2. Sittensprüche.

Bei allen Völkern und zu allen Zeiten ist die gnomische Poesie von namhaften Dichtern gepflegt worden. Solche Dichtungen heißen Sittensprüche, Gnomen, Sinngedichte oder Sprüche schlechthin; wenn sie gereimt sind, auch Reimsprüche, Denksprüche; wenn sie in Prosa abgefaßt sind auch Sprüche in Prosa, Devisen, Maximen, Aphorismen, Apophthegmata. Zwischen dieser gnomischen Poesie und dem volkstümlichen Sprichwort bestehen bei jedem Volke enge Beziehungen.

Unser deutsches Sprichwort speziell ist durch die antike, biblische und mittelalterliche Gnomik ungemein bereichert worden, und umgekehrt haben die mittelalterlichen Gnomiker und Spruchdichter stark aus dem Volkssprichwort geschöpft.


Dasselbe Verhältnis besteht auch zwischen den neueren Dichtern und dem Sprichwort. Einerseits haben die Dichter volkläufige Sprichwörter umgearbeitet und veredelt in ihre Sprüche aufgenommen, andererseits sind manche Sprüche der Dichter zu Sprichwörtern geworden. Daher finden sich z. B. von Logaus Sinngedichten manche in unsern Sprichwörtersammlungen wieder.

Logau (zitiert nach Nationallit. XXVIII) 42: Freude, Mäßigkeit und Ruh' schleußt dem Arzt die Türe zu = Wa. 1, 1167. — Log. 160: Anschlag, der nicht Fortgang hat, ist ein Wagen ohne Rad = Wa. 1 , 97. — Log. 1 1 : Den Geizhals und ein fettes Schwein schaut man im Tod erst nützlich sein — Wa. 1, 1457. — Log. 18: Leichter trüget, was er trüget, wer Geduld zur Bürde leget = Wa. 4, 1281. — Log. 33: Die Freundschaft, die der Wein gemacht, wirkt, wie der Wein, nur eine Nacht = Wa. 1, 1202, 42. — Log. 187: Brüder haben ein Geblüte, aber selten ein Gemüte — Wa. 1, 486. — Log. 251: Wer immer angelt, dem nimmer mangelt = Wa. 1, 87.

Diese Sprüche sind also aus Logau in die deutschen Sprichwörtersammlungen übergegangen, aber der Dichter hat sie, wenigstens zum Teil, sicher aus älteren Sprichwörtern umgebildet, wie auch andere neuere Spruchdichter für ihre gnomische Poesie das deutsche Sprichwort benutzt haben, Goethe z. B. in nicht geringem Maße. Zu den Sprichwörtern gehören auch zahlreiche Reimsprüche von volkstümlicher Haltung, deren Urheber unbekannt ist, wie sie sich in allen Sammlungen zahlreich finden, z. B.:

Vorgetan und nachbedacht hat manchen in groß Leid gebracht; Hoffen und Harren macht manchen zum Narren; Wer nicht kommt zur rechten Zeit, der muß essen, was übrig bleibt.

Auch die selteneren Dreizeiler können noch als Sprichwort gelten:

Wer seinen Kindern gibt das Brot, und leidet nachher selber Not, den schlage mit der Keule tot, ist z. B. noch heute im Volksmund lebendig. Die Volksmäßigkeit dieser Dreizeiler wird auch dadurch bezeugt, daß sie Sebastian Brant für die Überschriften der einzelnen Kapitel des Narrenschiffs gebraucht hat.

Mit den Vierzeilern dagegen verlassen wir das Gebiet des Sprichworts und treten in das des reinen Sittenspruchs über. Sie sind zu lang, um noch als Sprichwörter gebraucht und empfunden zu werden. Immerhin sind sie charakteristische Denkmäler der Volksgnomik. Ich führe daher einige hier an:

Einmal ist nicht immer, zweimal ist schon schlimmer, dreimal ist nicht wohlgetan, viermal fängt die Sünde an (K. 1353). — Wir bauen alle feste und sind doch fremde Gäste, und da wir sollten ewig sein, da bauen wir uns wenig ein (Neander, Latendorf S. 30). — Ich lebe, weiß nicht, wie lange, ich sterbe, weiß nicht wann, ich fahre, weiß nicht wohin, mich wundert, daß ich noch fröhlich bin. (Wa. 2, 1849, wo auch die scharfe Polemik Luthers gegen diesen Reimspruch angeführt ist, der die Sätze umkehrt zu: Jch leb und weiß wohl, wie lange; ich sterb und weiß wohl, wie und wann; ich fahr und weiß gottlob wohin; mich wundert, daß ich noch traurig bin.*)

Solche längeren Reimsprüche gehören also zur volkstümlichen Gnomik, sind aber keine Sprichwörter.

Auch Sprüche in Prosa können nur dann unter die Sprichwörter gerechnet werden, wenn sie nicht zu lang und deswegen unbehaltbar sind. In den Sammlungen stehen sehr viele, die diese Grenze überschreiten. So bei Si. 433: Es ist nicht alles Gottes Wort, was gepredigt wird, es bringt auch mancher seine eigene Ware zu Markt. In der zweiten Hälfte steckt hier eine sprichwörtliche Redensart, aber das Ganze ist kein Sprichwort. — Oder bei Wa. 1, 1372: Was man dem gibt, der treulich dienet, ist alles zu wenig, wiederum, was man dem gibt, der untreu dienet, ist alles zu viel. Ein schöner Gedanke, aber trotz des gegensätzlichen Parallelismus für ein Sprichwort zu lang. Das sind volkstümliche Sittensprüche in Prosa. In manchen Fällen muß das Gefühl entscheiden, ob ein Prosaspruch noch als Sprichwort angesehen werden darf. Zweifelhaft ist es z. B. bei: Ein junges Weib bei altem Mann ist des Tags eine Ehefrau und des Nachts eine Witwe. — So man Frieden haben kann, soll man keines Kriegs begehren. — Keinen gelüstet es, sein Haar zum Raufen herzugeben. — Es gibt der Schlupfwinkel nirgend mehr als im menschlichen Herzen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Deutsche Sprichwörterkunde