Minoriten

Von ähnlichen Antrieben, wie die Dominikaner waren, wie wir gesehen haben, auch die Minoriten zur Geschichtschreibung geleitet*). In Schwaben treffen wir sie zunächst mit annalistischen Aufzeichnungen über die Zeit und Regierung König Rudolfs von Habsburg beschäftigt, von 1273 —1292, wo mit der Angabe der Wahl König Adolfs die kurzen Aufzeichnungen schliefsen**). Sie sind sehr allgemein gehalten, wenn auch die Rücksicht auf die Basler und Constanzer Bischöfe nicht verkennen lässt, dass der Verfasser seine Heimat in einer dieser Diöcesen hatte. Sonst ist doch die Reichsgeschichte der eigentliche Gegenstand des Interesses für den unbekannten Minoritenbruder.

Der unbedeutende Rest dieser Annalen ist aber auch alles, was wir in dieser Beziehung von den Minoriten in Schwaben finden. Einen ganz anderen Charakter trägt das umfangreiche Werk, welches unter dem Namen der Flores temporum viel gebraucht und gelesen worden ist und eine ähnliche Stellung behauptete, wie das Werk des Dominikaners Martin von Troppau. Das Buch ist in zahlreichen Handschriften, doch meistens in Deutschland, verbreitet, und hat im 14. und 15. Jahrhundert überall, gleich dem Werke des Dominikaners Martin dazu gedient, um zeitgenössische Aufzeichnungen daran anzuschließen; und so ist es gekommen, dass auch verschiedene Autornamen mit den Flores temporum in Verbindung gebracht sind, worunter jedoch zwei die erste Stelle behauptet haben. Der eine ist der Name Martins des Minoriten, der andere der Hermanns von Genua vom Orden des heiligen Wilhelm.


*) Außer den oben genannten beiden Werken von Wadding sind für die minoritische Literatur besonders Willot, Athenae orthodoxorum sodalitii Franciscani, qui vel selecta eruditione vel floridiore eloquentia vel editio scriptis dei sponsae Romanae operam navarunt und Franchini, bibliosofia e memorie letterarie degli scrittori francescani conventuali che hanno scritto doppo l'a. 1585. Es sind auch die Drucke der älteren Schriften aufgenommen. Wichtig ist der Aufsatz: Über den Einfluss der Minoriten auf die politische Geschichte Deutschlands, Abele, Magazin für Kirchenrecht I, 87—343.

**) Mon. SS. XVII, 283 aus einem Londoner Cod. sec. XIII. Die schwäbische Heimat des Verfassers ist kaum zu bezweifeln, aus welchem Grunde es aber ein Minorit sein soll, ist mir eben nicht ganz so deutlich, wie Pertz.


Das Werk, welches nun Martin dem Minoriten zugeschrieben wird, ist eine nach den sechs Weltaltern geordnete Chronik, und concurrirt auch in der Form mit dem berühmten Geschichtsbuch Martins von Troppau, indem es ebenfalls die Geschichte der Päpste und Kaiser synchronistisch behandelt. Es soll mit dem Jahre 1290 (richtiger 1288) abgeschlossen haben, bezeichnend, da eben damals zum erstenmale ein Minorit den päpstlichen Stuhl bestiegen hatte, doch ist zu bemerken, dass man keine einzige Handschrift hat, welche diesen angeblich ältesten Teil selbständig bewahrte. In den meisten Handschriften schließt sich unmittelbar an das Werk des Minoriten ohne Unterbrechung und ohne erkennbaren Abschnitt eine Fortsetzung die bis zum Jahre 1345 oder 1349 reicht, und welche einige Gelehrte dem Hermann von Genua zuschreiben*). Durch diese Teilung der Autorschaft wäre zwar die Frage am einfachsten gelöst, aber es sind nicht geringe Bedenken, die sich doch auch gegen diese Annahme erheben. Das stärkste ist dies, dass die Einleitung zu dem Werke in einigen Handschriften auf den Namen Martins des Minoriten und in anderen wörtlich gleichlautend auf denjenigen Hermanns des Wilhelmiten geschrieben ist. Um aber die Verwirrung noch größer zu machen, so fehlt nicht, dass eine dritte Angabe dahin geht, der Fortsetzer Martin des Minoriten wäre ebenfalls ein Minorit Namens Hermann gewesen.

*) Die Ausgabe von Eccard, corp. bist. med. aevi I, p. 1551 ist identisch mit dem Stuttgarter Codex 269, beschrieben Pertz, Archiv I, 403. Darnach hat Eccard combinirt, dass das Werk bis 1290 (1288) Martin dem Minoriten angehöre und die Fortsetzung dem Hermannus Januensis ord. S. Wilhelmi. Dagegen hat Meuschen in der Ausgabe unter dem Titel: Hermanni Gygantis ordinis fratrum minorum flores temporum, Lugd. Bat. 1743, die beiden Namen Martins des Minoriten und Hermanns von Genua ganz cassirt. Die Ausgabe von Gewold und die von Ulm 1486, vgl. Potthast, v. Martinus minorita, kenne ich nicht. In Berlin dagegen, Pertz, Archiv VIII, 835, enthält die Handschrift Ant. Lat. 21 nur den Namen Hermannus Januensis. Dagegen meint Pertz, Arch. VII, 115, was unter dem Namen des Mart. minorita gedruckt sei, das sei nur ein schlechter Auszug aus dem Hermannus Gigas, der, im Jahre 1336 gestorben, seine Chronik bis 1290 führte. Sehr beachtenswert ist aber, was Bruns in Gablers Journal für theol. Lit. 1811, Bd. VI, S. 88 ff. anführt.

Wenden wir uns zu dem Inhalte des Buches selbst, so ist dieses in seinen älteren Teilen, obwol der Verfasser aus seinen Quellen, als welche er Orosius, Isidor und Martin von Troppau anführt, kein Geheimnis macht, doch so sehr von dem letztgenannten dominikanischen Geschichtsbuch abhängig, dass man den Verfasser geradezu als bloßen Abschreiber bezeichnen wollte. Doch lässt sich nicht verkennen, dass Unterscheidungen genug da sind, welche dem bewusst angestrebten Zwecke entsprechen, das geschichtliche Material zu einer Notizensammlung für Predigten im Sinne des Minoritenordens zu verwerten. Denn, sagt der Autor in seiner Vorrede,wenn ich dem Volke in meinen Predigten sage, heute sind es so und so viele Jahre, dass dieser und jener Heilige gestorben ist, so ist es nötig den Faden der geschichtlichen Ereignisse chronologisch genau zu ordnen*).

Äußerungen solcher Art stimmen nun sicherlich mehr zu den Tendenzen der Minoriten, als zu denen der Wilhelmiten, und wir wollen doch auch gleich hier bemerken, dass das Buch in den Franziskanerklöstern am meisten verbreitet war, und in den Handschriften fast allenthalben die Beziehung zu den Minoriten hervortritt. Auch ein anderes Moment läfst sich aus dem Inhalt der Flores temporum entnehmen. Dies nämlich, dass die Abfassung derselben in Schwaben zuerst stattgefunden hat; denn so viele Lokalgeschichten weisen auf dies Land hin, dass man nicht begreifen könnte, wie ein Fernstehender ein so spezielles Interesse für den Grafen Eberhart den Erlauchten von Wirtemberg oder für die Begebenheiten in den gräflichen Häusern von Hohenberg und Tübingen hegen mochte. Dass der Verfasser auch der späteren Jahrzehnte des Werkes einmal in Weiblingen selbst gewesen sein will, als es sich ereignete, dass ein Weib einen Löwen zur Welt gebracht hätte, spricht ebenfalls für die schwäbische Heimat desselben**). Nun ist es allerdings richtig, dass es in Schwaben auch Wilhelmiten- Klöster gegeben hat***), aber würde Hermann von Genua, wenn man ihn schon nach Schwaben versetzen wollte, was sich ebenfalls in keiner Weise sicher stellen ließe, diesen lokalen Ton der Erzählung darbieten?

*) Die Stelle findet sich bei W. G. S. 509 Note 1 wegen ihrer eigentümlichen Geschichtsauffassung bereits angezogen. Es heißt dann noch er wolle die fünf Weltalter kurz und nur das sechste Weltalter eingehend beschreiben: usque ad Nicolaum quartum qui primus de ordine sancti Francisci papa fuit, eorumque tempora et statuta potiora elucidans atque diversa mundi mirabilia interserens omnia regum Romanorum tempora et annos breviter annotavi non ad eorum laudem sed ad sanctorum ejusdem contemporaneorum gloriam et honorem ut inter spinas principum terrenorum coelicae rosae pullulent et lilia paradisiaca beatorum et ob hoc praesens opusculum Flores temporum nuncupavi.

**) Mulier leonem peperit in Wibelingen dum ipse praesens fui dum hoc opus compilavi (Eccard, corp. I, 1632). Vgl. auch wegen Schwabens überhaupt Stalin, wirt. Gesch. III, 1.

***) Aubertus Miraeus, originum monasticarum libri IV. Vgl. über den Wilhelmiten-Orden lib. II, cap. 15 ff. Zahlreich scheinen die Klöster doch nur in Italien und Frankreich gewesen zu sein.


Soviel scheint demnach als sicher angenommen werden zu können, dass schwäbische Minoriten den hervorragendsten Anteil an der Abfassung der Flores temporum hatten. Über die Personen, die daran beteiligt waren, lässt sich aber um so weniger etwas beSoviel scheint demnach als sicher angenommen werden zu können, dass schwäbische Minoriten den hervorragendsten Anteil an der Abfassung der Flores temporum hatten. Über die Personen, die daran beteiligt waren, lässt sich aber um so weniger etwas begründetes sagen, als weder über einen Minoriten Martin noch einen solchen Namens Hermann oder Hermann Gygas im 13. und 14. Jahrhundert sonstige Nachrichten vorhanden sind. Völlig unerklärt bleibt endlich das Verhältnis des Wilhelmiten zu dem minoritischen Werke und wird erst dann besser zu bestimmen sein, wenn die Handschriften, in welchen sein Name ausdrücklich genannt ist, speziell mit dem Texte derjenigen verglichen sein werden, welche seinen Namen nicht haben, sondern den Namen Martins voransetzen, oder den sogenannten Hermann Gygas als einen Minoriten bezeichnen. Diese Arbeit ist bisher nicht gemacht worden, und unterblieb vermutlich, weil die älteren Partien der Chronik fast keinen selbständigen Wert haben, und diejenigen Teile, welche als die Fortsetzung davon erscheinen, und die allerdings gleichzeitige Aufzeichnungen darbieten, wieder besonderer davon verschiedener Untersuchungen bedürfen, wie die von Stälin gewonnenen Stuttgarter Jahrbücher beweisen.

Für das Verhältnis der Flores temporum zu der Chronik Martins von Troppau aber ist ein Beispiel bezeichnend: die Behandlung der Sage von der Päpstin Johanna. Diese ist zwar ganz auf Grundlage der späteren Handschriften des Dominikaners mitgeteilt, aber sie hat auch schon einen Zusatz nicht unerheblicher Art erfahren, der schwerlich dem 13. Jahrhundert angehören kann, und deshalb auf das entschiedenste gegen die Abfassnng dieses Teiles der Flores vor dem Jahre 1312 spricht*).

*) Vgl. Döllinger, Papstfabeln, S. 12: Das Verhältnis zwischen dem Minoriten Martinus und dem Wilhelmiten Hermann von Genua scheint indessen doch dies zu sein, dass der letztere den Minoriten, ohne ihn zu nennen, mit manchen Weglassungen und Zusätzen abgeschrieben hat — aber Tolomeo von Lucca, der sein Geschichtswerk 1312 vollendete, kannte ja die Flores temporum noch nicht, wo bleibt da die erste Vollendung des Buchs vor 1290?

Was die Geschichte des 14. Jahrhunderts betrifft, so ist es sicher, dass die erste Abfassung das Jahr 1346 nicht überschritt, wie man aus dem Schlusse des bei Eccard gedruckten Teiles sieht. Für die Geschichte Ludwigs des Bayern sind manche nicht unbedeutende Mitteilungen darin enthalten, wie denn die Parteinahme für diesen Kaiser gegenüber dem Papste Johann XXII. auch einen weiteren Beleg für die minoritische Urheberschaft abgibt. Im ganzen wird man die Verbreitung des Werkes weniger den inneren Eigenschaften desselben beizumessen haben, als vielmehr dem äufserlichen Umstande der im 14. Jahrhunderte immer heftiger hervortretenden Eifersucht zwischen Dominikanern und Franciskanern. Deutlich genug scheinen die Flores temporum die Nebenbestimmung zu erfüllen, bei dem Unterrichte der Geschichte nicht völlig vom Dominikanerorden abhängig sich zu erweisen und dem Zöglinge der Minoriten auch in diesem Zweige des Wissens ein aus den franciskanischen Klöstern hervorgegangenes Werk darzubieten. War alles Geschichtsstudium überhaupt mehr auf die Handbücherliteratur eingeschränkt worden, so war es eine Sache der Ordensreputation den Dominikanern ein selbständig scheinendes minoritisches Schulbuch an die Seite zu stellen. Hängt es vielleicht damit zusammen, dass der erste Verfasser ebenfalls Martin und zwar Martinus ord. fratrum minorum heißen musste*)? Jedenfalls erwarb sich das Buch ein bis ins 16. Jahrhundert hineinragendes Ansehn. Unter den Übersetzern wird Steinhöwel von Ulm, unter den angeblichen Fortsetzern ein Johannes Fistenport genannt; andere anonyme Fortsetzungen, worunter eine schwäbische von größerem Werte, sind zahlreich**).

*) Ein berühmter Ordensbruder Martin Minorita wird um dieselbe Zeit erwähnt, aber in Provincia Castellae et conventu Burgensi — miraculis clarus. Wadding, Annal. Minorum IV b, S. 153. Das Merkwürdigste aber ist wohl, dass Wadding in den Scriptores ord. minorum einen Historicus Namens Martin gar nicht und einen angeblichen Hermannus Germanus, der Vitas Pontificum geschrieben habe, nur nach Aventins Versicherung anführt. Und so legen wir die Persönlichkeit des Martinus Minorita getrost zu den literarischen Fabeln.

**) Über die Fortsetzungen vgl. besonders Stälin, wirt. Gesch. III, S. 7 und in den Würt. Jahrb. 1852, S. 158 ff., wo auch über Fistenport gehandelt und außerdem eine Continuatio Suevica mitgeteilt wird. Über Steinhöwel vgl. Potthast, s. v. Cronica hie hebt sich an.


Wenn der Minoritenorden durch seine allgemeine Geschichte, die er uns in der Flores temporum bietet, gerade auf keinem hohen geschichtlichen Standpunkt zu stehen scheint, so hat ein einzelnes Mitglied desselben um die Mitte des 14. Jahrhunderts um so mehr durch eine Darstellung der Zeitgeschichte geleistet, welche zu dem besten gehört, was damals überhaupt in Geschichte geschah.

Der Minderbruder Johannes von Winterthur war etwa im Jahre 1300 geboren. Sein Vater war vermutlich ein Bürger von Winterthur, denn im Jahre 1292, so erzählt der Sohn, habe derselbe den Krieg gegen Zürch mitgemacht und einen Reisigen als Gefangenen heimgebracht. Johann erinnert sich als Knabe den Brand des Schlosses Wart, das die österreichischen Herzoge in der Blutrache um König Albrecht zerstörten, von seiner Heimat aus gesehen zu haben. Und noch mehr dergleichen Tatsachen werden von unserem Geschichtschreiber aus der eigenen Erinnerung angeführt, welche zugleich einen Einblick in die Lebensgeschichte desselben gewähren. Im dritten Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts trat er in den Orden der Minderbrüder, und wanderte als solcher viel in Schwaben umher. In verschiedenen Klöstern — lange Zeit in Lindau, zuletzt in Zürich — hatte er seinen Aufenthalt genommen und mochte mancherlei auf seinen Wanderungen von den Weltbegebenheiten erfahren und sich notiert haben. An die Ausarbeitung seiner Chronik ist er jedoch erst in den Vierziger Jahren gegangen und schrieb die Geschichte von den Zeiten Kaiser Friedrichs II. bis auf das Jahr 1339 in einem Zuge fort. Man ist darüber nicht im Zweifel, dass die Handschrift, die wir besitzen, des Verfassers Autograph ist. Im Herbste 1343 holte er dann die Darstellung der Ereignisse seit 1340 nach und vom Jahre 1344 bis 1347 machte er sich noch weitere gelegentliche Aufzeichnungen, indem er wohl auch einmal den Gedanken hatte, die Geschichte vor Kaiser Friedrich selbst nachzuholen. Nachher aber verschwindet jede Spur seiner Tätigkeit, ja auch seiner eigenen Existenz*). Über das Leben des Geschichtschreibers sind wir überhaupt nur durch sein Buch selbst unterrichtet, durch dessen gründliche und scharfsinnige Analyse der letzte treffliche Herausgeber, Georg von Wyfs, die erwähnten Daten festgestellt hat. Äußere Nachrichten gibt es über Johann von Winterthur nicht, wie denn seine Ordensbrüder den Wert des Mannes kaum hinreichend gewürdigt haben, und in späteren Zeiten seiner kaum gedenken.

*) Die ersten, welche auf Johann von Winterthur aufmerksam machten, waren im 16. Jahrhundert Bullinger und Stumpf, dann Goldast. Der Hauptcodex, welcher für die Originalschrift Johanns gehalten wird, kam aus dem Besitze Bullingers in die Stadtbibliothek von Zürich, wo er sich noch befindet. Über eine andere Handschrift vgl. Voß, de hist. latinis Hb. III, p. 799. Vgl. außerdem Potthast S. 399, wo aber zwei Züricher Handschriften, nämlich das Original sec. XIV nicht XV und die Abschrift Hottingers zu verzeichnen waren. Pertz, Arch. VII, 181 ist darnach ebenfalls zu berichtigen. Die erste teilweise Publikation in Leibnitz, Accessiones hist. I, 1 ff., dann Eccard vollständig Corp. hist. tom. I, 1793 ff., später im Thesaurus hist. Helv. 1 ff. Bruchstücke daraus von Schneller, Geschichtsfreund III, 53. Unvergleichlich ist die Ausgabe von G. v. Wyfs im Archiv für schwäb. Gesch. und Sonderabdruck Zürich 1856. In der folgenden Besprechung folgen wir fast ausschließlich der trefflichen Einleitung des Buches. Über das Leben Johanns sind nur von Dr. R. Meyer in den Beiträgen zur vaterl. Gesch. in Basel IV, S. 151 einige Bemerkungen. Vgl. auch Kopp, Geschichtsbl. II, 5, 1856 und eine Berichtigung zu Vitoduran im Anzeiger für Schweizer Gesch. Nr. 3, Sept. 1860.

Es war ein Erzähler von rührender Treue und Behaglichkeit, anspruchslos und ohne jede Leidenschaft. Nur der Orden der Franziskaner wird mit Vorliebe behandelt und Alles hervorgehoben, was zu dessen Ruhme dienen kann. Die Männer, welche sich aus den Reihen der Minderbrüder zu höheren Stellen emporgearbeitethaben, wie etwa Heinrich Knoderer von Isny, werden mit besonderer Auszeichnung genannt. Das Zerwürfnis zwischen dem Kaiser Ludwig und dem Papst bekümmert ihn mehr, als dass es seinen Beifall hätte, obwol er doch Johann XXII. selbstverständlich franciskanische Opposition macht*). Merkwürdig ist, dass er von dem Minoriten Papst Peter von Corvara gar nicht spricht und alles überhaupt mit Stillschweigen übergeht, was die Franciskaner in unkirchliches Licht zu stellen vermöchte.

*) Die Geistesrichtung Johanns ist ganz genau zu vergleichen mit dem Bruder Berthold, den er ja auch so sehr schätzt, vgl. Pfeiffer in der Einleitung zu der Ausgabe der Predigten, auch wegen der Wirkung derselben auf spätere Generationen. Der Freimut gegen Weltgeistliche und selbst gegen den päpstlichen Stuhl liegt natürlich ebenfalls ganz in der franciskanischen Richtung. Johann XXII. fuhrt er gleich folgendermaßen in die Geschichte ein: Qui contra prohibitionem sui predecessoris VII decretalium publicavit. Propter quod tanta pericula, scandala, dissensiones, conmociones in populis tot terrores tot perplexitates saltem in Theutonia ebulliebant, quod nemo dinumerare valeret. Aber das Verhältnis der Franciskaner wird nur ganz schüchtern angedeutet: Quot et quantos tunc labores et sumptus apud sedem apostolicam fratres minores habuerint nemo facile estimabit, Wyfs S. 66 und 67.

In der ganzen Geistesrichtung Johannes von Winterthur spiegelt sich die Bildung des Franciskanerbruders. Johann ist sehr belesen, nicht bloß in der heiligen Schrift, sondern auch in den Büchern der franciskanischen Philosophen; insbesondere hebt er Nicolaus de Lira und Wilhelm von Occam rühmend hervor. Er zitiert nicht selten die Decretalen der Päpste und führt genau an, welche Päpste Bücher derselben erlassen haben. Einzelne Schriften von Aristoteles, die Fabeln Aesops, Horaz und der Liber Etymologiarum von Isidor bilden neben den Predigten des Bruders Berthold, für welche er sehr begeistert zu sein scheint, die Fundamente der wissenschaftlichen Erkenntnis unseres Minderbruders. Dabei ist er aber voll abgeschmackter Teufels- und Wundergeschichten und erzählt derlei aus der ganzen Welt; selbst was in dieser Beziehung bei den Minderbrüdern in Lübeck sich zugetragen hat, stellt er lang und breit dar, und überhaupt ist es merkwürdig, dass die Ordensbrüder hauptsächlich als die Acteurs bei diesen Phantasiestückchen fungieren. Es mag dies daher kommen, dass die Wundergeschichten einen Hauptgegenstand der Klosterunterhaltung bildeten, wie denn dergleichen bei Johann von Winterthur mitten in der Erzählung der wichtigsten Weltereignisse vorkommt, eben eingetragen, wie gerade reisende Brüder die Stoffe zufällig darboten.

Auch bei ernsteren Dingen merkt man indessen den Einfluss fremder Berichterstatter auf unseren Geschichtschreiber. Seine Quellen waren in dieser Beziehung leider nicht immer die lautersten und man hat Ursache, wenn nicht gegen Johann doch gegen seine Gewährsmänner zuweilen misstrauisch zu sein, denn zeigt er sich uns schon in der erwähnten Richtung seines Wunderglaubens als ein Mann, dem es nicht schwer gewesen sein mag allerlei aufzubinden, so ist sein kritischer Scharfsinn auch in anderen Dingen nicht Vertrauen erweckend. So versichert er noch ausdrücklich von einem Soldaten, dass derselbe ein höchst glaubwürdiger Mensch gewesen sei, obwohl er ihm folgende Geschichte erzählte: In dem Kriege zwischen dem Papst Johann einerseits und dem Kaiser und den Longobarden andererseits wäre soviel Blut vergossen worden, dass man den Jacus Potamicus, der 2 Meilen breit und 6 Meilen lang sei, hätte leicht damit anfüllen können. Auch die Ordensbrüder selbst scheinen auf die Leichtgläubigkeit des Geschichtschreibers hin gesündigt zu haben, wie wenn etwa ein Guardian eine höchst sonderbare Verwundungsgeschichte erzählt, die ihm selbst passiert sei und die mehr nach einer starken Renommisterei, als nach Wahrheit aussieht. Sein Glaube an das Wunderbare hat ihn übrigens ein merkwürdiges Wort aussprechen lassen, er verteidigte nämlich die Wiederkunft des Kaisers Friedrich in Deutschland und erwartete mit rührender Sicherheit den Kaiser, der Recht und Gesetz wiederherstellen und die Kirche reformieren werde.

So möchte man kaum dem Manne, der es so wenig streng mit seinen Nachrichten nahm, ein unbedingtes Vertrauen schenken dürfen, wo er in selbständiger Weise Neues, namentlich auf die großen Fragen Bezügliches mitteilt. Wohl aber ist er für die engere Landesgeschichte besonders lehrreich und niemand hat so treu wie er die Kämpfe in dem oberen Schwaben zwischen Adel und Städten, zwischen den Gemeinden und den Herrschaften erzählt, wie er. Und gerade weil er so gerne vom Hörensagen berichtet, ist sein Buch in dem, was es über speziellere Landesgeschichte verschweigt fast noch lehrreicher als in demjenigen, was es mitteilt. So kann man auf Johanns von Winterthur Autorität hin wohl mit Bestimmtheit behaupten, dass die Tellsage zu seiner Zeit noch nicht einmal ihre Keime trieb*), während merkwürdiger Weise die Winkelried sage bereits in seinem Buche ihr starkes Vorbild und ihre ersten Ansätze findet**). Doch hat unser Geschichtschreiber überhaupt eine Vorstellung von der Zukunft der Bündnisse, welche zu seiner Zeit in seiner Heimat zwischen den Gemeinden geschlossen worden, noch gar nicht und am wenigsten hat er eine Ahnung, dass die Herrschaftsbestrebungen an diesen Gemeinden einen dauernden Widerstand finden würden. Der unglückliche Zug des Herzogs Leopold, der von den Schweizern am Morgarten geschlagen worden war, erweckt dem für die Herrschaft eher sympathisierenden Geschichtschreiber entfernt keine vorahnenden Gedanken, wie sie in unseren heutigen Geschichtsbüchern an den Sieg der Schweizer angeknüpft zu werden pflegen. Er behauptet vielmehr, das Bauernvolk habe die schuldigen Dienste dem Herzog Leopold verweigert und dieser sei die Leute zu strafen gekommen. Sein eigener Vater war im Heere des Herzogs Leopold und unser Autor erinnert sich noch als Schulknabe das rückkehrende Heer und den verstört aussehenden Herzog gesehen zu haben. Man merkt wohl, dass das Ereignis großen Eindruck machte, aber durchaus nicht von seiner politischen, sondern lediglich von der militairischen Seite, da man nicht für möglich gehalten, dass ein so tapferer Kriegsmann, wie Leopold, diese Niederlage erfahren könnte***).

Über die Zukunft und Entwickelung der eidgenössischen Bünde, hatte unser Geschichtschreiber auch dreißig Jahre später noch keine höhere Ansicht gewonnen. Trocken schließt er den Bericht damit, dass die Schweizer beschlossen hätten den Tag, an welchem ihnen Gott den Sieg verliehen, jährlich festlich zu begehen. Dann folgt sogleich die für die Habsburger noch unglücklichere Schlacht bei Müldorf und die Gefangenschaft Friedrichs von Österreich. Im Jahre 1347 noch vor der Erzählung von dem Tode Kaiser Ludwigs scheint der Verfasser sein Buch haben beenden zu wollen****), wenigstens findet sich da eine bedeutende Lücke in dem sonst fleißig fortgeschriebenen Manuscript des Verfassers. Der Tod Kaiser Ludwigs begeisterte ihn aber nachher zu einigen schlecht gelungenen Versen, und es folgen noch eine Anzahl Notizen über das Jahr 1348, wo das Buch charakteristisch genug mit einem der schlimmsten Märchen endet, welches ihm wiederum von seinen eigenen Ordensbrüdern und diesmal wohl mit der unzweifelhaften Absicht ihn zu mystifizieren, war beigebracht worden. Der Mann hätte etwas mehr Rücksicht verdient, da sein Erzählertalent in der Tat kein geringes war, und alle Dinge in einer populären, ansprechenden Weise gegeben werden, die durch Sorge um den Stoff und durch Zweifel um Wahrheit oder Unwahrheit freilich nicht beeinträchtigt worden ist.

*) Vgl. Vischer, Die Sage von der Befreiung der Waldstädte, Leipz. 1867, S. 20. Die eigentümlichen Erklärungsversuche, welche von anderen Seiten für das Schweigen Johanns gemacht werden, mögen hier übergangen werden, da sie gar nicht zur Charakteristik dieses Schriftstellers dienen können. *) Vgl. Vischer, Die Sage von der Befreiung der Waldstädte, Leipz. 1867, S. 20. Die eigentümlichen Erklärungsversuche, welche von anderen Seiten für das Schweigen Johanns gemacht werden, mögen hier übergangen werden, da sie gar nicht zur Charakteristik dieses Schriftstellers dienen können.

**) Nam cum utraque pars in campo ante civitatem sito convenisset pars Bernensium stetit contra hostes conglobata in modum corone et conpressa, cuspitibus suis pretensis. Quam dum de adversa parte nemo aggredi presumeret .... quidam cordatus miles .... in eos efferatus fuisset et in eorum lanceas receptus, in frusta discerptus et concisus Iamentabiliter periit etc. Das ist also die erste Winkelriedgeschichte, ebend. S. 27.

***) Vgl. auch Kopp, eidgen. Bünde IV, 2, S. 144, wo die Erzählung Johanns genau verglichen ist.

****) Über das Äußere des Werkes macht v. Wyfs alle wünschenswerten Angaben S. XXII und 252.


Sehr verbreitet mag das Buch nicht gewesen sein; ältere Abschriften fehlen fast gänzlich. Erst im 16. und 17. Jahrhundert hat die sorgfältige schweizerische Geschichtsforschung den wahren Wert des Verfassers richtig zu beurteilen gelernt, obwol man nicht ganz zutreffend in ihm den ersten Geschichtschreiber der Schweiz sehen wollte*). In den Überlieferungen des Minoritenordens hat sich ebenfalls außer dem Namen keinerlei Kunde von Johann von Winterthur erhalten**).

*) Noch weniger zutreffend ist es sicherlich, wenn ihn Potthast in seinen lakonischen Anmerkungen für „Kirchengeschichtliches“ in Anspruch nimmt.

**) Wadding, Scriptores S. 228.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter