pfeiffers Germania 1861.

****) 32. Jahresbericht des hist. Kreisvereins in Schwaben und Neuburg 1866, 16 Druckseiten, enthält auch Notizen von 1314—1386.


Eine ältere sehr interessante Erzählung über die Laupener Schlacht, eine Art von Zeitungsblatt, ist neuerdings vollständig gedruckt worden*). Für die Geschichte der habsburgischen Besitzungen und herrschaftlichen Rechte ist in den Amtsrodeln eine unerschöpfliche Quelle zu erblicken, welche zur Zeit Albrechts angelegt sind**).

*) Narratio de conflictu Laupensi 1339 —1340, im Schweiz. Geschichtsforscher II, 37 ff.; jetzt mit trefflicher Vorrede von Huber, fontes IV, p. IX. Vgl. Studer, Quellen des Laupenerkrieges, Arch. des hist.Vereins von Bern, IV. Jahrg., 3. Heft, 17 ff., wo auch noch andere kleine handschriftliche Stücke besprochen sind.

**) Musterhaft von Franz Pfeiffer gesammelt und herausgegeben: Habsburg. Urbar., Stuttg. 1857. Hierbei möge auch noch der Beziehungen der französischen Schweiz gedacht werden, deren Chroniken nicht unbedeutend sind und worüber man sich aus dem Aufsatze von Gaullier, Les chroniques de Savoie dans leurs rapports etc. im Arch. für Schweiz. Gesch., 10. Bd. 1855, Rats erholen kann.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter