3. Sentenzen.

Unter Sentenzen versteht man Aussprüche von Dichtern und Schriftstellern, die eine lehrhafte Tendenz haben und nicht, wie die Sittensprüche, ein eigenes Ganze für sich bilden, sondern aus einem größeren Werke, etwa einem Drama, Epos oder Roman, entnommen sind. Auch solche werden oft genug zu Sprichwörtern, aber nur, wenn die Sentenz sich nicht zu sehr über Anschauungs- und Ausdrucksweise des Volkes erhebt. Wie sollten wohl Aussprüche wie: Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen, oder: Willst da genau erfahren, was sich ziemt, so frage nur bei edlen Frauen an, je im Volksmunde heimisch werden können! Den zweiten Gedanken hat übrigens auch das Volk in sprichwörtlicher Form: Schöne Weiber machen schöne Sitten (K. 8270). Es ist belehrend, dieses Volkswort mit der Goetheschen Sentenz zu vergleichen. Hier Knappheit und scharfe Gegenüberstellung in einem einzigen Satze, der durch Sinnreim und Rythmus gehoben und pointiert ist, dort breitere, wohlperiodisierte Ausführung des Gedankens. Im Volkssprichwort ferner eine mehr äußerliche Auffassung: schöne Weiber gegen edle Frauen und schöne Sitten, also gutes Benehmen in Gesellschaft, gegen was sich ziemt, also die ganze Denk- und Handlungsweise. Die Sentenz ist tiefer und reicher, das Sprichwort hat den Vorzug größerer Kürze, Geschlossenheit und Schlagkraft.

Auch der Zufall spielt hier eine gewisse Rolle. Manche Sentenzen, die den kernigen, gedrungenen Ausdruck des Sprichworts haben und auch keineswegs über den Anschauungskreis des Volkes hinausgehen, die also Sprichwörter hätten werden können, sind es dennoch nicht geworden. So hätten Schillers: Arbeit ist des Bürgers Zierde; Gehorsam ist des Christen Schmuck; Die Unschuld hat im Himmel einen Freund; Die Schlange sticht nicht ungereizt; Ein rechter Schütze hilft sich selbst; Die Uhr schlägt keinem glücklichen; Die Axt im Haus erspart den Zimmermann an sich zu Sprichwörtern werden können, sind es aber nicht geworden. Auch Lessings Aussprüche: Seines Fleißes darf sich jedermann rühmen; Kein Mensch muß müssen, nicht, obwohl diese in verschiedenen Sammlungen als Sprichwörter stehen. Der Grund ist der, daß zur Zeit unserer Klassiker Kraft und Trieb zum Sprichwörterbilden im Volke bereits erlahmt war. Während uns daher die lateinischen Klassiker infolge des eifrigen Studiums, das ihnen das ganze Mittelalter widmete, in ihren Sentenzen viele Sprichwörter zugeführt haben, sind aus unsern deutschen Klassikern nur wenige geflossen. Der von alters her überkommene Schatz an Sprichwörtern genügte zu jener Zeit vollkommen den Bedürfnissen. Für Schillers: Die Axt im Haus usw. gab es z. B. bereits drastische Volkssprichwörter, wie: Wer sin Schoh sich sülwst kann flicken, de brückt se nich na'n Schoster to schicken; Woto holl ik mi'n Hund, wenn ik sülwst bellen sall; Wer selbst mausen kann, der braucht keine Katzen (Dür. 2, 358).


Im Sprachgebrauch werden die Sentenzen und die Sittensprüche oft miteinander vermengt. So von Wackernagel in der oben (S. 6) angezogenen Stelle. Man wird indessen um der Klarheit willen daran festhalten müssen, daß Sittensprüche, Gnomen, Denksprüche kleine, für sich bestehende dichterische Schöpfungen, Sentenzen dagegen Teile einer größeren Dichtung sind, die aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang genommen und dadurch selbständig und selbstwirkend geworden sind.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Deutsche Sprichwörterkunde